Xhamile

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Xhamile

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Xhamile

In ihrer Situation war es gewiss von Vorteil, wenn sie wusste, wo die künftigen Eltern ihres Kindes wohnten und arbeiteten. Xhamile hatte die Adressen aus einem Impuls heraus fotografiert, ohne besondere Absicht. An diesem Tag hatte sie im Rahmen einer Vorsorgeuntersuchung viel zu lange im Sprechzimmer der Ärztin warten müssen. Mehr aus Langweile denn aus wirklichem Interesse hatte sie, als sich die Zeit immer mehr wie zäher Schleim hinzog, deren Handtasche unter dem Schreibtisch geschnappt und darin gekramt. So hatte sie nicht nur die Privatadresse der Ärztin fotografiert, sondern auch die Adresse ihres Mannes. Wofür sie diese brauchen könnte, war Xhamile nicht klar.

Dass sie beides schon bald skrupellos nutzen würde, ahnte sie an diesem Tag nicht.

Als Xhamile nach der Untersuchung dann endlich auf die Straße trat, kam der Schwindel, den sie in der Praxis noch unter Kontrolle gehabt hatte. Sie ging leicht in die Knie, stützte ihre Arme auf die Oberschenkel und atmete tief durch. Dann lief sie zum Checkpoint Charlie, um dort in die U 6 einzusteigen. Der ehemalige Grenzübergang zog wie immer Horden fröhlich schwatzender Berlinbesucher an und sie kämpfte sich mühsam die schmale Treppe hinunter zum Bahnsteig.

„Sorry, do you know which way the Brandenburgtor is?“, fragte ein Mittvierziger mit der naiven Freundlichkeit eines Menschen, der schon immer seinen Platz im Leben hatte. Er rollte das R auf die typisch unerträgliche Weise eines Amerikaners.

Eine neue Welle der Übelkeit brandete an. Rasch wandte sich Xhamile zur Seite. Der Mann zog erstaunt die Augenbrauen nach oben, dann, in der sicheren Annahme, dass man ihn missverstanden hatte, nahm er einen erneuten Anlauf.

„Sorry, Brandenburgtor?“, brummte sein tiefer Bariton.

Xhamile starrte ihn an, dann übergab sie sich in einem hohen Schwall auf seine Füße. Das Erbrochene spritzte und sie sprang schnell zur Seite. Mit dem Jackenärmel wischte sie sich den Mund ab und lief ans andere Ende des Bahnsteigs, der einfahrenden U-Bahn entgegen. In der Bahn fand sie einen Eckplatz und sank kraftlos in sich zusammen, unsichtbar, den Kopf nach vorne geneigt. Sie roch ihren sauren Atem, spürte Druck auf der Blase. Seit sie schwanger war, musste sie ständig aufs Klo.

Xhamile zog ihr Handy aus der Jacke, steckte es jedoch gleich wieder weg, da sie mit einer neuerlich anbrandenden Welle von Übelkeit fertig werden musste. Sie schluckte schwer und konzentrierte ihren Blick auf eine Werbung für Busfernreisen. Göteborg. Toulouse. Florenz. Am Mehringdamm stieg sie in die U 7, fuhr bis zum Hermannplatz und setzte sich dann in die U 8.

Die Bahn war voll. Klaustrophobisch voll.

Eine Frau presste sich vor ihrem Sitzplatz und die Einkaufstüten schrammten immer wieder Xhamiles Knie. An der Frau hing ein Geruch wie der von feuchtem Dampf aus einer Wäscherei gemischt mit dem süßlichen Dunst aus den Schornsteinen der Schokoladenfabrik in Tempelhof. Xhamile stand auf, stieß die Frau mit einer sie selbst überraschenden Heftigkeit zur Seite, drängte sich hastig zwischen viel zu vielen Menschenleibern, die ihr als wabernde, träge Masse den Weg in Freie zu versperren drohten, zur Waggontür. Aus den Lautsprechern ertönte bereits das Türen schließen selbsttätig. Vorsicht bei der Abfahrt! Im letzten Moment sprang sie auf den Bahnsteig, folgte einer Gruppe junger Türken zur Treppe und wurde oben in die Schönleinstraße gespült. Am U-Bahnausgang standen zwei Kleindealer. Sie schob sich an ihnen vorbei, tauchte in die Menge, ließ sich treiben.

Da erst fiel ihr ein, dass sie ohne Fahrschein unterwegs gewesen war, und wieder machte ein Gefühl der Enge ihrem Magen zu schaffen. Entschlossen lief sie den Kottbusser Damm entlang Richtung Maybachufer. Die Bewegung und die frische Luft taten ihr gut. Die Übelkeit löste sich langsam auf. Sie schlenderte an Mäc-Geiz und Ein-Euro-Geschäften, Backparadiesen und Kebabgrills vorbei, überquerte die Ampel vor der Brücke und gelangte schließlich zum Maybachufer. Es war Dienstag, Markttag, kurz vor sechs. Um diese Uhrzeit wurden Obst und Gemüse immer zu Schleuderpreisen weggegeben.

Menschen mit gefüllten Plastiktüten drängten sich an der Ampel, Transporter rangierten in der Einfahrt zum Marktufer und verpesteten die Luft mit ihren Abgasen, Türme aus jetzt leeren Obst- und Gemüsekisten stapelten sich hinter den Ständen. Xhamile hatte noch fünf Euro in der Tasche. Die würden genügen. Sie verlangsamte ihr Tempo, ließ sich mit der Menge treiben. An einem Stand wurde ihr eine Kiste Avocados für zwei Euro angeboten, zwei Kilo Tomaten für eins fünfzig, kleine gekrümmte Gurken, Paprika, Kakis, Papayas. Vor ihr verstopfte eine Frau mit ihrem Fahrrad den Weg, das sie durch die Menge schob. „Als ob es nicht schon voll genug wäre. Scheiß Fahrräder!“, blaffte eine andere. Jemand stieß mit seinem Buggy schmerzhaft an Xhamiles Knöchel. „Pass doch auf, du Kuh!“, fauchte Xhamile böse.

Die Frau mit dem Fahrrad blockierte ihr den Weg, als sie an einem Biostand Äpfel, Kartoffeln und drei Bund Petersilie kaufte. Xhamile betrachtete die Auslage und wunderte sich, warum jemand für dieses verschrumpelte Zeug so viel Geld ausgab. Typisch Ökotussi. Sie wartete jedoch geduldig, bis die Radfahrerin bezahlt hatte und den Weg frei gab. Xhamile schob sich langsam durch das Gedränge. Am nächsten Stand kaufte die Frau mit dem Rad eingelegte Oliven und diverse Pasten, Kapern, Brot und dann eine ganze Kiste Auberginen. Xhamile beobachtete, wie die Frau ihre Börse in die Jackentasche schob, ihren Einkauf in die Satteltasche packte, dann das Fahrrad an der Hüfte balancierte, um die Auberginenkiste auf den Gepäckträger zu klemmen. Als das Rad zu kippen drohte, griff Xhamile entschlossen zu, packte das Rad mit der Linken und mit der Rechten den Spanner des Gepäckträgers. Erstaunt sah die Frau nach oben und lächelte dankbar.

„Oh Mensch, vielen Dank für Ihre Hilfe! Ich hab wie immer viel zu viel gekauft. So viele Auberginen.“ Xhamile nickte, ging schon weiter und winkte ihr im Weggehen zu.

Den schmalen Pfad zwischen dem Blumenstand und dem Wagen eines Geflügelhändlers nutzend, verließ sie die schmale Gasse der Verkaufsstände und trat zwischen zwei Türme aus Gemüsekisten, die mit Folie umwickelt waren. Aus dem Jackenärmel zog sie die Geldbörse der Radfahrerin, nahm das Bargeld, immerhin sechzig Euro plus Kleingeld, steckte es in die Hosentasche. Dann ließ sie die Börse achtlos zwischen vergammelte Bananen und Pfirsiche fallen und lief auf die andere Straßenseite.

Von dem Geld kaufte sie Hühnerlebern, Tomaten, Apfelsinen, Käse und Paprika. Dann gönnte sie sich ein Gözleme, dessen warmer Geruch ihre aufgewühlten Sinne beruhigte, und eine Flasche frisch gepressten Orangensaft am Stand von jungen Geflüchteten. Schließlich schleppte sie zwei prall gefüllte Plastiktüten zur U-Bahn und fuhr nach Hause.

Welche Farbe sehen wir am häufigsten? Blau oder Grün? Oder Schwarz? Wie die Nacht? Nein, Schwarz zählt nicht. Wälder, Wiesen, Büsche, Schimmel über dem Käse. Ekelgrün, Laubgrün, Smaragdgrün, Giftgrün, wie die leuchtende Urwaldkröte, die mit ihrem Speichel ihre Feinde bespuckt, woran die dann elend eingehen. Die Fressfeinde.

Blau ist das Meer, der Himmel, das Schwimmbad. Azur. Aquamarin. Kobaltblau.Ich tendiere zu Grün. Immerhin wohnen wir nicht am Meer, noch nicht mal an einem See. Der künstlich angelegte Tümpel in der Hasenheide oder der Landwehrkanal zählen nicht. Außerdem ist das Wasser dort nie blau. Noch nicht mal bläulich. Eher grün, schmutziggrau, bräunlich, manchmal lila und orange bei Sonnenaufgang. Meist aber ist das Kanalwasser schlackgrau. Und nicht nur das Wasser, auch der Himmel. Ja, selbst das Meer. Bleierne Häuserfronten. Nebel auf dem See. Graue T-Shirts. Nebelschwaden über den Wiesen an einem Herbstmorgen. Regen, Nieselregen, Dauerregen, auch wenn es den in Berlin eigentlich nicht gibt. Dunkelgraue Gewitterwolken, die sich über silbergraue Schlieren schieben, jagendes Granitgrau auf zartgrauem Grund. Fahle Spiegelbilder in Pfützen, die die Welt verdoppeln.

Grau also. Ein Glück. Ich mag Grau.

Ich lag auf einer Wiese auf dem Tempelhofer Feld, dem ehemaligen Flughafen, der schon seit Jahren für die Berliner geöffnet war, ohne dass dort etwas gebaut oder verändert worden war. Ein Geschenk grenzenloser Weite im Herzen Berlins. Über mir eine wuchtige Buche, deren Blätter sich im Wind wiegten, dazwischen ein heller, silbergrauer Himmel. Die Kinder kreischten vergnügt aus einem unweit gelegenen Gebüsch.

„Mensch, wieso gehst du denn nicht an dein Handy? Ich hab euch eine Ewigkeit gesucht!“ Martina ließ sich auf das Gras fallen und schubste mich unsanft.

„Hrumpf“, brummte ich.

„Hast es mal wieder leise gestellt!“

Da ging sie hin, meine Meditation in Blassgrau.

An diesem Tag hatte ich frei, die Kinder aus dem Kinderladen abgeholt und war mit ihnen aufs Tempelhofer Feld gegangen. Das Leben von Großstadtkindern ist ja ein bisschen erbärmlich, eingepfercht zwischen Häuserfronten, Feinstaub und vollgekackten Grünflächen. Die Weite des Himmels, das Summen der Hummeln in den Büschen und der Geruch von trockenem Gras wenigstens sollten ihnen wenigstens eine Ahnung davon verschaffen, dass die Welt mehr als nur Stadt sein kann.

„Du, Kerstin?“ Martinas Stimme war wieder sanft geworden. „Ich würde gleich den Bürodienst übernehmen. Da ist jemand krank geworden. Könntest du die Kinder….?“ Eine Wolke dunkleren Graus schob sich vor die bereits verdeckte Sonne dieses Septembertages. Könnte ist ein Konjunktiv, lässt also zumindest sprachlich die Wahl. Könnte, könnte nicht.

 

„Also eigentlich wollte ich später noch ins Kino.“ Eigentlich hingegen ist ein dämliches Wort, damit wird mein Nachgeben sprachlich schon vorweggenommen. „Oh je“, sagte Martina.

Schweigen.

Die dunkle Wolke gab den spatzengrauen Himmel wieder frei. Eine Handvoll Krähen flogen kreischend über uns hinweg. Ich schnipste vorsichtig eine kitzelnde Ameise von meiner Hand.

„Der Film ist sowieso nicht gut besprochen worden“, seufzte ich ergeben. Bürodienst von Martina, das war die Sprechstunde im mediBüro, das für Menschen ohne Papiere und ohne Krankenversicherung medizinische Hilfe organisierte. Martina hatte dort während ihres Mutterschutzes angefangen. „Ich brauche irgendwas neben den Kindern, was Sinnvolles“, hatte sie mir damals erklärt. Als ob zwei kleine Kinder ohne Vater nicht schon sinnhaft genug wären. Aber es ging um eine gute Sache. Menschen mit Zahn- und Bauchschmerzen, Augenentzündung oder einem Bandscheibenvorfall waren wichtiger als Kino. Ich tröstete mich damit, dass, wenn ich Martina die Kinder abnahm und ihr damit den Dienst ermöglichte, ich auch etwas Gutes tat.

(Die ältere Nele – Martinas Erstgeborene – wird das später einmal positive Karmapunkte sammeln nennen.)

Es gibt Menschen, die davon überzeugt sind, dass sie ihr Leben in der Hand haben, dass sie all ihre Entscheidungen selbst treffen. Das sind erfolgreiche Kapitalisten, Menschen, die mit einem goldenen Löffel im Mund geboren wurden oder tatkräftige Glücksritterinnen. Es gibt auch diejenigen, die sich eher ausgeliefert fühlen, Pechvögel, Benachteiligte, solche, die den Blechlöffelgeschmack im Mund nie los werden. Die sind dann melancholisch, tapfer oder wütend.

Ich war weder Gefangene noch Macherin meines Lebens. Es passierte sozusagen und ich war mittendrin. Aber entschieden für das eine oder das andere hatte ich mich selten ganz bewusst. Meistens wurde ich entschieden. Nur ganz manchmal habe ich mich nicht wie ein braves Schaf gefügt, sondern beherzt zugegriffen!

Zum Beispiel als ich vor gut zwei Jahren Baby Bela zum ersten Mal im Arm hielt. Da hätte ich beschließen können, dass ich wieder alleine leben wollte, dass ein zweites Kind zu viel ist, dass das nicht mein Leben ist, sondern ein geliehenes, verstolpertes, dass dieses zerknautschte Neugeborenengesicht mit dem Storchenbiss zwischen den Augenbrauen und dem verformten Köpfchen nichts oder nur wenig mit mir zu tun hatte. Aber diese Frage hatte sich gar nicht gestellt. Es war völlig klar, dass dieses kleine Wesen in mein Leben gehörte genauso wie mein Atem, meine Matratze und der Dreck unter meinen Fingernägeln.

So hatte sich mein Leben, das eher widerwillig und zaghaft einige Monate zuvor mit dem Einzug meiner Freundin Martina und ihrer Tochter Nele begonnen hatte, um diesen kleinen Kerl erweitert. Martina hatte damals vorzeitige Wehen und eine Liegekur verordnet bekommen und war kurzerhand mitsamt der kleinen Nele zu mir gezogen. Wahrscheinlich hat mich das damals aus einer langen Phase der Wehmut und Depression gerettet. Martinas unkomplizierte Menschenklugheit und gerade Standfestigkeit einerseits und die unverstellte Fröhlichkeit einer Zweijährigen halfen mir, einen Weg aus einer elenden Haltlosigkeit zu finden und mich neu zu erden.

So also war ich zu Mutter und Kind gekommen. Und dann eben zu zwei Kindern.

Wenn das auch nicht immer einfach war, so war es doch genau richtig. Seitdem sorgten wir gemeinsam für die Kinder. Mehr oder weniger. Will heißen, ich eher mehr und Martina, na, weniger kann ich nicht sagen, da zwei kleine Kinder sowieso Hochleistungssport sind. Neutral ließe es sich wie folgt formulieren: Martina wusste sich zu organisieren, was mit einschloss, dass sie mich organisierte. Meinen Dienstplan zum Beispiel, ich arbeitete in einem ambulanten Pflegedienst und hatte immer unterschiedliche Arbeitszeiten, kannte sie besser als ich.

Martina drückte also dankbar meinen Arm, lief dann zu den Kindern und spielte eine Runde Verstecken mit ihnen. Später schlenderten wir gemeinsam über die Wiesen zurück zur Hasenheide, die Lilienthalstraße hinunter, wo Martina in die Bergmannstraße abbog, um von dort zum Mehringdamm zu gelangen.

Zu Hause erfolgte der übliche Großkampfeinsatz: Abendessen kochen, Kindergesichter, -hände und -popos waschen, Spielzeug in Kisten verstauen, Streit schlichten, vorlesen, die chaotische Wohnung aufräumen. Als das alles geschafft war, kam Martina nach Hause. Sie roch nach Bier und Rauch.

„Wir waren nach dem Plenum noch in der Kneipe. Ist eine Raucherkneipe, eklig.“

Sie holte sich eine Tasse, goss sich vom Tee ein und setzte sich zu mir. Ich legte mein Buch beiseite, Erzählungen von Alice Munro, denn für lange Romane fehlte mir seit Belas Geburt die Muße. Martina seufzte und schlürfte von dem heißen Tee.

„Heute war eine junge Frau bei uns, bestimmt noch keine dreißig, die hat Brustkrebs, die Biopsie und die Zellenbestimmung, ich weiß immer nicht, wie das heißt …“

„Histologie…“

„…genau, die Histologie haben wir übernommen. Sieht schlecht aus. Aggressiver Tumor. Sie braucht auf jeden Fall nach der OP noch eine Chemo und Bestrahlung.“

„Mist.“

„Ja, großer Mist. Die OP könnten wir ja noch bezahlen, aber die Chemo ist zu teuer. Weißt du, was das kostet? Vierzigtausend Euro! Ohne Operation.“ Martina trank den Tee in großen Schlucken. „Wir haben nicht genug Geld. Wir können das nicht übernehmen.“

Das mediBüro finanzierte sich ausschließlich über Spenden. In den letzten zwei Jahren, nachdem Deutschland 2015 so viele Geflüchtete aufgenommen hatte und die anfänglich begeisterte Solidarität proportional mit dem Anwachsen der AfD wieder abgenommen hatte, flossen die Spenden auch für das mediBüro wieder spärlicher.

„Und die Frau, sie hat kein Geld?“

Martina schüttelte den Kopf.

„Hey, die war trotz allem so optimistisch, lebensfroh. So…lebendig. Sie hat keine Chance, das Geld zusammenzukriegen. Sie geht für vier Euro die Stunde putzen.“

„Kann sie nicht zurück, dahin, wo sie hergekommen ist? Vielleicht gibt es dort eine Krankenversicherung.“

„Sie kann nicht zurück. Sie will nicht, hat sie gesagt.“

„Obwohl sie Krebs hat?“

„Oder gerade deswegen. Keine Ahnung. So viel Zeit hatten wir gar nicht, ich kann sie ja nicht ausfragen, als wäre ich das Ausländeramt. Sie kommt ja gerade zu uns, damit sie anonym bleiben kann und nicht alles erklären muss.“

Ich goss Martina den letzten Tee ein, stand auf, strich ihr über den Kopf.

„Ich geh ins Bett. Denk dran, morgen ist Waldtag, die Kinder müssen pünktlich im Kinderladen sein.“

Im Bett dachte ich an die Frau mit Brustkrebs, die hier für vier Euro den Dreck anderer Leute wegmachte, die nicht nach Hause wollte oder konnte. Die hier wahrscheinlich sterben würde.

Karl Valentin hat mal gesagt: „Ich freue mich, wenn es regnet. Wenn ich mich nicht freue, regnet es trotzdem.“

Er hat unbedingt recht, der Herr Valentin.

Aber manchmal ist es schwer sich zu freuen.

Einige Monate zuvor

An diesem Tag zog sie ihre schäbigste Hose und den ältesten Pullover an. Ihr Haar blieb ungewaschen und wurde nur dürftig gekämmt. Unter die Augen malte sie sich mit braunem Lidschatten extra dunkle Schatten. Hastig steckte sie sich eine Zigarette an und verließ das Haus. Sie würde zu Fuß gehen. Bis zur Fuldastraße waren es entlang der Weserstraße nur ungefähr zwanzig Minuten. Fröstelnd zog sie ihre Schultern ein. Sie hasste es, an den selten gesäten freien Tagen nicht ausschlafen zu können. Schlimm genug, dass sie für ihren Putzjob immer mitten in der Nacht aufstehen musste. An diesen Tagen fühlte sie sich dann wie gerädert, krank, und lungerte nach Feierabend die restliche Zeit nur noch im Bett herum, spielte mit ihrem Handy, döste und hörte Radio.

Als Xhamile an der Kirche ankam, drückte sie die schwere Eingangstür mit ihrer Schulter auf und trat durch den Vorraum ins Kircheninnere. Xhamile rümpfte die Nase. Es roch nach Kaffee, sauren Gurken, Bockwurstdampf und den Ausdünstungen von Menschen, die sich selten und ihre Kleidung noch seltener wuschen.

Neben dem Altar waren fünf große Tische aufgebaut, auf denen sich die verschiedenen Lebensmittel stapelten. Am sechsten, etwas kleineren Tisch gleich zu ihrer Linken wurden die Hartz-IV-Ausweise geprüft. Bedürftigkeitsprüfung. Dieses Wort hatte sie in den letzten Jahren schon oft gehört. Sie hatte keinen solchen Nachweis, wie sie sowieso nichts hatte, was ihre Existenz belegte. Manchmal wünschte sie sich ein Papier, auf dem so etwas wie „Bedürftig“ oder „Illegal“ stehen würde, damit sie wenigstens hier ohne Diskussion und dämliche Belehrung ein paar übrig gebliebene Lebensmittel bekäme. Ihr erster Blick galt also der Frau hinter Tisch Nummer sechs. Xhamile war schon öfter weggeschickt worden, aber heute war die Nette mit dem roten Haar da, eine, der ihr schlechtes Gewissen und das Mitleid ins Gesicht geschrieben standen. Sie kannte Xhamile bereits und winkte sie mit einem freundlichen Nicken durch.

Vor ihr in der Schlange standen schon die bekannten Obdachlosen, ein paar Hartz-IV-Empfänger, Mütter mit kleinen Kindern und ein paar verschämte Alte. Die Schlange rückte langsam auf. Der breite Rücken eines Mannes in den Vierzigern mit aufgerissenen Hosen, zusammengeschnürten Schuhen, zotteligem Haar, mit einer großen Tüte in der Hand, versperrte ihr die Sicht. Der Geruch von Urin stieg ihr in die Nase. Angewidert hielt sie Abstand von ihm.

„Herbert, du hast dich ja wieder nicht gewaschen und dir keine neue Kleidung besorgt. Du solltest doch in die Gitschiner Straße gehen“, tadelte die Frau hinter dem ersten Tisch, wo Brot, Nudeln, Reis und sonstiges trocken verpacktes Zeug ausgegeben wurde.

„Ich geh da heute noch hin, hab keene Zeit jehabt jestern“, gab der stinkende Typ zurück. „Gibste mir noch een zweetes Päckchen Brot?“

„Nein, Herbert, du weißt genau, für jeden gibt’s nur eins“, gab die Frau resolut zurück. „Du kannst noch ein Päckchen Reis haben, davon haben wir heute viel.“

„Ne, wat soll ick denn mit Reis?“

„Na, dann tut´s mir leid, Herbert.“

Der Mann brummte etwas Unverständliches und schob sich dann zum nächsten Tisch.

Xhamile hatte mittlerweile ihre devote Haltung angenommen: Mit hängenden Schultern, schleppendem Deutsch, den Blick demütig nach unten gerichtet fragte sie schüchtern die Frau auf der anderen Seite des Tisches: „Kann ich kriegen noch eine Paket Reis?“ Sie hielt der Frau ihre geöffnete Tüte hin.

„Kann ich ein Paket Reis bekommen, so heißt das richtig.“

Brav wiederholte Xhamile: „Kann ich ein Paket Reis bekommen?“, und nach einer Pause setzte sie noch ein verschämtes „Bittä“ hinzu.

Erfreut nickte die Frau.

Am nächsten Tisch wurden Käse, Wurst, Joghurt und Buttermilch ausgegeben. Die Frau hinter diesem Tisch war gerade in ein Gespräch wegen des Haltbarkeitsdatums verwickelt und Xhamile, deren Unaufmerksamkeit ausnutzend, griff beherzt zu. Salami, Bergkäse, Fruchtjoghurt und Schinkenwurst verschwanden unbemerkt in ihrer Tüte.

Gemüse, Obst, Kuchen und Kinderbrei gab es dann auch noch. Heute Abend würde sie kochen. Schade nur, dass es nie Getränke gab, Saft oder gar Bier. Aber Alkohol gab es sowieso nie. Ihre prall gefüllte Tasche schleppte sie zur Kaffeeausgabe, nahm einen großen Schluck Milch und drei gehäufte Löffel Zucker. Dann setzte sie sich ans Ende einer langen Tafel, die aus Biertischen für die Besucher aufgebaut war. Xhamile angelte in der Tasche nach einer Scheibe Brot, legte zwei Scheiben Wurst darauf und biss beherzt hinein. Dann öffnete sie ihren Rucksack und packte die ergatterten Lebensmittel von der Tüte in den Rucksack um. Sie hatte sich extra weit entfernt vom Tisch der stinkenden Obdachlosen gesetzt, wo einem der Appetit verging.

Früher waren es vorwiegend Deutsche gewesen, gescheiterte Existenzen, die voll Selbstmitleid und Kraftlosigkeit auf der Straße gelandet waren. Heute gab es unter den Obdachlosen mehr und mehr Männer aus Osteuropa, aus Bulgarien, Alkoholiker aus Polen, Rumänen, Männer, die es irgendwie hierher geschafft hatten in der Hoffnung auf Arbeit oder aber gleich in der Gosse gelandet waren, um sich durchfüttern zu lassen. Xhamile verachtete diese Typen. Der Alkohol dünstete aus ihren Poren, sie waren schwach und hatten aufgegeben. Der Alkohol- und Auf-der-Straße-Leben-Gestank verursachten ihr Übelkeit. Und Angst. Denn eines vergaßen viele dieser Männer in ihren besoffenen Hirnen nie: Sie glaubten sich noch immer im Recht, auf Frauen herumtrampeln zu können.

 

Xhamile nahm einen Schluck vom heißen, süßen Kaffee. Sie hatte wenige Erinnerungen an ihre Kindheit in Albanien. Nur an die Szenen mit dem Vater und ihrem Onkel konnte sie sich erinnern, an die Nächte, wenn die beiden betrunken nach Hause gekommen waren, wie der Vater die Mutter verprügelt hatte, fast täglich, wie sie selbst sich zitternd vor Angst im Bett verkrochen hatte, tiefen Schlaf vortäuschend, während ihr Onkel versuchte, den Vater zu bremsen. Der Onkel, der bestimmt mehr als einmal das Leben ihrer Mutter gerettet hatte, wenn diese schon winselnd auf dem Boden gelegen hatte, während der Vater immer noch in seiner trunkenen Wut auf sie eingedroschen und getreten hatte. Sein Bruder hatte dann den Arm um ihn gelegt, ihn weggezogen von der Frau, selbst besoffen und schwankend, bis die beiden schließlich auf die Bank neben den Ofen gefallen und mit lautem Schnarchen eingeschlafen waren. Wenn dann endlich Ruhe war, war sie aus ihrem Bett gekrabbelt, hatte sich zur Mutter gekauert, ihr aufgeholfen, sich im Bett dicht an sie gekuschelt und ihr ins Ohr geflüstert: Mos u merzit, sei nicht traurig. Und die Mutter hatte zurückgeflüstert: Gjithcka do shkoje mire, alles wird gut. Am nächsten Morgen hatte die Mutter mit verquollenem und dunkel verfärbtem Gesicht wie üblich das Frühstück für die Männer zubereitet, das diese stumm und verkatert zu sich nahmen, um dann zur Arbeit aufzubrechen. Einmal hatte die Mutter nicht gekonnt, ihr Arm war gebrochen, und Xhamile hatte für sie einspringen müssen, damit der Vater sein Frühstück bekam. Hastig hatte sie den Tee gekocht, das Brot geschnitten und den Quark aus der Kühlkammer hingestellt. Mit seinen rotgeränderten Augen hatte er sie kaum wahrgenommen. Als sie ihm das Messer für das Brot hinlegte, hätte sie es ihm am liebsten in den Leib gerammt.

Irgendwann waren der Vater und der Onkel nach Deutschland gegangen. Die Mutter und sie hatten ein paar Monate Ruhe gehabt, bis er forderte, dass sie nachkommen müssten. Klaglos hatte die Mutter ihre Sachen gepackt und sie hatten sich aufgemacht in das ferne Berlin. So waren sie in Neukölln gelandet. Der Vater und der Onkel arbeiteten oder arbeiteten nicht, die Mutter verbarg sich in der kleinen Wohnung, versorgte die Familie, wurde nachts wieder vom Vater geprügelt.

Xhamile hatte eine deutsche Schule besucht, hatte wenig verstanden, nur sehr langsam Deutsch gelernt. Selten hatte ihr jemand geholfen, sie gefördert. In der Schule war sie immer die Doofe, die, die nie was kapierte, das Mädchen aus Albanien. Die Lehrer waren streng oder verbargen ihr Desinteresse hinter einer maskenhaften Freundlichkeit. Nur einmal war da eine junge Lehramtskandidatin gewesen, die hatte ihr die Welt der Buchstaben erklärt, hatte mit ihr Hausaufgaben gemacht, mit ihr geübt. Ihr verdankte sie, dass sie lesen gelernt hatte.

Die Jahre waren ins Land gegangen. Als sie ungefähr vierzehn war, wurden ihr Vater und der Onkel verhaftet, sie wusste nicht, warum. Die Mutter auch nicht. Die beiden Männer wurden abgeschoben nach Albanien. Damit war auch das Aufenthaltsrecht für die Mutter und sie erloschen. Die Mutter hatte Asyl für sich und ihre Tochter beantragt, was abgelehnt worden war. An Xhamiles fünfzehntem Geburtstag hatte die Polizei die Wohnung gestürmt und die Mutter zum Flugzeug gebracht. Sie selbst war nicht zu Hause gewesen, da sie mit Freunden die ganze Nacht gefeiert hatte und erst nach Hause gekommen war, als die Mutter und die Polizei schon weg waren. Gjithcka do shkoje mire, wiederholte sie die Worte der Mutter in den folgenden Jahren wie ein Mantra, wenn sie nicht mehr weiter wusste.

Seitdem lebte sie in Berlin ohne Schulabschluss, ohne Ausweis, ohne Familie. Sie nahm die Jobs, die sie kriegen konnte, wohnte bei Freunden oder Bekannten, wohnte manchmal in einem schäbigen Zimmer, für das sie meist zu viel Miete bezahlte. Sie lernte, sich unauffällig durch die Straßen zu bewegen und stets auf der Hut zu sein, auf der Hut zu sein, wurde ihr zu zweiten Natur, wie ein Beutetiere in der freien Wildbahn, das jeden Augenblick damit rechnen musste von einem Fuchs, Löwen oder Habicht erlegt zu werden.

Ein paar Jahre später hörte sie von einem weit entfernten Cousin, dass ihre Mutter gestorben war, totgeschlagen von ihrem Ehemann, zu dem sie nach ihrer Abschiebung zurückgekehrt war. Wohin hätte die Mutter auch sonst gekonnt? Dieser besoffene Idiot hatte es also doch noch geschafft. Xhamile hatte in den Jahren danach nie mehr etwas von ihrem Vater gehört. Das war ihr recht. Er war ihr egal. Ihr war fast alles egal.

„Ist hier noch frei?“ Eine junge Frau mit blondiertem Haar und einem slawischen Akzent, ukrainisch oder russisch, setzte sich ihr gegenüber. Sie war perfekt geschminkt mit leuchtend blauem Lidschatten, viel Lippenstift und Rouge. Die Augenbrauen perfekt gezupft und in einem Dunkelbraun bemalt, so dass sie in großem Kontrast zu dem blondierten, lockigen Haar standen.

„Kann isch ein Paket Reis bekommen, bitta?“, warf sie Xhamile verschmitzt zu und reichte ihr ein Paket Reis aus ihrer Tüte. „Da, nimm, ich kann Reis nicht ausstehen.“ Überrascht stellte Xhamile ihren Kaffee auf den Tisch, dann brachen beide in lautes Lachen aus.

„Wenn man extra schäbiges Deutsch spricht, haben sie mehr Mitleid und rücken mehr raus, stimmt's?“, meinte die Blonde grinsend und biss in ein Eclair. Xhamile nickte und nahm sich ein Eclair, das ihr die Fremde anbot.

„Lecker, dieses Zeug könnte ich immer essen“, seufzte die Blonde und wischte sich die Mundwinkel ab. „Kommst du öfter hierher? Ich hab dich hier noch nie gesehen.“

„Manchmal, aber man braucht Glück wegen der Bedürftigkeitsprüfung.“

Verschmitzt zog die Blonde ein in Folie eingeschweißtes Papier aus der Tasche. „Hast du keinen Hartz-IV-Ausweis?“

„Nee, ich hab gar nichts, keine Papiere.“

Die Blonde hob die Augenbrauen. „Ich auch nicht, aber mit so einem Ausweis kommst du weiter. Soll ich dir einen besorgen?“

Xhamile schaute sie fragend an, aber die Blonde grinste schelmisch.

So hatte sie Florentina kennengelernt. Mit ihr hatte für Xhamile ein neues Leben begonnen. Ein Leben mit einer Freundin, ein Leben, das ihr Kleinsein weniger klein machte. Mit Florentina lernte sie, sich nicht immer zu ducken, sich zu nehmen, was sie brauchte, frech zu sein, sie lernte, sich zu verkleiden und schick essen zu gehen, um dann aus dem Toilettenfenster zu klettern und laut lachend davonzurennen.

Seit gut drei Jahren wohnten sie jetzt zusammen mal hier, mal dort, immer gerade da, wo sich etwas Günstiges ergab. Florentina kannte so viele verschiedene Leute in der Stadt, es war ihr ein Rätsel, wie sie das schaffte. Andererseits war Florentina offen, sie kam mit jedem leicht ins Gespräch, war neugierig, vorlaut - ganz im Gegensatz zur ihr selbst. Xhamile war eher schüchtern, zurückhaltend, scheu, aber an der Seite von Florentina wurde sie mutiger.

Ja, mit Florentina hatte ein neues Leben begonnen. Es war leichter, lustiger. Es begann eine gute, fast glückliche Zeit. Das erste Mal in ihrem Leben.

Ti nuk je vetem. Du bist nicht allein.

Einige Monate zuvor

Der neue, knallrote Lippenstift bildete zusammen mit den roten Fingernägeln einen starken Kontrast zum schwarzen, raffiniert geschnittenen Rock und der schwarzen Bluse. Xhamile stand im Badezimmer vor dem Spiegel und brachte die Grundierung für ihr Make-up auf, als Florentina ihren Kopf zu Tür hereinstreckte. Sie trug ihr rosafarbenes Seidenkleid, hochhackige Schuhe, die Haare kunstvoll aufgesteckt.

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