Janowitz

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Rolf Schneider

Janowitz

Roman


Erste Auflage 2021

© Osburg Verlag Hamburg 2021

www.osburgverlag.de

Alle Rechte vorbehalten,

insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags

sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen,

auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form

(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)

ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert

oder unter Verwendung elektronischer Systeme

verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Lektorat: Bernd Henninger, Heidelberg

Umschlaggestaltung: Therese Schneider, Berlin

Satz: Hans-Jürgen Paasch, Oeste

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

Printed in Germany

ISBN 978-3-95510-256-2

eISBN 978-3-95510-265-4

WIESE IM PARK

(Schloss Janowitz)

Wie wird mir zeitlos. Rückwärts hingebannt

weil’ ich und stehe fest im Wiesenplan,

wie in dem grünen Spiegel hier der Schwan.

Und dieses war mein Land.

Die vielen Glockenblumen! Horch und schau!

Wie lange steht er schon auf diesem Stein,

der Admiral. Es muss ein Sonntag sein

und alles läutet blau.

Nicht weiter will ich. Eitler Fuß, mach Halt!

Vor diesem Wunder ende deinen Lauf.

Ein toter Tag schlägt seine Augen auf.

Und alles bleibt so alt.

Karl Kraus

Inhalt

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

I

Der Zug fuhr vorüber an den letzten Vorstadthäusern von Prag. Rilke sah sie, hinter dem Fenster, hinter dünnen Schlieren weißgrauen Dampfes der Lokomotive, die flüchtig das Glas beleckten. Er sah niedrige, von Moos besetzte Ziegeldächer und verwilderte Gärten. Auf den Blättern der Bäume lag flimmernde Nachmittagssonne. Der Himmel war blank.

Er hatte das Abteil für sich allein, was ihm sehr behagte. Er reiste gerne und reiste gerne allein. Die Strecke hier war ihm vertraut, böhmisches Hügelland, mit Wiesen, Feldern und Gebüschen, eine anmutige Szenerie, die er, aber das war lange her, in Versen beschrieben hatte. Dann unterbricht nur hier und da ein Baum die falbe Fläche hoher Ährenfelder. Frühe Texte. Sie waren, das wusste er, nicht vollkommen. Andere Gedichte des damaligen Bandes benannten Einzelheiten von Prag, Gebäude, Gotteshäuser, den Fluss, eine Brücke, dazu Stimmungen, Ereignisse, Personen, darunter die seiner Mutter. Sie lebte längst nicht mehr in Prag.

Er selbst kam inzwischen bloß noch gelegentlich in diese Stadt, wie eben jetzt, aus Anlass einer Lesung. Das Publikum war nicht groß gewesen, überwiegend Frauen, erkennbar wohlhabend und die meisten nicht mehr jung. Er hatte aus seinen Dinggedichten gelesen und aus seinem Roman. Er hatte parfümierte Hände gedrückt, Auskünfte gegeben, Schmeicheleien vernommen und seine Zuneigung zu Prag und zu Böhmen bekundet, die er, da er sie aussprach, als völlig wahrhaftig empfand. Aber liebte er diese Stadt? War es nicht vielmehr Hass, was er für sie fühlte? Ein Begriff wie Hass war seinem Wortschatze fremd. Er stammte aus Prag, er war dort aufgewachsen, war, nach seinen Internatsjahren, dorthin zurückgekehrt, er hatte dort Verse verfasst, sie öffentlich vorgelesen und zum Druck gegeben, hatte Pläne verfolgt und seine erste große erotische Passion dort erlebt. Das Kind René Maria. Gestern am Nachmittag war er noch, vor der abendlichen Veranstaltung, die einst vertrauten Wege schaudernd abgeschritten, Heinrichsgasse, Wenzelsplatz, Wassergasse, Graben, das Haus mit der Wohnung der Mutter, das Haus mit der Wohnung des Vaters, das Haus mit der Wohnung von Onkel Jaroslav, dem er damals einiges zu verdanken gehabt hatte, der angesehen gewesen war, als Anwalt und Politiker, den der Kaiser für seine Verdienste nobilitiert hatte. Das »von« im Namen, dazu der Titel Ritter. Er selbst hätte beides gerne getragen, er hatte viel Mühe darauf verwendet, unter seinen Vorfahren einen Adeligen zu finden, vergeblich, dabei war er sicher gewesen und war es immer noch, dass es einen ebensolchen gegeben habe.

Vor dem Abteilfenster hing die gleichbleibende Landschaft, höchst ansehnlich und ein wenig monoton. Der Samt der Polster roch schwach ranzig, nach altem Tabak, offenbar hatten vor ihm Raucher hier gesessen, er selbst nahm kein Nikotin.

Er fuhr jetzt nicht nach Lautschin, jenes andere böhmische Schloss, das er gut kannte, da er dort zu Gast gewesen war. Derzeit lebte dessen Besitzerin anderswo, in Paris oder Venedig oder Duino. Wenn sie sich in Lautschin aufhielte, hätte sie ihm ihr Automobil mit Chauffeur geschickt. Der Reichtum der Prinzessin war immens, so wie ihr Adel uralt war: geborene Prinzessin Marie Elisabeth Karoline zu Hohenlohe-Waldenburg-Schillingsfürst, eingeheiratet in die böhmische Linie der Thurn und Taxis. Sie war zwanzig Jahre älter als er, Mutter von drei Kindern und eine Person von äußerstem Kunstsinn, sie nannte ihn Dottor serafico, sie verwöhnte ihn, was er mit ausführlichen Briefen und hochgestimmten Versen zu erwidern wusste. Die Prinzessin hatte ihm ihr Schloss hoch über der Adria überlassen, für ein halbes Jahr, dass er sich dort seinen Elegien widmen konnte, dreien bislang, die Arbeit daran stockte, nun schon im zweiten Jahr, vielleicht war Janowitz der Ort, an dem er sie fortzusetzen vermochte.

Der Adel der Nádherný von Borutín war nicht so alt wie jener der Thurn und Taxis, kaum älter als der des Onkels Jaroslav, und auch der Reichtum der Nádhernýs dürfte nicht annähernd so groß sein wie der von Prinzessin Marie. Dafür hatte die Baronesse den Vorzug, erheblich jünger zu sein als die Prinzessin, zudem war sie sehr schön. Er brauchte das. Er war nach Frauenschönheit begierig, wobei er unter dieser Begierde auch litt. Er wusste, wie er Frauen für sich gewinnen konnte, fast reflexhaft, durch Sprache, durch Verse, durch Briefe, und zugleich konnte ihn die derart erregte Anhänglichkeit ängstigen, dass er lieber auswich, wie erst jetzt wieder, da er die leidenschaftlich atmende Nähe der Konzertpianistin Magda von Hattingberg (auch kein alter Adel) nicht länger ertrug.

Hinter dem Fenster stand im Himmel wie bewegungslos ein schwarzer Vogel, wohl ein Milan. In Rilkes linkem Unterkiefer begann es zu schmerzen, verursacht durch einen kariösen Zahn, dessen scharfe Kanten er mit der Zungenspitze erspüren konnte. Der gleiche Schmerz hatte ihn bereits gestern befallen, vor seiner Lesung, war dann aber vergangen. Er hoffte, es möge auch jetzt wieder so geschehen.

Die Baronesse hatte ihn wissen lassen, dass er in Janowitz stets willkommen sei, und er hatte sie rechtzeitig von seinem Kommen in Kenntnis gesetzt. Er war schon mehrfach Gast in Janowitz gewesen. Kennengelernt hatte er die Baronesse in Meudon-Val-Fleury, vor mehr als zehn Jahren, da war er Sekretär bei Auguste Rodin gewesen. Die Baronesse hatte zusammen mit ihrer Mutter das Atelier des Bildhauers besucht. Die Mutter war eine ältliche Person gewesen, mager, in sich gekehrt und, wie er bei den späteren Begegnungen erfuhr, einigermaßen bigott. Die Tochter, aufrecht in ihrer Haltung und mit anmutigem Lächeln, gefiel ihm augenblicklich. Er durfte sie herumführen, ehe Rodin, angeregt durch das Äußere der Baronesse, ihm das abnahm. Rodins Hunger auf Frauenschönheit war grenzenlos, was Rilke bewunderte und was ihn auch neidisch machte. Hier war ein Verlangen, das unermesslich war, ein Durst so groß, dass alle Wasser der Welt in ihm wie ein Tropfen vertrockneten. Er sah, wie Rodin zu den beiden Frauen sprach, die greise Hand an der Schulter der Baronesse, die das offensichtlich gerne ertrug. Rilke ging einige Schritte hinter ihnen her, im Blick immer die schöne Baronesse, die bewundernd aufschaute zu den riesigen Plastiken Rodins.

Er hatte die Baronesse anderthalb Jahre später wiedergesehen. Ihr Bruder war Zuhörer einer seiner Lesungen in Prag gewesen und hatte ihn nach Janowitz eingeladen. Das hatte er gerne wahrgenommen, wie er Einladungen von Aristokraten auf deren Schlösser immer gerne wahrnahm. Er erkannte die schöne Baronesse augenblicklich wieder, die, als er Meudon und Rodin erwähnte, sich ihrerseits dankbar zu erinnern schien. Die bigotte Mutter war ständig um sie, dazu eine andere ältliche Person, Ausländerin, frühere Erzieherin der Baronesse, wie er erfuhr, und nun offenbar deren Vertraute. Die zwei sprachen englisch miteinander.

Er fand vergleichsweise wenige Möglichkeiten, mit der Baronesse allein zu sein, was ihn verdross. Abends trug er aus seinen Gedichten vor, denen die Baronesse aufmerksam lauschte, so wie ihr älterer Bruder, und ganz im Gegensatz zu dem jüngeren, der sich bei den Lesungen gern entfernte. Rilke blieb damals bloß wenige Tage. Danach begann er, worauf er sich ohnehin besonders verstand, mit der Baronesse eine ausufernde Korrespondenz. Es ist nicht leicht für einen Brief, so zu kommen und mit dem Inhalt die Freude dieses Eintreffens noch zu übersteigen. Der Ihre hat es gekonnt.

 

Ein paar Jahre später hatte er sich nochmals in Janowitz aufgehalten, für insgesamt drei Wochen. Es wurde eine angenehme, eine schöne, eine erfüllte Zeit. Jetzt hatte er die Baronesse auch allein erlebt, sie hatte ihm den Park ihres Schlosses gezeigt, eine weitläufige Anlage, deren Pflege und Erweiterung ihr ein Bedürfnis war. Er hatte ihr Empfehlungen für Lektüren gegeben, denen sie gerne nachkam. Sie hatten sich manchmal berührt, eher zufällig. Die Mutter der Baronesse war kurz zuvor gestorben, bloß die frühere Erzieherin lebte weiterhin in Schloss Janowitz, Mary Cooney, gebürtige Irin, die ihm, so schien es, mit heimlichem Misstrauen begegnete. Die Baronesse durfte er jetzt Sidie nennen.

Der Zug hielt an. Der Zahnschmerz hatte sich verflüchtigt. Er las das Stationsschild Beneschau, er stand auf und verließ das Abteil. Auf dem Bahnsteig bewegte sich eine Familie mit Kindern, ein Mann mit hellgrauem Umhang und Hut auf dem Kopf kam auf ihn zu und fragte:

Herr Rilke?

Er nickte. Er deutete auf die offene Abteiltür. Der Mann stieg ein und kehrte mit einem schweren Koffer zurück. Bitte, sagte er kurzatmig und wies auf das Stationsgebäude.

Dort wartete ein Landauer. Rilke stieg ein, der Kutscher verstaute den Koffer, erklomm den Bock und fasste die Zügel. Die Fahrt führte an bäuerlichen Häusern vorbei, wechselte auf einen Weg zwischen Feldern und danach auf eine Allee unter Apfelbäumen. Rilke erkannte die Silhouette des Schlosses, unter dessen Einfahrt mit dem bunten gotischen Zierat die Baronesse stand, in den Fingern eine brennende Zigarette, die sie jetzt fortwarf und zertrat. Neben ihr hockte ein Hund.

Der Landauer hielt, Rilke stieg aus. Der Hund wollte ihn beschnüffeln, die Baronesse hielt ihn zurück. Liebste Freundin, sagte er und küsste eine Hand, die nach Tabak und Rosenöl roch. Die Mischung behagte ihm. Die Hand, sah er, war zierlich und schmal, mit sehr zarter Haut. Die Baronesse trug einen Reitdress. Sie sagte:

Seien Sie willkommen, Rainer.

Personal erschien, das ihn zu seinem Zimmer geleiten sollte. Das Schlossinnere war ausgestattet mit historisierenden Fresken und geschnitzten Figuren, ein wenig überladen, eben neureich. Das Zimmer erkannte er wieder. Hier hatte er schon bei seinen früheren Aufenthalten gewohnt. Rechts neben dem Fenster stand ein Schreibpult, er nickte, er lächelte, die Baronesse kannte seine Gewohnheiten und ging darauf ein. Sein Koffer wurde gebracht. Er wechselte die Kleidung, zum zweiten Mal an diesem Tag, am Abend würde er sie nochmals wechseln, wie gewöhnlich. Er verließ das Zimmer. Er befand sich im zweiten Stock des Schlosses. Auch die Baronesse, erinnerte er sich, hatte auf dieser Etage ihre Gemächer.

Er ging dorthin. Die Tür stand halboffen. Unten im Hof war Sidonies Stimme, offenbar redete sie mit einem Domestiken. Er trat ein. Dieses Zimmer war erheblich größer als das seine. Er sah ihr Bett, einen Schrank, eine Kommode, er ging dorthin und öffnete einen der Schübe. Er sah Wäsche, sorgfältig zusammengelegt, weiße Wäsche, zarte Stoffe, mit Spitze und Rüschen. Vorsichtig nahm er eines der Stücke heraus, befühlte es, der Stoff war kühl und seidig. Er roch daran. Der Duft schmeckte nach Rosenöl, Moschus und Honig.

Sie saßen zu dritt beim Frühstück (Croissants, Toast, Marillenkonfitüre, Butter, Rührei, geräucherte Forelle, Assam-Tee). Das vierte Gedeck am Tisch war unberührt, Rilke schlief wohl noch. Sidonies Bruder Karl, in der Familie Charlie gerufen, sagte zu seiner Schwester:

Ich habe einen Brief vom Grafen erhalten.

Welchen Grafen? Wir kennen so viele.

Ich rede von Guicciardini. Er überlegt einen Besuch bei uns. Ich vermute, er will um deine Hand anhalten.

Wieder einmal.

Seine Worte sind überaus höflich. Soll ich sie dir vorlesen?

Ich kenne seine Worte. Er benutzt sie auch mündlich. Zähle ich richtig, wäre dies sein vierter Versuch.

Er verfolgt seine Ziele mit Ausdauer und Geduld. Spricht das gegen ihn?

Seine Ausdauer ist in Wahrheit Verzweiflung, und seine Geduld ist Starrsinn. Er spekuliert auf meine Mitgift.

Das ist in unseren Kreisen bei Eheschließung das Übliche.

Sie sagte nichts darauf. Sie schob ihre Teetasse beiseite, entnahm ihrem Silberetui eine Zigarette und zündete sie an. Außer ihrem Bruder saß am Tisch Mary Cooney, ihre einstige Erzieherin und nunmehrige Vertraute, in der Familie May-May geheißen. Sidonie fragte sie, was sie von Charlies Mitteilung halte. May-May entgegnete, sie habe dazu keine Meinung. Die beiden redeten jetzt miteinander englisch.

Sidonie drückte ihre Zigarette aus und stand auf. Sie verließ das Speisezimmer. Sie verließ das Haus und ging zu den Stallungen, wo sie ihr Pferd sattelte, Yér, einen braunen Wallach. Sie führte ihn auf den Hof, bestieg ihn und ritt davon. Es war ein sonniger Morgen, an den Gräsern im Park, sah sie, hing Tau.

Sie dachte an das Gespräch mit ihrem Bruder. Den Grafen Carlo Guicciardini hatte sie während einer ihrer Italienreisen kennengelernt, einen liebenswürdigen, etwas klein gewachsenen Menschen, die meisten Männer, die sich um ihre Gunst bemühten, waren kleinwüchsig. Gab es dafür einen Grund? Sie wusste keinen. Guicciardini entstammte einer alten Florentiner Familie, mit einem hochberühmten Vertreter im Zeitalter der Renaissance, Francesco, enger Freund des Staatsphilosophen Niccolò Machiavelli. Auch Francesco hatte, wie Machiavelli, in Diensten der Medici gestanden, auch er hatte, wie Machiavelli, ein berühmtes Buch geschrieben, »La storia d’Italia«, auf der Apenninhalbinsel jedem Schulkind geläufig, und eigentlich war dies ein erstaunlicher Buchtitel, da es damals einen Staat Italien noch längst nicht gegeben hatte, der war erst vor gerade fünfzig Jahren entstanden. Von Francesco existierte eine Porträtstatue, aufbewahrt in den Uffizien, Sidonie hatte sie sich dort anschauen dürfen, natürlich in Begleitung von Carlo.

Sie galoppierte vorbei an einer gemähten Weide, auf der Landarbeiter beschäftigt waren. Als sie Sidonie erkannten, hielten sie in ihrer Tätigkeit inne, nahmen ihre Mützen vom Kopf und verbeugten sich etwas. Sidonie grüßte mit einer flüchtigen Geste der rechten Hand.

Die Agrarflächen von Schloss Janowitz waren ausgedehnt. Den letzten Zuerwerb hatte Sidonies älterer Bruder Johannes betrieben, die Verwaltung erledigte jetzt ihr anderer Bruder Charlie. Der seufzte darüber. Es war ein theatralisches Seufzen. Die Nádhernýs gehörten zu den wohlhabenden Familien in Mittelböhmen, vielleicht nicht ganz so reich wie die Thurn und Taxis, angesehen und sehr wohlhabend immerhin. So viel wusste sie. Mehr musste sie nicht wissen. Sie verstand nichts von Ökonomie. Ihre Neigungen galten der Botanik, den schönen Künsten und den Reisen in fremde Länder. Charlies wiederholte Klagen über Probleme der Landwirtschaft nahm sie ebenso geduldig hin wie seine Vorwürfe wegen der ständigen Buchsendungen, die sie erhielt und für die er aufkommen musste. Dass sie sich ein Automobil zugelegt und Unterricht genommen hatte, um es selbst chauffieren zu können, ertrug er hingegen klaglos, da es offenbar dem Ansehen der Familie zugutekam.

Sidonie und er waren Zwillinge. Charlie war kurz vor ihr zur Welt gekommen, was er bei gelegentlichen Auseinandersetzungen anzuführen pflegte: Ich bin zwanzig Minuten älter als du, außerdem bin ich ein Mann. Worauf sie erwiderte: Die Vorstellung, dass Männer wichtiger sind als Frauen, stammt aus dem Mittelalter. Dazu er: Jedenfalls gibt es sie, und sie gilt immer noch.

Charlie hielt beharrlich fest an der Idee, Sidonie müsse heiraten und dies möglichst bald, eine Ehe sei auch keine Angelegenheit von Gefühl und Zuneigung, sondern eine des gesellschaftlichen Weiterkommens. Das Haus Nádherný habe Adelstitel und Stammbaum, die es fortzusetzen gelte. Natürlich traf dies alles ebenso und eigentlich noch viel mehr für Charlie zu, der aber keinerlei Anstrengungen unternahm, sich selbst zu binden. Er sei, sagte er, nicht gesund und habe es an den Ohren.

Er sähe es gern, wusste sie, wenn sie Carlo Guicciardini ehelichte. Der Italiener hatte zwar nicht viel Geld, doch sein Adel war so alt wie jener der Thurn und Taxis. Für Sidonie zählte das nicht. Sie hielt weniger auf gesellschaftliches Weiterkommen als auf Gefühl und Zuneigung. Carlo Guicciardini war zwanzig Jahre älter als sie, seine Zähne waren schlecht, außerdem war er Witwer, hatte also bereits eine Frau verbraucht. Auf solche Einwände pflegte Charlie zu sagen, dies alles habe auch Vorteile, alte Männer seien sanft, ließen sich leiten und suchten keine Abenteuer. Sie lachte durch die Nase. Woher bezog Charlie derlei Weisheiten? Aus den Zeitungen, die er sich täglich kommen ließ? Standen solche Dinge in Zeitungen?

Sie kehrte zurück ins Schloss. Sie war eine knappe Stunde unterwegs gewesen. Sie sprang ab, ein Stallbursche übernahm das Pferd. Sie ging ins Haus, am Frühstückstisch saß jetzt Rilke, allein, in hellem Anzug mit fliederfarbener Krawatte, vor sich einen Teller Haferbrei, darauf brauner Zucker. Sie hatte der Küche eine entsprechende Anweisung gegeben, der Dichter war Vegetarier. Sie grüßte ihn. Er sprang auf, tupfte sich mit der steifen Serviette den Mund ab und grüßte zurück. Er sei dankbar, sagte er, dass man sich seiner Essgewohnheiten erinnert habe, und sagte, er habe etwas Prosa für Sidonie kopiert, einen kleinen Text über Janowitz.

Er nahm vom Tisch ein hellblaues Blatt Papier und überreichte es ihr. Sie erkannte seine fast kalligraphische Handschrift, ihr vertraut aus vielen Briefen. Sie las:

Janowitz, wie hab ich’s mir doch zu Herzen genommen. Es kommt viel in meinem Inneren vor. Das von Sidonie errichtete Zelt mit Phlox rechts und links bedeutet: Ruhe. Ein Weg, grasüberwachsen, auf der einen Seite Mauer, auf der anderen Obstbäume voller Äpfel, im Rasen stehend heißt: Freude. Flaches Gemüseland, von Hecken umrahmt, mit kleinen Wegen, Wasserläufen, einem kleinen runden Schöpfteich in der Mitte und unaufhörlichem Himmel über sich ist: Freiheit oder Glück.

Er nahm das erste Exemplar seiner »Fackel« zur Hand und blätterte darin, wieder einmal. Die Zeitschrift war jetzt fünfzehn Jahre alt. In der letzten Ausgabe hatte er an dieses Jubiläum mit dem Abdruck eines albernen Leserbriefs erinnert.

Das Heft zeigte, nun schon im dreizehnten Jahr, jenen schlichten, bloß auf Typografisches setzenden roten Umschlag, zu dem er sich nach dem Zwist mit seiner früheren Druckerei entschlossen hatte. Zuvor gab es die Jugendstilgrafik mit der rauchenden Fackel, inmitten vielen Gewölks und vor der schwarzen Silhouette einer Stadt, die man für Wien halten durfte.

Er blätterte in dem Heft. Er las: Ich habe es bisher nicht über den Ruhm hinausgebracht, in engeren Kreisen missliebig geworden zu sein. Er las: Mein Sündenregister wäre unvollständig, vergäße ich die Erwähnung des Kampfes, den ich in mehreren periodisch erscheinenden Druckschriften seit einer Reihe von Jahren gegen die periodisch erscheinenden Dummheiten und Lächerlichkeiten unseres politischen, gesellschaftlichen und literarischen Lebens geführt habe.

Er blätterte weiter. Die Texte handelten von Politik, Theater, Malerei und Literatur. Sie verhöhnten die damalige Regierung, den Wiener Bürgermeister und das Tageblatt Neue Freie Presse. Sie verhöhnten ausführlich die Literaten Josef Bauer und Hermann Bahr, etwas gnädiger behandelt wurden Arthur Schnitzler (umständliche seelische Obduktion) und Hugo von Hofmannsthal (Edelsteinsammler aller Literaturen). Es gab Fußtritte gegen den Liberalismus, den Zionismus und den Antisemitismus. So möge denn die Fackel einem Lande leuchten, in welchem – anders als in jenem Reiche Karls V. – die Sonne niemals aufgeht.

Das Heft enthielt ausschließlich Beiträge von ihm, Karl Kraus. Später hatte er auch Texte von anderen abgedruckt. Inzwischen schrieb er sämtliche Beiträge wieder allein.

Was hatte er mit alledem erreicht? Er stand da, das alte Heft in der Hand, und fragte es sich. Er war bekannt und gefürchtet. Gut. War er stolz darauf? Auch das. Tat er dies alles um seinetwillen oder der Sache wegen?

Als damals die erste Ausgabe auf den Markt kam, dreihundert Exemplare, erwiesen sich Echo und Nachfrage als so außerordentlich, dass augenblicklich und mehrfach nachgedruckt werden musste. Vorbild für das Unternehmen war »Die Zukunft«, eine Berliner Zeitschrift, herausgegeben von Maximilian Harden, mit dem Kraus zunächst eng befreundet war, ehe er sich mit ihm zerstritt, da es Harden gefiel, missliebige Politiker mit Einzelheiten aus deren Sexualleben bloßzustellen. In Sachen Sittlichkeit und Kriminalität war Kraus hochempfindlich.

 

Harden hatte sich gerächt und über die Liebesbeziehung zwischen Kraus und Annie Kalmar gelästert. Die schöne junge Schauspielerin, gebürtige Deutsche mit eigentlichem Namen Elisabeth Kaldwasser, hatte Kraus bei einer Aufführung des Wiener Volkstheaters entdeckt. Gegeben wurde eine fade französische Posse, ein Mitspieler war der berühmte Alexander Girardi. Annie Kalmar erschien ihm als die Herrlichste von allen.

Das Lob der »Fackel« machte sie augenblicklich bekannt. Sie bedankte sich, voller Rührung, so lernten sie und Karl Kraus sich persönlich kennen. Sie war nicht sehr gesund, sie litt an Tuberkulose, schon seit Langem. Sie spielte weiter am Volkstheater, bis 1901, Kraus setzte sich nachdrücklich dafür ein, dass sie ein Engagement am Hamburger Schauspielhaus erhielt. Ehe sie es hätte antreten können, starb sie, bloß dreiundzwanzig Jahre alt. Die Nachricht von ihrem Tod meldete »Die Fackel« mit einer Zuschrift des Schriftstellers Peter Altenberg, dessen Wortlaut Kraus gründlich überarbeitet hatte: Die schönste, genialste, sanfteste, kindlichste Frau, die wie ein Gnadengeschenk des Schicksals in diese hintrauernde Welt der Unvollkommenheiten gesendet ward, hat sterben müssen.

Sie war seine erste große Liebespassion gewesen und eine tragische dazu. Er sollte sich noch lange daran klammern und einen förmlichen Kult betreiben. An ihrer Beisetzung auf dem Ohlsdorfer Friedhof in Hamburg hatte kaum jemand teilgenommen. Ihren Leichnam ließ er später umbetten und ein prunkvolles Grabmal errichtet. Als Harden die Beziehung zwischen ihm und der Toten öffentlich als Roman verhöhnte, erwiderte er: Der lebende Harden sei in Wahrheit tot, während sein eigener Roman mit der Toten lebe und die Kraft habe, immer wieder aufzuleben, denn ich verdanke ihm mein Bestes.

Er sah sie vor sich: eine schlanke Person, mit gelocktem Haar, mit der Andeutung eines Lächelns. Die Erinnerung an sie schmerzte, immer noch und immer wieder. Annie war seit dreizehn Jahren tot. Damals hatte er wochenlang nicht mehr arbeiten können und war, um sich abzulenken, nach Skandinavien gefahren, wo niemand ihn kannte und wo er niemanden kannte. Er kehrte dann zurück. Sein Verlagshaus hatte nicht mehr mit ihm gerechnet und brachte eine läppische Imitation der »Fackel« heraus, die bald scheiterte. Er suchte sich eine andere Druckerei und begann wieder zu schreiben.

Er legte das alte Heft beiseite. Er trat ans Fenster und blickte hinaus. Der Tag war sonnig, im Himmel hingen bloß ein paar Schleierwolken. Auf der Straße fuhren Kutschen. Ein Paar ging vorüber, die Frau trug einen ausladenden Hut und hielt zusätzlich einen aufgespannten Sonnenschirm in der Hand. Dies erschien ihm übertrieben, und Übertriebenes erregte sein Misstrauen.

Er war besessen von Sprache und besessen vom Schreiben. Er hasste gedruckte Phrasen und deren Urheber, er hasste verlogene Literatur. Der erste Text, mit dem er weithin bekannt wurde, erschien in einer Zeitung und verspottete die Literatenclique, die im Café Griensteidl am Michaelerplatz saß, bis es abgerissen wurde. Einer der dortigen Autoren, Felix Salten, der eigentlich Zsiga Salzmann hieß und der mit Kraus einmal befreundet gewesen war, fühlte sich durch den Text derart beleidigt, dass er Kraus auflauerte und verprügelte. Später, als »Die Fackel« erschien, würde es zu weiteren tätlichen Übergriffen auf deren Schöpfer kommen. Das Pamphlet über die Griensteidl-Literaten erschien außerdem als Broschüre, die mehrere Auflagen erfuhr.

Er hasste Phrasen, und er liebte das Theater. Anfangs hatte er Schauspieler werden wollen und war auch in einer Inszenierung aufgetreten, die ein blamabler Misserfolg wurde. Von Bühne und Publikum mochte er gleichwohl nicht lassen. Er setzte sich in Theaterpremieren und schrieb darüber. Er probierte sich als öffentlicher Vorleser, von fremden Texten und von eigenen, die erste solche Veranstaltung unternahm er im Alter von achtzehn Jahren. Er las aus Arbeiten Gerhart Hauptmanns vor und aus Arbeiten Frank Wedekinds. Er liebte die Stücke des Possendichters Johann Nestroy und die Operetten des Komponisten Jacques Offenbach. Seine Abende waren immer ausverkauft.

Soeben war er vierzig Jahre alt geworden. Wen sah er, wenn er sich im Spiegel betrachtete? Einen kleinen, etwas verwachsenen Brillenträger mit dunklen Haaren. Er hatte eine scharfe durchdringende Stimme, die auch singen konnte, öffentlich. Er war vielseitig. Er war fleißig. Seine »Fackel« wurde gekauft und gelesen. Er hatte ein paar enge Freunde und viele erbitterte Gegner, manche von ihnen ehemalige Freunde. Er bezog eine Rente aus dem elterlichen Vermögen, wirtschaftliche Probleme kannte er keine.

Er sah, wie auf der Straße sein Automobil vorfuhr und hielt. Der Fahrer stieg aus und ging ins Haus, um das Gepäck zu holen. Kraus griff nach seinem Mantel. Er würde nach Janowitz fahren.

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