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Der Zwang

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Stefan Zweig
Der Zwang

Die Frau schlief noch fest mit runden starken Atemzügen. Ihr Mund, halb aufgetan, schien ein Lächeln beginnen zu wollen oder ein Wort, und weich hob unter der Decke Beruhigung die jung gewölbte Brust. Von den Fenstern dämmerte erste Helligkeit. Aber der winterliche Morgen hatte nur armes Licht. Zwitterschein von Dunkel und Tag wogte unsicher über dem Schlaf der Dinge und hüllte ihre Gestalt.

Ferdinand war leise aufgestanden, er wußte selbst nicht warum. Das geschah ihm jetzt oft, daß er mitten in der Arbeit plötzlich zum Hut griff und rasch aus dem Hause ging, in die Felder hinein, rascher und immer rascher forteilend, bis er sich mattgelaufen und plötzlich irgendwo weitab in fremder Gegend stand, ein Zittern in den Knien und mit springendem Puls an den Schläfen. Oder daß er jählings in belebtem Gespräch aufstarrte, die Worte nicht mehr verstand, an Fragen vorüberhörte und sich gewaltsam zurechtschütteln mußte. Oder daß er sich abends im Auskleiden vergaß und, den abgestreiften Schuh starr in Händen, auf dem Bettrand sitzen blieb, bis ein Rufwort seiner Frau ihn aufschreckte oder plötzlich der Stiefel polternd zu Boden fiel.

Wie er jetzt aus dem leicht durchschwülten Gemach auf den Balkon trat, fröstelte ihn. Unwillkürlich drückte er die Ellbogen wärmer an den Leib. Die tiefe Landschaft unter ihm war noch ganz nebelverhangen. Über dem Zürichsee, den er sonst von seinem hochgelegenen Häuschen wie einen geschliffenen Spiegel sah, in dem jede Himmelswolke weiß eilend widerglitt, wogte ein dicker milchiger Schaum. Alles war feucht, dunkel, glitschig und grau, wo seine Blicke, seine Hände hintasteten, Wasser troff von den Bäumen, Feuchte rieselte von den Balken. Wie ein Mensch, der eben sich der Flut entwunden und von dem in Strähnen das Wasser abtropft, war die aufsteigende Welt. Menschenstimmen kamen durch die Nebelnacht, aber gurgelnd und dumpf wie das Röcheln von Ertrunkenen, manchmal auch Hammerschlag und ferner Kirchturmruf, doch feucht und rostig der sonst so klare Ton. Ein nasses Dunkel stand zwischen ihm und seiner Welt.

Ihn fröstelte. Und doch, er blieb und stand, die Hände tiefer in die Taschen geschmiegt, den ersten freien Ausblick zu erwarten. Wie graues Papier begannen die Nebel sich langsam von unten aufzurollen und unendliche Sehnsucht überkam ihn nach der geliebten Landschaft, die er unten in geordnetem Bestand und nur vom morgendlichen Rauche verborgen wußte und deren klare Linien sein eigenes Wesen sonst ordnend erhellten. Wie oft, aus der Wirrnis seiner selbst an dies Fenster tretend, hatte er am gefriedeten Ausblick hier Beruhigung gefunden; die Häuser drüben am andern Ufer, freundlich eines zum andern gestellt, ein Dampfboot zierlich sicher das blaue Wasser zerteilend, die Möven, heiter das Ufer überschwärmend, der Rauch in silberner Schraube aus rotem Schorne aufsteigend ins Mittagsgeläut, alles das sagte ihm so sichtlich: ‹Friede! Friede!› daß er, gegen sein eigenes Wissen um den Wahnsinn der Welt, diesen schönen Zeichen glaubte und für Stunden der eigenen Heimat über dieser neugewählten vergaß. Vor Monaten war er, ein Flüchtling vor der Zeit und den Menschen, aus Kriegsland in die Schweiz gekommen und spürte, wie sein zerknittertes, zerfurchtes, von Grauen und Entsetzen aufgepflügtes Wesen hier sich glättete und narbte, wie die Landschaft ihn weich in sich aufnahm und die reinen Linien und Farben seine Kunst in die Arbeit riefen. Darum fühlte er immer sich entfremdet und wieder fortgestoßen, wenn dieser Blick ihm verdunkelt war, und so in dieser Morgenstunde, da der Nebel ihm alles hüllte. Unendliches Mitleid kam ihn an mit all denen, die da unten im Dunkel verschlossen waren, mit den Menschen seiner heimatlichen Welt, die auch so in eine Ferne versunken waren, unendliches Mitleid und unendliche Sehnsucht nach Verbundenheit mit ihnen und ihrem Geschick.

Irgendwo aus dem Rauche schlug die Kirchturmglocke viermal und dann, sich selber die Stunde erklärend, helleren Tones achtmal in den Märzmorgen. Und selbst wie auf einer Turmspitze fühlte er sich unsäglich allein, die Welt vor sich und seine Frau hinter sich im Dunkel ihres Schlafs. Sein innerster Wille spannte sich an, diese weiche Wand von Nebel zu zerreißen und irgendwo Botschaft des Wachens, Gewißheit des Lebens zu spüren. Und wie er die Blicke gleichsam aus sich forttrieb, war ihm, als ob dort unten im Grau, wo das Dorf endete und der Weg in kurzatmigen Serpentinen hier herauf zum Hügel stieg, etwas sich langsam regte, Mensch oder Tier. Weich verhüllt, klein kam es heran, eine Freude zuerst, daß noch etwas wach war außer ihm, und doch eine Neugier zugleich, brennend und ungesund. Dort, wo sich die graue Gestalt jetzt hinschob, war ein Kreuzweg, zum Nachbarort führend oder hier empor: einen Augenblick schien das Fremde dort aufatmend zu zögern. Dann klomm es langsam den Saumpfad hinauf.

Unruhe überkam Ferdinand. ‹Wer ist dieser fremde Mensch›, fragte er sich, ‹welcher Zwang treibt ihn aus der Wärme seines dunkeln Gemaches wie mich in den Morgen hinaus? Will er zu mir und was will er von mir?› Jetzt, durch den lockeren Nebel der Nähe erkannte er ihn: es war der Postbote. Jeden Morgen, von den acht Glockenschlägen getrieben, klomm er hier empor, und Ferdinand wußte und sah in sich sein hölzernes Gesicht mit dem roten Seemannsbart, der an den Enden weiß wurde, und den blauen Brillen. Nußbaum hieß er, und er nannte ihn Nußknacker wegen seiner harten Bewegungen und der Würde, mit der er die Tasche, die große, schwarzlederne Tasche, immer rechtsherum warf, ehe er gewichtig seine Briefschaften abgab. Ferdinand mußte lächeln, wie er ihn da stapfen sah, Schritt für Schritt, die Tasche links übergeworfen und bemüht, mit seinen kurzbeinigen Schritten recht würdevoll zu gehen.

Aber plötzlich spürte er seine Knie zittern. Seine Hand, über die Augen gehoben, fiel ab wie lahm. Die Unruhe von heute, von gestern, von all diesen Wochen, die war mit einemmal wieder da. Er meinte zu spüren, daß dieser Mensch auf ihn zukäme, Schritt um Schritt, und zu ihm allein. Ohne selbst um sich zu wissen, klinkte er die Türe auf, schlich an seiner schlafenden Frau vorbei und hastete die Treppen hinab, den Zaunweg hinunter, dem Kommenden entgegen. An der Gartentür stieß er mit ihm zusammen. «Haben Sie … haben Sie …», dreimal mußte er ansetzen. «Haben Sie etwas für mich?»

Der Briefträger schob die feuchten Brillen hoch, ihn anzusehen. «Woll, woll.» Er warf mit einem Ruck die schwarze Tasche rechtsherum, tappte mit den Fingern — wie große Regenwürmer waren sie, feucht und rot vom Nebelfrost — in den Briefen herum. Ferdinand zitterte. Endlich griff er einen heraus. Es war ein großes braunes Kuvert, 'amtlich' stand breit gedruckt darauf und darunter sein Name. «Zu unterschriebe», sagte er, feuchtete den Tintenstift und hielt ihm das Buch hin. Mit einem Riß, unleserlich vor Erregung, schrieb Ferdinand seinen Namen.

Dann griff er nach dem Brief, den die dicke rote Hand ihm bot. Aber seine Finger waren so starr, daß das Blatt ihnen entglitt und zu Boden fiel, in nasse Erde und feuchtes Laub. Und wie er sich bückte, es aufzuheben, drang in seinen Atem ein bitterer Geruch von Fäulnis und Verwesung ein.

Das war es gewesen, nun wußte er es klar, was seit Wochen unterirdisch seine Ruhe verstörte, dieser Brief, den er wider Willen erwartet hatte, der aus einer sinnlosen, formlosen Ferne auf ihn zuging, nach ihm tastete, mit seinen starren maschinengeschriebenen Worten nach seinem warmen Leben, seiner Freiheit griff. Er hatte ihn kommen gefühlt von irgendwoher, wie ein Reiter auf Patrouille zwischen dem grünen Walddickicht ein kaltes Stahlrohr unsichtbar auf sich gerichtet fühlt und das kleine Stück Blei darin, das hinein will in das Dunkel unter seiner Haut. Vergebens war also die Gegenwehr gewesen, die kleinen Schliche, mit denen er nächtelang sein Denken erfüllt: nun hatten sie ihn erreicht. Acht Monate kaum waren es, daß er nackt, vor Kälte und Ekel zitternd, drüben vor einem Militärarzt gestanden, der nach den Muskeln an seinen Armen griff wie ein Pferdehändler, daß er an dieser Erniedrigung die Menschenunwürde der Zeit erkannt und die Sklaverei, in die Europa verfallen. Zwei Monate lang ertrug er es noch, in dieser Stickluft der patriotischen Phrase zu leben, aber allmählich ward ihm der Atem zu eng, und wenn die Menschen um ihn die Lippen auftaten zur Rede, meinte er das Gelbe der Lüge auf ihrer Zunge zu sehen. Was sie sprachen, widerte ihn an. Der Anblick der frierenden Frauen, die mit ihren leeren Kartoffelsäcken im Morgendämmer auf den Stufen des Marktes saßen, preßte ihm die Seele entzwei: mit geballten Fäusten schlich er umher und fühlte, wie er böse und gehässig wurde, sich selbst widerwärtig in seiner ohnmächtigen Wut. Endlich war es ihm dank einer Fürsprache gelungen, mit seiner Frau in die Schweiz hinüberzukommen: als er die Grenze überschritt, sprang ihm plötzlich das Blut in die Wangen. Er mußte sich an den Pfosten festhalten, so taumelte er. Mensch, Leben, Tat, Wille, Kraft fühlte er sich zum erstenmal wieder. Und seine Lungen taten sich auf, Freiheit aus der Luft zu spüren. Vaterland, das hieß ihm jetzt nur mehr Gefängnis und Zwang. Fremde, sie war ihm Weltheimat, Europa die Menschheit.

Aber das dauerte nicht lange, dies frohe leichte Gefühl; dann kam wieder die Angst. Er spürte, daß er rückwärts mit seinem Namen noch irgendwie in diesem blutigen Dickicht verhakt war. Daß etwas, das er nicht wußte, nicht kannte, und das doch um ihn wußte, ihn nicht freigab. Daß ein schlafloses kaltes Auge irgendwo aus dem Unsichtbaren lauernd auf ihn gerichtet war. Er duckte sich tief in sich hinein, las keine Zeitungen, um die Stellungsbefehle nicht zu finden, wechselte die Wohnung, um seine Spuren zu verwischen, ließ sich Briefe nur an seine Frau postlagernd senden, mied die Menschen, um nicht gefragt zu sein. Nie betrat er die Stadt, sandte seine Frau um Leinwand und Farben. Ganz ins Namenlose hinein verkroch sich seine Existenz, in dies kleine Dörfchen am Zürichsee, wo er bei Bauern ein Häuschen gemietet hatte. Aber immer doch wußte er: in irgendeiner Lade lag zwischen Hunderttausenden von Blättern ein Blatt. Und er wußte: eines Tages würden sie, irgendwo, irgendwann diese Lade aufziehen — er hörte, wie man schob, hörte das Hämmern einer Schreibmaschine, die seinen Namen schrieb, und wußte, daß dieser Brief dann wandern und wandern würde, bis er ihn endlich fand.

 

Und nun knisterte er, kalt und körperlich, zwischen seinen Fingern. Ferdinand mühte sich, ruhig zu bleiben. ‹Was ist mir dieses Blatt hier?› sagte er sich. ‹Morgen, übermorgen blühen hier tausend, zehntausend, hunderttausend Blätter an den Sträuchen, und jedes ist mir fremd wie dieses. Was heißt dies 'amtlich'? Daß ich es lesen muß? Ich habe kein Amt unter den Menschen, und keines ist über mir. Was ist dies mein Name da – bin das Ich schon? Wer kann mich zwingen, zu sagen, ich bin es, wer mich zwingen, zu lesen, was darin geschrieben steht? Wenn ich es ungelesen durchreiße, flattern die Fetzen bis an den See, und ich weiß nichts, und nichts weiß die Welt, kein Tropfen fällt rascher vom Baume zu Boden, kein Atemzug geht anders von meiner Lippe! Wie konnte dies mich unruhig machen, dies Blatt, von dem ich nur weiß, wenn ich will? Und ich will nicht. Ich will nichts als meine Freiheit.›

Die Finger spannten sich, das harte Kuvert durchzureißen und in Fetzen zu zerpflücken. Aber seltsam: die Muskeln gehorchten ihm nicht. Irgend etwas war wider seinen eigenen Willen in seinen eigenen Händen, denn sie gehorchten nicht. Und indes er mit seiner ganzen Seele wollte, daß sie die Hülle zerfetzten, taten sie ganz behutsam das Kuvert auf, falteten zitternd das weiße Blatt auseinander. Und darauf stand, was er schon wußte: ‹Zahl 34.729 F. Auf Veranlassung des Bezirkskommandos zu M. werden Euer Hochwohlgeboren hiemit diensthöflichst ersucht, sich zur erneuten Untersuchung über Ihre militärische Tauglichkeit spätestens 22. März zu M. im Bezirkskommando, Zimmer Nr. 8, zu gestellen. Die Militärpapiere folgt Ihnen das Konsulat Zürich aus, zu dem Sie sich dieszwecks zu begeben haben.›

Als er wieder in das Zimmer trat, eine Stunde später, kam seine Frau ihm lächelnd entgegen, in der Hand ein loses Bündel Frühlingsblumen. Ihr Antlitz strahlte Sorglosigkeit. «Sieh», sagte sie, «was ich gefunden habe! Dort auf der Wiese hinter dem Hause blühen sie schon, und im Schatten zwischen den Bäumen liegt noch der Schnee.» Ihr gefällig zu sein, nahm er die Blumen, beugte sich in sie hinein, um nicht die unbesorgten Augen der Geliebten sehen zu müssen, und flüchtete eilig hinauf in den kleinen Dachraum, den er sich als Atelier eingerichtet hatte.

Aber es ging nicht mit der Arbeit. Kaum daß er seine leere Leinwand vor sich nahm, standen plötzlich darauf maschinengehämmert die Worte des Briefes. Die Farben auf der Palette schienen ihm Schlamm und Blut. Er mußte an Eiter und Wunden denken. Sein Selbstportrait, im Halbschatten stehend, zeigte ihm einen Militärkragen unter dem Kinn. «Wahnsinn! Wahnsinn!» sagte er ganz laut und stampfte mit dem Fuße, um diese irren Bilder zu verscheuchen. Aber die Hände zitterten, und unter den Knien schwankte der Boden. Er mußte sich niederlegen. Und saß dann auf dem kleinen Schemel, in sich eingestürzt, bis seine Frau ihn zu Mittag rief.

Jeder Bissen würgte ihn. Hoch oben im Hals saß etwas Bitteres, das mußte immer erst hinab, und immer stieg es wieder empor. Gebeugt und stumm, wie er saß, merkte er, daß seine Frau ihn beobachtend ansah. Plötzlich fühlte er ihre Hand leise auf der seinen. «Was ist dir, Ferdinand?» Er antwortete nicht. «Hast du schlechte Nachrichten bekommen?» Er nickte nur und würgte. «Vom Militär?» Er nickte wieder. Sie schwieg. Er schwieg auch. Dick und drückend stand der Gedanke mit einemmal im Zimmer zwischen den Dingen und stieß sie alle zur Seite. Breit und klebrig saß er auf den angebrochenen Speisen. Er kroch, eine feuchte Schnecke, über ihren Nacken und machte sie schauern. Sie wagten einander nicht anzuschauen und saßen nur gebückt und stumm, die Last, die unerträgliche, dieses Gedankens über sich.

Etwas war zerbrochen in ihrer Stimme, als sie endlich fragte: «Haben sie dich auf das Konsulat bestellt?» — «Ja.» — «Und wirst du gehen?» Er zitterte. «Ich weiß nicht, aber ich muß doch.» — «Warum mußt du? Sie können dir in der Schweiz nicht befehlen. Hier bist du frei.» Bös stieß er aus den gepreßten Zähnen: «Frei! Wer ist denn noch heute frei?» — «Jeder, der frei sein will. Und du am meisten. Was ist das? —» Sie riß das Papier, das er vor sich gelegt hatte, verächtlich weg — «Was hat das für Kraft über dich, dieser Fetzen, beschmiert von einem armseligen Kanzleischreiber, über dich, den Lebendigen, den Freien? Was kann dir das anhaben?» — «Das Blatt nicht, aber der es sendet.» — «Wer sendet das? Welcher Mensch? Eine Maschine, die große Menschenmordmaschine. Aber dich kann sie nicht fassen.» — «Sie hat Millionen gefaßt, warum gerade nicht mich?» — «Weil du nicht willst.» — «Auch sie haben nicht gewollt.» — «Aber sie waren nicht frei. Sie standen zwischen den Gewehren, und darum gingen sie. Aber keiner freiwillig. Keiner wäre aus der Schweiz in diese Hölle zurückgegangen.»

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