Präludien zu Hegel

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Präludien zu Hegel
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Präludien zu Hegel

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2019 by Rita Kuczynski

www.rita-kuczynski.de

Hoffbauerpfad 19

14165 Berlin

Buchgestaltung: Bernd Floßmann • www.IhrTraumVomBuch.de

Vertrieb: epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin

Diese Biografie ist keine Biografie

Eine junge Frau erhält von höchster Stelle den Auftrag, eine Hegel-Biografie zu schreiben. Davon gibt es, wie alle wissen, die sich mit dem Thema beschäftigen, viele. Hier und jetzt jedoch bestehen besondere Erwartungen. Hegel ist einer der geistigen Väter der zu dieser Zeit herrschenden Auffassung, wenn auch einer, der auf dem Kopf stand. Für diese Auffassung musste Hegel durch den Klassiker vom Kopf auf die Füße gestellt werden. Ein Klassiker, das wissen diejenigen, die in dieser Zeit das Sagen haben sehr gut, ist nur groß durch große Vorgänger. Eine Biografie darf, ja soll den Vorgänger stark, aber überwindbar darstellen.

Für die junge Frau, Rita Kuczynski, ist die Welt Klang. Sie ist auch Musikerin. Davon hatte sie gerade lange genug abgesehen. Sie schreibt also an diesem Text und ist sich nach dem ersten Rausch klar: Das ist es sicher nicht, was die Auftraggeber lesen wollten. Sie ist sich bewusst: Diese Biografie ist keine Biografie, sondern ein Bericht vom Klang des Werdens hegelschen Denkens, ein Musikstück in Worten.

Sie wendet sich an ihren Mentor, den Philosophen Wolfgang Heise, und beichtet. Der sagt: Schreib weiter! Und als sie zum Ende kommt, wird Heise von der „Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel beim Kulturministerium“, faktisch der Zensurbehörde der DDR, gebeten, ein Gutachten für eine eventuelle Veröffentlichung zu erstellen. Er schreibt in das Gutachten, natürlich auch mit dem Ziel, dass das Buch eine Druckgenehmigung erhalte: „Der literarischen Gattung nach entstand ein Unikum, weder ein philosophischer Essay noch ein historischer Roman … weder Dokumentation noch freie Erfindung … eine Gemüt- und phantasievolle Rekonstruktion eines Lebensmonologs des jungen Hegel …“ Er bescheinigt der Autorin „… die sprachliche Intensität und sprachliche Musikalität des inneren Monologs, einen den jüngeren Generationen verlorenen Zugang zu Hegel.“ Seine Sprache wird plötzlich selbst von der Musik des Textes ergriffen: „Dieser subjektive Weg ist freilich anschaulich nur, insofern das Abstrakte vergegenwärtigt wird: hier die Beziehung von Ich und Welt …“

Vorsichtshalber fügt Heise hinzu, dass es sich hier um Hegels „Verhältnis zur kirchlichen Ideologie und Autorität“ handle. Doch: „Nun ist es freilich noch niemandem hinreichend gelungen in der Wissenschaft, die individuelle Erfahrung der Epoche, vermittelt durch den sozialen Kommunikationszusammenhang und die konkrete Gegenständlichkeit des Erfahrenen zu rekonstruieren.“ Der Autorin, so weiß Heise, ist es gelungen. Doch das spricht er klugerweise nicht aus. Ihre „Darstellung ist ein Versuch, Dialektik nicht nur im Geburtsprozess als Methode der Welterkenntnis, sondern zugleich als Weg, das eigene Verhältnis zur Umwelt und Wirklichkeit produktiv zu gestalten, darzustellen.“

Da Wolfgang Heise in diesen Zeiten einer der wenigen international anerkannten Philosophen aus der DDR ist, hatte die Zensurbehörde wenig Lust auf Streit. Und so tat die Behörde das, was sie in diesem Fall immer tat, sie setzte das Buch auf die Liste der Bücher, für die leider zu wenig Papier da war, ließ tausend Exemplare drucken und vergaß den Fall.

Nun kommt dieses Kleinod wieder in den Druck, so wie es geschrieben wurde. Dieser Text gibt allen eine Chance, die versuchen, Hegel zu verstehen, die versuchen, seinen Entwicklungs­prozess nachzuvollziehen. Hegel ist hier ein ganz junger Mensch, so wie wir, ganz in Zweifel und hin- und hergerissen, getrieben von der Notwendigkeit, beeinflusst von den Stürmen der Welt um ihn herum, so wie wir, auf dem Weg, tätig zu werden, so wie wir …

Hier steht der Text, es gibt keinen besseren Weg. Lesen Sie ihn.

Bernd Floßmann, Berlin im Januar 2019

Als ich einst unmutig war über das Wort: »Alles, was ist, ist vernünftig«, lächelte er sonderbar und bemerkte: »Es könnte auch heißen: ,Alles, was vernünftig ist, muß sein.’« … Dann standen wir des Abends am Fenster, und ich schwärmte über die Sterne, dem Aufenthalt der Seligen. Der Meister aber brümmelte vor sich hin: »Die Sterne sind nur ein leuchtender Aussatz am Himmel.«

Heine, Briefe über Deutschland

… und wir werden staunen und fragen, ob wir es noch seien, wir, die Dürftigen, die wir die Sterne fragten, ob dort uns ein Frühling blühe …

Hölderlin, Hyperion

Was vernünftig ist, wird wirklich, und das Wirkliche wird vernünftig.

Hegel, Vorlesung über »Naturrecht und Staatswissenschaft«, 1819/20

Stuttgart 1770-1789

Ungeprüftes Vertrauen

Manchmal – und nicht nur, wenn es Tag wurde – glaubte er den Weg zu kennen. Manchmal – und nicht nur, wenn er ein Buch fand, das ihn fesselte – meinte er einige Schritte weiter zu gehen, doch machte er, ohne es zu merken, schon bald Schritte zurück. Und nicht nur, wenn er die Berge um Stuttgart bestieg, mußte er Umwege nehmen, viele, die sich erst später als notwendige Wege erwiesen. Als seine Mutter starb, blieb ihm im vierzehnten Lebensjahr nichts übrig, als sich von einer Welt zu trennen, an die er sich gerade erst zu gewöhnen begann.

Ach, diese Trennungen … Er fürchtete sie, lange bevor die Mutter starb; als hätte er geahnt, daß sie ihm wieder und wieder bevorstehen würden, er mit ihnen immer aufs neue zu tun haben werde, ohne vorerst zu wissen, warum.

Manchmal, wenn er in seinem Zimmer war, schloß er die Fenster und wartete, bis die Unruhe aus den Vorhängen wich; bis sie herabfiel und endgültig liegenblieb. Er versuchte alle Spalten abzudecken, die Ritzen zu verstopfen, um auf diese Weise auch die kleinsten Zugänge zu seinem Zimmer zu unterbinden. Denn nur in entschiedenster Abgeschlossenheit glaubte er an manchen Tagen das Maß für seine ihm allein eigenen Unbegrenztheiten nicht zu verlieren. An anderen Tagen, wenn die Mutter entgegen ihrer Gewohnheit abends die Tür zu seinem Zimmer nicht einen Spalt offenstehen ließ, sondern sie richtig schloß, damit die jüngeren Geschwister ihn nicht störten oder der Lärm von Besuchern ihn nicht belästigte, fühlte er sich so allein, so getrennt von den anderen, daß er augenblicklich aufstand und vorsichtig die Tür, die er als Einrichtung nie ganz verstand, wieder öffnete. Danach machte er oft einige Schritte durchs elterliche Haus, unsicher, ob jedes Zimmer mit jedem noch in Verbindung stand. – Grenzüberschreitung von einem Zimmer ins andere, durch Türen, die durch nichts als ihr Vorhandensein beglaubigt schienen. Das war also möglich in der Residenz Württembergs, in der Hegel zu ausgebildeterem Weltverstand gelangen sollte; einem Weltverstand, der – wie man Hegel später nachsagte gekennzeichnet war »durch einen gescheiten Eklektizismus, den er sich angeeignet hatte … durch vielseitigere Kenntnis in der neueren Literatur, besonders der aufklärerischen«,1 zu der er leicht Zugang hatte in der Hauptstadt des Landes.

Frühzeitig konspektiert er Moses Mendelssohn über die Frage »Was heißt aufklären?«, liest Campes Moralkompendien für Kinder, verfolgt die »Berliner Monatszeitschrift«, das Blatt der Berliner Aufklärung. Er stellt Exzerpte über Nicolai zusammen, interessiert sich für Garves Versuch, die deutsche Aufklärung mit der europäischen, insbesondere der französischen und englischen, zu vermitteln. Er liest auch die »Allgemeine Literatur Zeitung« und macht Auszüge, Seiten über Seiten aus Feders neuem »Emil«, dem deutschen Versuch auf Rousseaus Erziehungsroman.

Doch was war mit Hegels Wünschen, die in den Ecken hockten, in Hohlräumen zwischen den Wänden oder unter den Dielen eingeschlossen? Was mit den Träumen, die sich in den Straßen zur Lateinschule stauten oder hilflos zwischen den Bänken kauerten? Was war mit jenen, die zum Wachsen mehr als die Echos der Stuttgarter Berge brauchten?

Wen danach fragen. Seit die Mutter gestorben war, fühlte sich Hegel, ihr ältester Sohn, recht allein. Und überhaupt, was denn fragen, wenn von Hang zu Hang die Himmel steigen und Eisregionen streifen. Wo sich festhalten, wenn danach leichter Erdrutsch erfolgt, den nur er bemerkt. Natürlich, da war noch der Vater. Aber läßt sich denn überhaupt nach Unsagbarem fragen? Beim Vater jedenfalls nicht – soweit wir wissen.

Natürlich, da gab es den Lehrer Löffler, dem Hegels Liebe galt. Und der eben wußte um den Wert der Wissenschaft und den Trost, den sie einem geben kann.2 Ja, das hatte Hegel schon auf dem Gymnasium erfahren. Wissenschaft als Trost. Wofür? Für die Begrenzung des Wirklichen. Als Denkmöglichkeit einer Welt, in der alles weiter wird, in der anderes gilt, wenigstens stundenweise. Als Möglichkeit, Ordnung zu schaffen, nachdem man von sich selbst überhäuft dasitzt und nicht weiter kann, wenn man nicht augenblicklich all die Unmöglichkeiten wieder in sich hinein zu schichten beginnt und sie nach Nebensächlichem und Wichtigem sortiert, wenigstens vorläufig – eben dies hatte Hegel wohl frühzeitig begriffen. Wissenschaft als Möglichkeit, sich über sich selbst hinwegzuheben, auch dann, wenn man bald merkt, daß sie einen nie dort ablegt, wo man sich zuvor befand, sondern tiefer, immer tiefer in irgend etwas ganz Unfertiges treibt. Wissenschaft als Trost für den Zusammenbruch der Träume, die noch gemacht wurden in nicht meßbaren Räumen. Und der Wert der Wissenschaft? Für Hegel bestand er zunächst in der Möglichkeit, Sachkenntnis zu erwerben, um nicht sprachlos zu bleiben oder auf Fragen nur mit Worten reagieren zu müssen, die eigentlich keine Antworten waren.3

 

Denn schon bald hatte er bemerkt, daß das, was wir sagen, meist nur vorläufig ist, daß die Sprache Benennungen erzwingt, die sich allzu schnell verfestigen. Er erwarb ein tiefes Mißtrauen gegen die Gewohnheit, gegen die ererbten Vorstellungen und Meinungen, an denen wir oft grundlos nicht mehr zweifeln, ob sie vielleicht ganz falsch oder nur halbwahr sein könnten.4

Sein Mißtrauen gegen überlieferte Meinungen und überkommene Bräuche war groß. Vielleicht auch deshalb zeigte er bald eine größere Neigung für Geschichte, insbesondere für ihren pragmatischen Teil, also für das, was sich tatsächlich ereignete. Schröckhs »Lehrbuch der allgemeinen Weltgeschichte« gehörte zu seinen bevorzugten Büchern in dieser Zeit, wahrscheinlich auch, weil Schröckhs Buch den Einfluß von Montesquieu nicht von sich weist. Der klare historische Realismus eines Shakespeare begeisterte ihn, aber die durch ihre Innerlichkeit geprägten Oden Klopstocks möchte er auch nicht missen.

Hinauskommen über den äußeren Rand der Wirklichkeit und die neu betretenen Räume beständig machen – wenigstens vorübergehend – um sicherer gehen zu können danach von einer Unbegrenztheit zur anderen. Denn die Gestalt der Räume und auch die Zeit können täuschen, wenn ihr Maß zu sehr von zufälligen Begebenheiten bestimmt wird.5 Vorerst hatte Hegel also Zeit, viel Zeit, um sich mit Gelegenheitsarbeiten: mit Botanik und Anatomie, mit Astronomie und Mathematik, mit Jura und Theologie, mit alten Sprachen, Philosophie und eben Geschichte zu beschäftigen.6 Er verbrachte den größten Teil des Tages mit Büchern. Er lebte bedächtig. Vorsichtig probierte er sich aus. Noch schien ihm alles offen. Seine Gegenwart war lange nicht so liniiert wie die Schulhefte vor ihm auf dem Tisch.

Dabei hatte er wenig Möglichkeiten zu sprechen. Kaum jemand nahm sich Zeit für ihn. So verstand er sich auch später nicht auf viele Worte. Aber er verstand sich mit seinen Büchern. In ihnen sah er sich als großer Redner.

In ihnen stand er mitten in den Schlachten zwischen Theben und Athen, den Orten, wo seine griechischen Helden lebten. Er suchte Zuspruch in alten Handschriften. Er vermaß als Mathematiker und als Geometer fremde Länder. Er reiste gern; er sah sich verstreut im Licht der Sternenbilder. Er sah sich im Wirbel der Größen an Säulen gelehnt, sah sich dann auseinanderbrechen, als Müßiggänger auf großen und kleinen Festen dahin treiben. Danach war er dabei, Lebendiges wie Mauerwerke zusammenzusetzen. Er sah sich wie jeder, der gerade erst anfängt zu leben und dem scheinbar noch alles möglich und offen erscheint.

Doch unmerklich schlich ein Interesse sich ein. Er begann sich Fragen zu stellen, die er nicht mehr vergaß. Fragen, die sich richteten auf das Woher? und das Warum? Hatte er bisher einfach in den Tag hinein gelebt und jeden Tag anderes versucht, war er lange ohne Arg gewesen, so begann er jetzt zu zweifeln – ohne jedoch schon zu erfahren, daß er seinen Zweifeln einmal nicht gewachsen sein könnte. Frühzeitig – vielleicht zu früh – hatte er gelernt, in zwei Welten zu leben, Welten, die zunächst recht verschieden waren, getrennt, jede für sich, Welten, die sich nur selten begegneten. Als Heranwachsender hatte er dann versucht, sich zu teilen in ein Kind, das die Erwachsenen als angenehm akzeptierten, aber das sich nicht selbst dabei verlor. Er unternahm den Versuch, sich unantastbar zu machen, gegen die Anmaßung der Begebenheiten, gegen die Anmaßung der Zufälle, die seinen Weg bestimmen wollten. So hatte er bald gelernt, in mindestens zwei Welten zu operieren. Unmerklich bildeten sich dabei hier und dort Gänge, Übergänge von der einen Welt zur anderen, Verbindungen auf dem schmalen Weg der Abstraktion durch diesen oder jenen Begriff, der nun in beiden Welten galt. Frühzeitig hatte er somit die Fähigkeit gewonnen, Ähnliches am Unähnlichen wahrzunehmen. Das heißt, er hatte gelernt zu abstrahieren, abzusehen von den Unterschieden. Er war geübt in dem Geheimnis, beiseite legen zu können, was nicht dazugehörte in einem bestimmten Augenblick, ohne das Gefühl aufkommen zu lassen, er verliere dabei an Sicht – eine Fähigkeit, die Voraussetzung jeglichen Philosophierens ist. Er hatte gelernt, schon in frühen Jahren das Ungleiche der Dinge zu vergessen, um in einiger Entfernung das Gleiche dieser Dinge zu bemessen.

Während man in Stuttgart die ersten Blitzableiter auf den Dächern montierte und im katholischen Gottesdienst Texte und Melodien evangelischer Gesangbücher einführte; während der Herzog Karl Eugen über den elf Jahre älteren Schiller beschloß: »Bei Kasmation und Festungsstrafe schreibt Er keine Komödie mehr!«; während derselbe Karl Eugen sich vergeblich bemühte, in die eben gegründete Freimaurerloge Stuttgarts aufgenommen zu werden, begann sich Hegel – noch weit entfernt, solche Ereignisse zu registrieren – intensiver mit der Inventur der Jahrhunderte zu beschäftigen. Denn nicht nur Lateinschule und Gymnasium mit ihrem Studium der griechischen und römischen Kultur erinnerten ihn immer wieder daran, daß die Erde schon lange vor dem Entstehen der Stadt Stuttgart bewohnt war; auch der sehr nachhaltige Eindruck, den die Mutter Hegels – der man nachsagte, daß sie eine Frau von viel Bildung gewesen sei – auf ihren Sohn ausübte, beeinflußte sein frühzeitiges historisches Interesse, war sie es doch, die ihn anfangs in Latein unterrichtete und ihm damit erste Einblicke in die Geschichte vermittelte.

Hinzu kam, daß die Ideen Winckelmanns, Lessings und Herders der württembergischen Intelligenz bekannt waren und, auch durch die zweite Frau des Herzogs, die aufklärerische Neigungen hatte, gerade in dieser Zeit stärkere Verbreitung im Land fanden.

Festgelegt durch das, was er nicht wußte, begann Hegel mit Fragen gegen den Alltag anzugehen. Er fragt nach dem Woher und dem Wohin. Er beginnt zu zweifeln an der christlichen Selbstverständlichkeit, in der sein Alltag sich oft verfing. Er ahnt Veränderbarkeit. Doch er scheut alles Direkte. Er fragt noch nicht in seiner Zeit, er fragt bei den Griechen und Römern, warum sein Heute ist, wie es ist.

Festgelegt durch das, was er noch nicht zu artikulieren vermochte, begann er, sein gegenwärtiges Leben – das bisher vornehmlich zwischen den Schulen und der Röderschen Gasse in Stuttgart verlief – in die Vergangenheit hinein zu verlängern. Dabei vergaß er die ihn umgebenden Räume. Er stellte eigenmächtig die Zeit zurück und verwandelte das Dort und Damals in ein Hier und Jetzt, das Hier und Heute in ein Dort und Damals. Er fragte nach dem Weg, den die griechische und römische Religion genommen hatte. Eben dieses Fragen nach dem Weg wird für Hegel charakteristisch werden. Nicht den Griechen oder Römern gilt sein vornehmliches Interesse, sondern der Entwicklung ihres Denkens und ihrer Religion.7 Nicht der konkrete Inhalt der einen oder anderen Richtung interessierte ihn, sondern die charakteristischen Unterschiede zwischen alter und neuer Dichtung sind ihm wichtig.8

Mangel an Erlebnisfähigkeit? Mangel an Naivität? Man sprach von der Altklugheit Hegels in diesen Jahren.

Hegel war viel allein seit dem Tod der Mutter. Und ganz sicher kamen auch zu ihm die Abende, die ihn durch ihre Stille gefangen nahmen und sagten: Wir haben in anderem Halt. Manchmal an solchen Abenden wuchs er hinein in ein eigenes Schweigen, das ihm die Stunden weitete. Vielleicht suchte er auf dem Weg zwischen Athen und Rom auch Geborgenheit.

Noch wartete er auf sich. Und wenn er des Nachts erwachte, fragte er auch: Wer hat all die unterschiedenen Dinge gemacht? Da diese Fragen nicht vergingen, versuchte er, sie sich durch ein Tagebuch näherzubringen, das er zu schreiben begann, als die Mutter starb.

Es kamen Jahre beziehungskarger Zwischenzeiten, sein Einverständnis in ein Alleinsein; zahlreiche Versuche, sich selbst zu erziehen und seine Gefühle als echt deutsches Beamtenkind nach Moralkompendien zu disziplinieren. Denn zu geheimnisvoll schien ihm diese Gewalt, die ihn mitunter durch die Straßen trieb und immer in anderer Gestalt erschien.

Es war diese Zeit, in der noch nicht alles entschieden war. In der er durch erste eigene Sichtung und Ordnungsversuche sich wehren wollte gegen jene Unmenge von Wörtern und Zeichen, die um ihn herumlagen, indem er sie anzuwenden begann. Denn bisher hatte er sie vor allem aufgenommen in sich, die Ideen und Grundsätze, ohne von ihnen rechten Gebrauch machen zu können.9 Sichtung und Ordnen des bisher Gelernten, Angelernten, als Anfang der Beherrschung vieler noch durcheinanderliegender Fakten. War er es doch selbst, der sich frühzeitig – unter anderem – gegen eine Geschichtsbeschreibung wehrte, die »bloß Fakta erzählt« und darüber »den Charakter eines berühmten Mannes, einer ganzen Nation, ihre Sitten, Gebräuche, Religion etc. und die verschiedenen Veränderungen und Abweichungen dieser Stücke von anderen Völkern …« vergaß.10

Man kann diese Zeit als einen Versuch erster Selbstfindung auffassen, als eine Zeit, in der Hegel all die Fremdheiten wieder einfielen, mit denen er doch von Anfang an zu tun hatte. Denn wie in jedem, so steckte auch in seinem Kopf eine Welt, ein Anspruch, der zunächst einmal alles andere ausschloss. Und wenn ihn die Bücher damals überreden konnten, bedächtig zu leben und langsam, schrittweise zu gehen, dann, weil er noch Zeit hatte, bedächtig zu sein. Der gleichmäßige Rhythmus seiner Zeiteinteilung, der kurzfristig von einem Tag auf den anderen zusammengestellte Plan für seinen Normaltag bestätigen es.

Dieser recht gleichbleibende Rhythmus seiner Tage, ihr bedächtiges Tempo führten ihn zurück in die Vergangenheit, in der er Gegenwärtigkeit suchte. Denn noch betrachtete er seine Gegenwart nicht als Hindernis, die in ihrer maßlos scheinenden Ewigkeit vernichtet werden muß. Er begann sie nur auszudehnen, diese Gegenwart, nach hinten zunächst. Dieses interessierte Vertrautsein mit den historischen Dimensionen schärfte seinen später immer wieder konstatierten »enorm historischen Sinn«. Diese selbstauferlegten Übungen, Raum und Zeit auf die von ihm gewünschte Größe auszudehnen, werden auch dazu beigetragen haben, die Relativität seiner Räume und seiner Zeit, trotz all ihrer augenblicklichen Nöte, schon damals zu ahnen.

Deshalb bestand Hegel nie auf der Unvergleichbarkeit seines persönlichen Falles. Er pflegte nicht den Hochmut der Einsamen, auf dem viele seines Alters so hartnäckig bestanden. Er empfand die Klage über die Welt nicht als ein notwendiges Attribut seiner Jugend. Auf ihm lastete die Kette von Pflichten, die seinen Alltag zusammenhielt, nicht als Druck. Ihn packte kein kosmisches Entsetzen bei der Ahnung um die eigene Begrenztheit, keine reißende Verzweiflung, die täglich neu zu betäuben ist.

Aber Hegel weiß von alledem. Denn er will wissen, wie man glücklich wird. Diese Frage setzt zumindest voraus, daß er sein Leben, so wie es abgelaufen war bisher, nicht als den Zustand »wahrer Glückseligkeit« empfand. Wissen wollte er. Nicht – noch nicht – aus Protest, sondern aus dem Verlangen heraus, die Begrenztheit seiner eigenen Existenz sinnvoll aufzuheben. Wissen wollte er, und dieses Wissen von einer Sache, einem Zustand, an deren Erkenntnis oft Generationen gearbeitet hatten, war doch schon eine Möglichkeit, seine eigene Begrenztheit aufzuheben, eine Möglichkeit, sich dauerhafter in die Welt zu weben. Wissen, Erkenntnis als Regelsystem, als Dämpfer gegenüber all den Unmöglichkeiten – die nicht nur nachts in ihm aufkamen – das war es, worauf er zeitig recht hartnäckig bestand. Zunächst einmal festhalten die paar Gewissheiten, um nicht Einbildungen zu unterliegen, dann verallgemeinern und sich ein Urteil bilden. Das war seine Art schon auf dem Gymnasium, sich dem Leben zu nähern. Und mit dem Maß eines Fünfzehnjährigen reflektiert er über das Glück: »Alle Menschen haben die Absicht, sich glücklich zu machen. Von einigen seltenen Ausnahmen, die, um andere glücklich zu machen, so viel Erhabenheit der Seele besaßen, sich aufzuopfern.« Doch diese wenigen, so glaubte er, haben »nicht wahre Glückseligkeit aufgeopfert, sondern nur zeitliche Vorteile, zeitliches Glück, auch Leben. Diese machen also hier keine Ausnahme.« Zeitliche Vorteile, zeitliches Glück, mit der vierten Dimension verstand Hegel schon umzugehen. Doch bevor er weiter nachdenkt über das, was für die Menschen, Glück bedeutet – bedeuten könnte – mußte er zunächst »den Begriff von Glückseligkeit festsetzen, ich verstehe darunter einen11 …«, er brach ab. Unordnung des Geistes war ihm verdächtig. Er ahnte Liederlichkeit.

 

Was folgte, war kein Entwurf für übermorgen, keine Skizze visionärer Gedanken, die das Hier und Heute nicht ertragen, kein Grundriß zum Verwurf der ordinären Gegenwart mit all ihren Verordnungen und Sackgassen. Es folgte Verständigung, Selbstverständigung, zunächst über seine Ratgeber, mit denen er über den Begriff Glück reflektieren will. Und danach? Folgte Verständigung nicht mit den Bergen, die ihm ja doch nur das zurückbrachten, was er ihnen zurief. Er suchte das Gespräch, nicht mit den Vögeln, denen er ja doch nur in imaginären Flügen hätte folgen können, bis er im Irgendwo abgestürzt wäre. Er suchte Verständigung mit den Gedanken, den Gedanken der Aufklärung durch Wissenschaft und Kunst.12 Diese Form der Verständigung schien ihm verläßlicher. Die Flugrichtung der Gedanken schien ihm korrigierbarer, auch fallsicherer, wenn die Luft schneidend wurde, wenn ihm die Worte vernichtet schienen, mit denen er die Gedanken einfangen wollte. Solche Gedankenflüge konnte er weitgehend selbst bestimmen, selbst abbrechen, andere versuchen oder notfalls auch ganz unterlassen.

Erst begreifen, dann erleben, im Begreifen erleben, im Erleben schon begreifen, auf jeden Fall vorsichtig, überlegt erleben und all die Unzumutbarkeiten zurückweisen; sich nicht irremachen lassen von der Fülle unmittelbarer Erlebnisse, von der Fülle der Einzelheiten, die das Ich Minute für Minute registriert, für die es aber oft Stunden, Tage oder gar Wochen braucht, um alle Eindrücke im einzelnen zu verarbeiten.

Woher diese Bedächtigkeit bei Hegel? Ökonomie der Gefühle? Vielleicht sollte man von einer gewissen Scheu gegenüber aller Unmittelbarkeit sprechen, vom Zurückweichen vor allem aufdringlich Direkten, entstanden aus seinen bisherigen Lebensumständen. Denn sicher ist, daß seine häusliche Erziehung stark durch intellektuelle Wertungen geprägt war.

Die Mutter liebte ihn besonders, weil er gut lernte. Sicher ist, daß nach dem Tode der Mutter der Vater wenig Zeit hatte, sich neben der Arbeit – als Rentkammerrat und späterer Expeditionsrat unter Herzog Karl Eugen – intensiv mit den zwei Söhnen Georg Wilhelm Friedrich und Georg Ludwig sowie der Tochter Christiana Louisa zu beschäftigen. Hegel wurde frühzeitig zu Privatlehrern geschickt, weil der Vater um eine allseitige Ausbildung des Sohnes besorgt war. Verbürgt ist, daß der mehr durch Fleiß als durch sichtbare Genialität auffallende Musterschüler Hegel viel Zeit zum Lernen benötigt hat. Nicht, daß er nicht spielte. Nicht, daß er nicht gern spazierenging.

Mit viel Vergnügen spazierte er in der Umgebung Stuttgarts, aber mit ebenso viel Freude ging er über die Seiten der Bücher. Das Lesen in der herzoglichen Bibliothek, die mittwochs und samstags der Öffentlichkeit zugänglich war, notierte er als besonderes Ereignis.13 So hatte er vornehmlich gelernt, mit Büchern, Exzerpten, Enzyklopädien und Zeitschriften umzugehen, wohl auch deshalb, weil insbesondere nach dem Tode der Mutter kaum einer mit ihm umging. Hegels Unbeholfenheit in anderen Lebensbereichen, die von seinen Biographen und Zeitgenossen wieder und wieder konstatiert wurde, dürfte auch in dieser recht einseitigen Beschäftigung ihren Grund finden. So sagt man, er sei nicht nur im Tanzunterricht äußerst linkisch gewesen; das Anschauen schöner Mädchen habe ihm lange für eine angenehme Unterhaltung mit Freunden ausgereicht.

Gelernt hatte er also, sich mit Büchern zu verständigen, wohl auch deshalb, weil sich kaum jemand sonst mit ihm verständigen wollte. Und als er sich dann verständigen konnte, als er seine Probleme zu artikulieren vermochte, sprach er sie nicht mehr direkt aus, sondern vermittelt durch die Reflektion des Gelesenen, das ihm Vorbegriff, Vorklärung des noch zu Klärenden bedeutete. Gelernt hatte er somit, von seiner augenblicklichen Umwelt abzusehen, von ihr zu abstrahieren, wohl auch deshalb, weil sie oft genug von ihm absah, absehen mußte …

Im Abstrahieren zeitig geübt, hat Hegel das Herabsetzende allen Generalisierens nie wirklich gescheut. Wenn er begann, aus vielen Dingen eines zu machen, war er von der Gleichsetzung so unterschiedlicher Sachen nie wirklich enttäuscht. Zeiten stummer Zwiesprache hatten ihn gelehrt, daß man mit diesem Gleichsetzen die Ereignisse und Dinge auch auf Distanz bringen kann. Und Abstand zu dem Geschehen um ihn herum, das war es, worauf er frühzeitig bestand. Das ist es, was er möchte, denn noch bevor er das Wort Vorsicht richtig kannte, scheute er alles Direkte. Ja, er bevorzugt die Mitte zwischen dem unmittelbaren Geschehen und dem schon in der Reflektion Gesehenen. Er sucht nach den Zonen, wo sich Ereignis und Wort noch bewegen, das Denken aber über das,Geschehen schon seine Ringe legt. Er bevorzugt das Dazwischen-Entstandene.

Im Abstrahieren und Generalisieren geübt zu sein bedeutet aber auch, die Subsumtion und Einreihung unter ein Allgemeines nicht zu scheuen oder ihr zumindest nicht abgeneigt gegenüberzustehen. Georg Wilhelm Friedrich Hegel stammt aus einer in Stuttgart angesehenen Beamtenfamilie, der von der altwürttembergischen Bürokratie Titel verliehen worden waren, die den Vater schließlich zur höheren Beamtenschaft zählen ließen. Dabei war der Vater nicht irgendein Beamter, der den Herzog zu rühmen hatte. Der Vater war als Rentkammerrat und später als Expeditionsrat ein Fachbeamter, der sich durch Sachkenntnis in Steuer- und Finanzfragen auszuzeichnen hatte. Es ist daher nicht erstaunlich, daß im elterlichen Hause einfach bürgerliche Wohlhabenheit und Ordnung herrschte, auch dann, wenn diese Wohlhabenheit nicht allzu groß war, so daß Hegel für sein späteres Studium ein herzogliches Stipendium erbitten mußte. Es war noch eine karge Wohlhabenheit, die aber im Falle der Hegelschen Familie ein schon über mehrere Generationen sich herausgebildetes Selbstbewußtsein reproduzierte, das sich zweifelsohne auf den jungen Hegel ausgewirkt haben dürfte – der schon immer etwas Gestandenes in seinem Wesen hatte, wie man bald in Tübingen über ihn zu sagen weiß.

Diese bürgerliche Ordnung, die im Elternhaus herrschte, diese selbstverständliche Übereinstimmung mit Kirche und Staat Württembergs übertrug sich auf den jungen Hegel, in ihrer Selbstverständlichkeit und Einfachheit wuchs er auf. Sie dürfte viel zu seiner auch in späteren Jahren konstatierbaren bourgeoisen Ruhe und Überlegenheit beigetragen haben. Denn es ist ja ein recht bedeutsamer Unterschied, ob man in bürgerliche Verhältnisse hineingeboren wird – so verkümmert sie auch waren im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation – oder ob man sich – wenn überhaupt – diese Verhältnisse erst nach langem Ringen erkämpft hat. Für den sozialen Status Hegels war es ganz natürlich, daß ihm der Hof und die Politik frühzeitig nahegebracht wurde. Für die Beamtenfamilie Hegel war es noch selbstverständlicher, daß sie mit dem Hof und seiner Politik im wesentlichen übereinstimmte, war der Vater doch »Gott sei Dank« Staatsbeamter, und als solcher hatte er seine Pflicht zu tun, wie es sich gehörte, ohne Ansehen der Person, im Interesse der sogenannten Allgemeinheit, dafür aber im Absehen von seiner Person.

So ist es auch nicht erstaunlich, daß Hegel, der in Stuttgart noch keine offenen Konflikte mit dem Elternhaus hatte, frühzeitig lernte, vom Vater lernte, seine individuellen Interessen, Nöte und Sorgen allgemeinen Pflichten unterzuordnen. In dem Beamtenmilieu der Familie Hegel hörte er, was wichtig werden sollte später, für seine eigene Philosophie: daß sich der Einzelne einzuordnen habe mit seinen Interessen und Wünschen in das Interesse der Allgemeinheit, das der Vater vertrat und als Staatsbeamter mit durchzusetzen half. Hegel sah, wie die württembergische Bevölkerung durch Belehrungen und Erklärungen gelenkt werden sollte und wie die Regierung abzuwägen hatte ihre Forderungen, selbst wenn sie nicht wollte. Es überrascht nicht, daß Hegel seine Umwelt keineswegs als eine ungeheure Fehlleistung betrachtete, als eine unzutreffende Parodie, die er beseitigt wissen wollte. Er nahm es – wie jedes Kind – zunächst als normal hin, daß seine Eltern zu den »ehrenwerten Bürgern der Stadt Stuttgart« gehörten. Und da man in dieser Familie ganz sicher mehr von Pflichten als von Neigungen sprach, versuchte Hegel, seine Neigungen zu zügeln bzw. sich in Konfliktsituationen in Zweifelsfällen für die Pflicht zu entscheiden. Noch war er ein echtes Kind württembergischer Beamtenverhältnisse, das den Herzog verehrte und es als ein Glück empfand, ausgerechnet in seinem Staate geboren zu sein; noch war er vom Ruhm und der Größe seines Landesvaters überzeugt, den auch die »Nachwelt noch bewundern und segnen wird«, allein schon, weil er durch die Einrichtung der Schule, die Hegel besuchen durfte, »dem Staat für seine Bedürfnisse brauchbare und nützliche Mitglieder« erzog, wie Hegel in der Schülerrede beim Abgang vom Gymnasium zu sagen weiß.14 Man behaupte nicht, daß Erziehung nicht auch frühzeitig festzulegen vermag, was Kinder als Signale für Glück registrieren. Noch war er der sogenannte gute Schüler, der durch Intelligenz versprach, ein brauchbares Instrument des württembergischen Staates zu werden; dafür bekam er dann sein herzogliches Stipendium.

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