Das Gehirn eines Buddha

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Denn wenn das Gehirn die Ursache für das Leiden ist, kann es auch dessen Heilmittel sein.

Tugend, Achtsamkeit und Weisheit

Vor über zweitausend Jahren verbrachte ein junger Mann namens Siddhartha Gautama – noch nicht erleuchtet und noch nicht der Buddha genannt – viele Jahre damit, seinen Geist und folglich sein Gehirn zu trainieren. In der Nacht seines Erwachens sah er tief in seinen Geist hinein (der die ihm zugrunde liegenden Aktivitäten seines Gehirns widerspiegelte und zum Vorschein brachte) und sah dort sowohl die Ursachen des Leidens als auch den Weg zur Leidensfreiheit. Anschließend wanderte er vierzig Jahre lang durch Nordindien und lehrte allen, die ihm zuhörten, wie man

• die Feuer der Habgier und des Hasses kühlt, um integer zu leben

• den Geist festigt und konzentriert, um durch seine Verwirrungen hindurchzusehen

• befreiende Erkenntnis entwickelt

Kurz, er lehrte Tugend, Achtsamkeit (auch Konzentration genannt) und Weisheit. Dies sind die drei Säulen der buddhistischen Praxis sowie die Quellen täglichen Wohlbefindens, psychologischen Wachstums und Erkenntnis.

Tugend bedeutet einfach, dass man seine Handlungen, Worte und Gedanken reguliert, um sich selber und anderen Nutzen statt Schaden zu verschaffen. In unserem Gehirn stützt sich Tugend auf die Top-Down-Kontrolle des präfrontalen Kortex (PFC); „präfrontal“ steht für die vordersten Regionen des Gehirns, eben hinter und über der Stirn, und Ihr „Kortex“ (nach dem lateinischen Wort „Cortex“ für „Rinde“) ist die äußere Schicht des Gehirns. Tugend ist auch auf Beruhigung durch das parasympathische Nervensystem nach dem Bottom-up-Verfahren und auf positive Emotionen aus dem limbischen System angewiesen. In Kapitel 5 werden Sie lernen, wie Sie mit dem Schaltkreis dieser Systeme arbeiten können. Weiterhin werden wir die Tugend im Rahmen von Beziehungen untersuchen, da sie dort am häufigsten in Frage gestellt wird, und dann auf dieser Grundlage aufbauen, um die Gehirnzustände Empathie, Güte und Liebe zu nähren (siehe Kapitel 8, 9 und 10).

Achtsamkeit beinhaltet die geschickte Nutzung der Aufmerksamkeit, die Sie auf Ihre innere und auf Ihre äußere Welt richten. Da Ihr Gehirn hauptsächlich von dem lernt, dem Sie Ihre Aufmerksamkeit widmen, ist Achtsamkeit die Tür zur Aufnahme guter Erfahrungen sowie dazu, sie zu einem Teil Ihrer selbst zu machen (das „Wie“ werden wir in Kapitel 4 erörtern). Wir werden Möglichkeiten, die Gehirnzustände zu aktivieren, die Achtsamkeit fördern – bis zum Punkt tiefer meditativer Versenkung –, in den Kapiteln 11 und 12 untersuchen.

Weisheit ist angewandte Vernunft, die man in zwei Schritten gewinnt. Als Erstes verstehen Sie, was hilft und was schadet – mit anderen Worten die Ursachen des Leidens und den Weg zu seinem Ende (dies ist der Schwerpunkt in Kapitel 2 und 3). Dann, auf der Basis dieses Verständnisses, lassen Sie die Dinge los, die schaden, und stärken die, die helfen (Kapitel 6 und 7). Als Folge davon fühlen Sie mit der Zeit eine größere Verbundenheit mit allem, eine größere Gelassenheit angesichts dessen, dass alles sich verändert und ein Ende hat, und eine größere Fähigkeit, Freude und Schmerz zu begegnen, ohne nach dem einen zu greifen und sich mit dem anderen herumzuquälen. In Kapitel 13 schließlich geht es um die vielleicht verführerischste und subtilste Herausforderung, der die Weisheit gegenübersteht: dem Gefühl, ein Selbst zu sein, das von der Welt getrennt und dieser ausgesetzt ist.

Regulation, Lernen und Selektion

Tugend, Achtsamkeit und Weisheit werden durch die drei grundlegenden Funktionen des Gehirns unterstützt: Regulation, Lernen und Selektion. Ihr Gehirn reguliert sich selber – und andere Körpersysteme – durch eine Kombination aus exzitatorischer und inhibitorischer Aktivität: grüne Lichter und rote Lichter. Es lernt durch das Bilden neuer und das Stärken oder Schwächen bereits bestehender Schaltkreise. Und es selektiert, was immer die Erfahrung es gelehrt hat wertzuschätzen; zum Beispiel kann selbst einem Regenwurm beigebracht werden, einen bestimmten Weg zu wählen, um einem Elektroschock zu entgehen.

Diese drei Funktionen – Regulation, Lernen und Selektion – arbeiten auf allen Ebenen des Nervensystems, angefangen beim komplizierten molekularen Tanz an der Spitze einer Synapse und bis hin zu der das gesamte Gehirn einbeziehenden Integration von Kontrolle, Kompetenz und Urteilsvermögen. Alle drei Funktionen sind an jeder wichtigen geistigen Aktivität beteiligt.

Gleichwohl korrespondiert jede Säule der Praxis ziemlich eng mit einer dieser grundlegenden neuronalen Funktionen. Die Tugend ist stark auf die Regulation angewiesen, um positive Neigungen zu stimulieren und negative zu hemmen. Achtsamkeit führt zu neuem Lernen – da Aufmerksamkeit neuronale Schaltkreise prägt – und sorgt dadurch, dass sie sich auf in der Vergangenheit Gelerntes stützt, für die Entwicklung eines stabileren und konzentrierteren Gewahrseins. Weisheit ist eine Sache des Treffens von Entscheidungen, wie der, geringere Freuden zugunsten größerer loszulassen. Dementsprechend ist die Entwicklung von Tugend, Achtsamkeit und Weisheit in Ihrem Geist auf eine Verbesserung der Regulation, des Lernens und der Selektion in Ihrem Gehirn angewiesen. Das Stärken der drei neuronalen Funktionen – wie dies geht, werden Sie auf den kommenden Seiten lernen – stützt folglich die Säulen der Praxis.

Den Geist neigen

Wenn Sie den Pfad des Erwachens einschlagen, beginnen Sie, wo immer Sie sind. Dann – mit der Zeit, mit Anstrengung und mit geschickten Mitteln – werden Tugend, Achtsamkeit und Weisheit allmählich stärker und Sie fühlen sich glücklicher und spüren mehr Liebe in sich. In einigen Traditionen wird dieser Prozess als Aufdeckung der wahren Natur beschrieben, die immer vorhanden war; in anderen spricht man von einer Transformation von Geist und Körper. Selbstverständlich stützen diese Aspekte des Pfades des Erwachens sich gegenseitig.

Einerseits ist Ihre wahre Natur ein Zufluchtsort und eine Ressource für die bisweilen schwierige Arbeit des psychologischen Wachstums und der spirituellen Praxis. Es ist eine bemerkenswerte Tatsache, dass die Menschen, die am allertiefsten in den Geist vorgedrungen sind – die Weisen und Heiligen einer jeden religiösen Tradition –, im Grunde alle dasselbe sagen: Unsere grundlegende Natur ist rein, bewusst, friedlich, strahlend, liebend und weise, und sie ist auf mysteriöse Arten und Weisen mit der eigentlichen Basis der Realität verbunden, welchen Namen wir dieser auch immer geben. Mag Ihre wahre Natur auch gegenwärtig hinter Stress und Sorge, Wut und unerfüllten Sehnsüchten verborgen liegen, so existiert sie doch weiterhin. Dies zu wissen, kann ein großer Trost sein.

Andererseits ist das Arbeiten mit dem Geist und dem Körper zur Förderung der Entwicklung dessen, was gesund ist – und zum Ausmerzen dessen, was es nicht ist –, bei jedem Weg zu psychologischem oder spirituellem Wachstum von zentraler Bedeutung. Auch wenn es bei der Praxis darum geht, die die wahre Natur verbergenden „Verdunkelungen zu beseitigen“ – um einen Ausdruck aus dem tibetischen Buddhismus zu verwenden –, ist deren Ausräumung doch ein fortschreitender Prozess der Übung, Reinigung und Transformation. Paradoxerweise braucht es Zeit, zu werden, was wir bereits sind.

In jedem Fall spiegeln diese Veränderungen im Geist – durch die eine dem Menschen inhärente Reinheit sichtbar gemacht und gesunde Eigenschaften kultiviert werden – Veränderungen im Gehirn wider. Durch das bessere Verständnis dessen, wie das Gehirn funktioniert und sich verändert – wie es emotional überwältigt wird oder in einen Zustand ruhiger Tugend einkehrt; wie es Ablenkbarkeit verursacht oder achtsame Aufmerksamkeit begünstigt; wie es schädliche oder weise Entscheidungen trifft –, können Sie eine größere Kontrolle über Ihr Gehirn und damit über Ihren Geist erlangen. Dies lässt die Entwicklung größeren Wohlbefindens, größerer Warmherzigkeit und größerer Einsicht einfacher und fruchtbarer werden und hilft Ihnen dabei, so weit Sie irgend können auf Ihrem eigenen Pfad des Erwachens voranzukommen.

Auf seiner eigenen Seite sein

Es ist ein genereller moralischer Grundsatz, dass unsere Pflicht, die Macht, die wir über jemanden haben, wohlwollend zu gebrauchen, umso größer ist, je mehr Macht wir über diesen Menschen haben. Nun, wer ist die eine Person auf der Welt, über die Sie die größte Macht haben? Es ist Ihr zukünftiges Selbst. Sie halten dieses Leben in Ihren Händen, und was daraus wird, hängt davon ab, wie Sie sich darum kümmern.

Eines der zentralen Erlebnisse meines Lebens geschah eines Abends in der Zeit um Thanksgiving, als ich etwa sechs Jahre alt war. Ich erinnere mich daran, dass ich gegenüber von unserem Haus auf der anderen Straßenseite stand, am Rande von Maisfeldern in Illinois, und in der dunklen Erde Furchen voller Wasser von kurz zuvor gefallenem Regen sah. Auf den fernen Hügeln funkelten winzige Lichter. Ich fühlte mich ruhig und klar und war traurig über die an jenem Abend bei mir zu Hause herrschende Bedrücktheit. Dann kam es mir in aller Stärke: Es war an mir, an niemandem anders, mit der Zeit meinen Weg in Richtung dieser fernen Lichter und der Möglichkeit von Glück zu finden, die sie repräsentierten.

Ich vergesse diesen Augenblick deshalb nicht, weil er mich etwas darüber gelehrt hat, worüber wir die Kontrolle haben und worüber nicht. Es ist unmöglich, die Vergangenheit oder die Gegenwart zu ändern: Wir können das alles nur so akzeptieren, wie es ist. Aber wir können uns um eine bessere Zukunft kümmern. Die meisten Wege, dies zu tun, sind klein und bescheiden. Um an späterer Stelle in diesem Buch auftauchende Beispiele zu nehmen: Sie könnten in einer angespannten Besprechung einmal sehr tief einatmen, um eine lange Ausatmung zu forcieren und so das beruhigende parasymphatische Nervensystem (PNS) zu aktivieren. Oder erinnern Sie sich, wenn Sie an ein schlimmes Erlebnis denken, an das Gefühl, mit jemandem zusammen zu sein, der Sie liebt – dies wird die schlimme Erinnerung allmählich mit einem positiven Gefühl durchdringen. Oder verlängern Sie, um Ihren Geist zur Ruhe zu bringen, bewusst Glücksgefühle; hierdurch werden die Werte des Neurotransmitters Dopamin erhöht, was Ihnen dabei hilft, fokussierte Aufmerksamkeit zu bewahren.

 

Mit der Zeit bringen diese kleinen Maßnahmen in der Summe wirklich viel. Jeden Tag beinhalten ganz gewöhnliche Aktivitäten – sowie sämtliche dem persönlichen Wachstum dienende oder spirituelle Übungen – Dutzende von Gelegenheiten, das Gehirn von innen nach außen zu verändern. Sie haben wahrhaft diese Macht, was in einer Welt voller Kräfte, die jenseits Ihres Einflusses liegen, eine wunderbare Sache ist. Ein einziger Regentropfen bewirkt nicht viel, wenn Sie aber ausreichend viele Tropfen und genügend Zeit haben, können Sie einen Grand Canyon auswaschen.

Um diese Schritte tun zu können, müssen Sie jedoch auf Ihrer Seite sein. Das ist möglicherweise am Anfang nicht ganz einfach; die meisten Menschen bringen sich selber weniger Güte entgegen als anderen. Um sich selbst auf Ihre Seite zu bekommen, kann es nützlich sein, überzeugende Gründe dafür zu liefern, dass Sie sich um Dinge kümmern, die Ihr Gehirn zum Besseren hin verändern. Bedenken Sie bitte zum Beispiel diese Tatsachen:

Sie waren einst ein kleines Kind und der Fürsorge genauso würdig wie ein jedes andere. Können Sie sich selber als Kind sehen? Würden Sie dieser kleinen Person nicht das Beste wünschen? Dasselbe gilt heute: Sie sind ein Mensch wie jeder andere – und verdienen in gleichem Maße Glück, Liebe und Weisheit. Das Vorankommen auf Ihrem Pfad des Erwachens wird Ihre Effektivität bei der Arbeit und in Ihren Beziehungen erhöhen. Bedenken Sie, auf wie viel Art und Weise andere davon profitieren werden, dass Sie besser gelaunt, warmherziger und klüger sind. Die Förderung der eigenen Entwicklung ist keine eigennützige Sache. Sie ist in Wahrheit ein großes Geschenk, das man anderen Menschen macht.

Die Welt auf der Schneide eines Schwertes

Das Wichtigste ist vielleicht, dass Sie an die kleinen Wellen denken, die von Ihrem eigenen Wachstum ausgehen und unmerklich, aber wahrhaft einer Welt voller Habgier, Verwirrung, Furcht und Wut helfen werden. Unsere Welt balanciert auf der Schneide eines Schwertes und könnte zu beiden Seiten kippen. Einerseits sehen wir auf dem gesamten Planeten langsam, aber sicher eine zunehmende Demokratisierung, eine wachsende Zahl an Basisorganisationen und ein größeres Verständnis unseres fragilen Miteinander-Verbundenseins. Andererseits erwärmt sich die Erde, militärische Technologien werden zunehmend tödlich und eine Milliarde Menschen gehen jeden Abend hungrig schlafen.

Die Tragik und die Chance dieses Zeitpunkts in der Geschichte sind exakt die gleichen: Die natürlichen und technischen Ressourcen, die notwendig sind, um uns vom Abgrund zurückzuziehen, existieren bereits. Das Problem ist nicht ein Mangel an Ressourcen. Es ist ein Mangel an Wille und Beherrschung, an Aufmerksamkeit für das, was wirklich geschieht, und an einem aufgeklärten Eigeninteresse, von dem alle Seiten profitieren – mit anderen Worten ein Zuwenig an Tugend, Achtsamkeit und Weisheit.

Wenn Sie und andere Menschen zunehmend geschickt im Umgang mit dem Geist – und damit dem Gehirn – werden, könnte dies dabei helfen, unsere Welt in eine bessere Richtung zu lenken.

KAPITEL 1Hauptpunkte

• Was in Ihrem Geist passiert, verändert Ihr Gehirn, sowohl vorübergehend als auch dauerhaft; Neuronen, die gemeinsam feuern, verdrahten sich. Und was in Ihrem Gehirn geschieht, verändert Ihren Geist, da das Gehirn und der Geist ein einziges, integriertes System sind.

• Deshalb können Sie Ihren Geist dafür verwenden, Ihr Gehirn zu verändern, um Ihrem Geist Nutzen zu bringen – und jedem anderen Menschen, dessen Leben Sie berühren.

• Menschen, die sich tief in die Übungen der kontemplativen Traditionen versenkt haben, sind die „Olympiaathleten“ des Geistes. Lernt man, wie sie ihren Geist (und folglich ihr Gehirn) trainiert haben, offenbaren sich machtvolle Wege zum Erreichen von mehr Glück, Liebe und Weisheit.

• Das Gehirn entwickelte sich, um Ihnen beim Überleben zu helfen, doch bewirken seine drei hauptsächlichen Überlebensstrategien auch, dass Sie leiden.

• Tugend, Achtsamkeit und Weisheit sind die Säulen, auf denen tägliches Wohlbefinden, persönliches Wachstum und spirituelle Praxis ruhen; sie stützen sich auf die drei grundlegenden neuronalen Funktionen Regulation, Lernen und Selektion.

• Der Pfad des Erwachens umfasst sowohl die Transformation des Geistes/Gehirns als auch das Aufdecken der wunderbaren wahren Natur, die schon immer da war.

• Tägliche kleine, positive Maßnahmen summieren sich mit der Zeit zu großen Veränderungen, weil Sie Schritt für Schritt neue neuronale Strukturen aufbauen. Um am Ball zu bleiben, müssen Sie auf Ihrer Seite sein.

• Gesunde Veränderungen in den Gehirnen vieler Menschen könnten dabei helfen, die Welt in eine bessere Richtung zu lenken.

TEIL EINS

Die Ursachen des Leidens

KAPITEL 2

Die Evolution des Leidens

Nichts in der Biologie ergibt einen Sinn,

außer im Lichte der Evolution.

THEODOSIUS DOBZHANSKY

Vieles am Leben ist wunderbar, aber es hat auch seine harten Seiten. Schauen Sie sich die Gesichter um Sie herum an – wahrscheinlich sehen Sie ziemlich viel Anspannung, Enttäuschung und Sorge. Und Sie kennen auch Ihre eigenen Frustrationen und Sorgen. Die Schmerzen des Lebens reichen von subtiler Einsamkeit und Bestürzung über Stress, Schmerz und Wut in moderatem Ausmaß bis hin zu starkem Trauma und heftiger Qual. Dieses ganze Spektrum ist es, was wir mit dem Wort Leiden meinen. Vieles Leiden ist mild, aber chronisch, wie zum Beispiel Hintergrundgefühle der Angst, Reizbarkeit oder des Fehlens von Erfüllung. Es ist normal, weniger davon zu wollen. Und stattdessen mehr Zufriedenheit, Liebe und Frieden.

Zur Verringerung eines jeden Problems muss man dessen Ursachen verstehen. Dies ist der Grund dafür, warum schon immer alle großen Ärzte, Psychologen und spirituellen Lehrer meisterhafte Diagnostiker waren. Beispielsweise identifizierte der Buddha in seinen Vier Edlen Wahrheiten ein Übel (Leiden), diagnostizierte seine Ursache (Verlangen: ein überwältigendes Gefühl des Bedürfnisses nach etwas), gab ein Heilmittel an (Freiheit von Verlangen) und verordnete eine Behandlung (den Achtfachen Pfad).

Dieses Kapitel untersucht das Leiden im Lichte der Evolution, um seine Ursprünge in unserem Gehirn zu erkennen. Wenn Sie verstehen, warum Sie sich nervös, verärgert, bedrängt, getrieben, traurig oder unzulänglich fühlen, haben diese Gefühle weniger Macht über Sie. Dies allein kann schon Erleichterung bringen. Ihr diesbezügliches Verständnis wird Ihnen auch dabei helfen, besseren Gebrauch von den „Rezepten“ im weiteren Teil dieses Buches zu machen.

Das sich entwickelnde Gehirn

• Das Leben begann vor rund 3,5 Milliarden Jahren. Mehrzellige Wesen tauchten erstmals vor etwa 650 Millionen Jahren auf. (Denken Sie, wenn Sie sich erkälten, daran, dass Mikroben einen Vorsprung von beinah drei Milliarden Jahren haben!) Als vor etwa 600 Millionen Jahren die allererste Qualle auftauchte, waren Tiere mittlerweile so komplex geworden, dass ihre sensorischen und motorischen Systeme miteinander kommunizieren mussten; so erklären sich die Anfänge des Nervengewebes. Während die Tiere sich entwickelten, entwickelten sich auch ihre Nervensysteme, die langsam eine zentrale Leitstelle in Form eines Gehirns hervorbrachten.

• Die Evolution baut auf bereits vorhandenen Fähigkeiten auf. Die Weiterentwicklung des Lebens lässt sich in Ihrem eigenen Gehirn sehen: in Form dessen, was Paul MacLean (1990) als die reptilische, paläo-mammmalische und neo-mammmalische Entwicklungsstufe bezeichnete (siehe Abbildung 2; alle Abbildungen sind ein wenig ungenau und dienen lediglich der Veranschaulichung).

• Relativ neues, komplexes, konzeptualisierendes, langsames und motivational diffuses kortikales Gewebe sitzt auf subkortikalen Strukturen und Strukturen des Hirnstamms, die uralt, einfach, konkret, schnell und motivational stark sind. (Die subkortikale Region liegt in der Mitte Ihres Gehirns, unter dem Kortex und auf dem Hirnstamm; der Hirnstamm korrespondiert ungefähr mit dem „reptilischen Gehirn“, das in Abbildung 2 zu sehen ist.) Während Sie durch den Tag gehen, sitzt in Ihrem Kopf eine Art Eidechsen-Eichhörnchen-Affen-Gehirn, das in einem von unten nach oben verlaufenden Prozess Ihre Reaktionen formt.

• Trotzdem hat der moderne Kortex großen Einfluss auf den Rest des Gehirns und ist durch den Druck der Evolution dahin gehend geprägt worden, dass er beim Menschen die sich ständig verbessernden Fähigkeiten entwickelt hat, Kinder großzuziehen, sich zu binden, zu kommunizieren, zu kooperieren und zu lieben (Dunbar und Shultz 2007).

• Der Kortex ist in zwei „Hemisphären“ unterteilt, die durch den Balken miteinander verbunden sind. Im Verlauf unserer Evolution konzentrierte sich die linke Hemisphäre (bei den meisten Menschen) allmählich auf sequenzielle und sprachliche Verarbeitung, während sich die rechte Hemisphäre auf holistische und visuell-räumliche Verarbeitung spezialisierte; selbstverständlich arbeiten die beiden Hälften Ihres Gehirns eng zusammen. Viele neuronale Strukturen werden dupliziert, so dass es in jeder Hemisphäre eine gibt; nichtsdestoweniger ist es üblich, von einer Struktur im Singular zu sprechen (z. B. der Hippocampus).


Abb. 02 Das sich entwickelnde Gehirn

Drei Überlebensstrategien

Über Hunderte von Millionen von Jahren der Evolution hinweg entwickelten unsere Vorfahren drei grundlegende Überlebensstrategien:

• das Schaffen von Trennungen – um Grenzen zwischen sich selbst und der Welt sowie zwischen unterschiedlichen Geisteszuständen zu bilden

• das Bewahren von Stabilität – um körperliche und geistige Systeme in einem gesunden Gleichgewicht zu halten

• das Sichnähern an Chancen und das Meiden von Bedrohungen – um Dinge zu bekommen, die Nachwuchs begünstigen, und solchen, die es nicht tun, zu entkommen oder standzuhalten

Diese Strategien sind für das Überleben schon immer außerordentlich effektiv gewesen. Aber Mutter Natur ist es gleich, wie sie sich anfühlen. Um Tiere (einschließlich Menschen) dazu zu motivieren, diese Strategien zu befolgen und ihre Gene weiterzugeben, entwickelten sich neuronale Netzwerke, die unter bestimmten Bedingungen Schmerz und Leid schaffen: wenn Trennungen sich auflösen, die Stabilität ins Wanken gerät, Chancen enttäuschen und Bedrohungen auftauchen. Unglücklicherweise kommt es ständig zu diesen Bedingungen, weil:

• alles miteinander verbunden ist

• alles sich unaufhörlich verändert

• Chancen regelmäßig unerfüllt bleiben oder ihren Glanz verlieren und viele Bedrohungen unausweichlich sind (z. B. Altern und Tod)

Sehen wir uns an, wie all dies Sie zum Leiden bringt.

Nicht so separat

Die Parietallappen (Scheitellappen) des Gehirns liegen im oberen hinteren Teil des Kopfes (ein „Lappen“ ist eine rundliche Wölbung des Kortex). Bei den meisten Menschen stellt der linke Lappen die Wahrnehmung her, dass der Körper von der Welt getrennt ist, und gibt der rechte Lappen an, wo sich der Körper im Vergleich zu Bestandteilen seiner Umgebung befindet. Das Ergebnis ist eine automatische Grundannahme dieser Art: Ich bin ein separates und unabhängiges Wesen. Ist dies auch in mancherlei Hinsicht wahr, ist es doch in vielerlei wichtiger Hinsicht nicht wahr.

Nicht so abgegrenzt

Um zu leben, muss ein Organismus metabolisieren: Er muss Stoffe und Energie mit seiner Umgebung austauschen. Folglich werden im Laufe eines Jahres viele der Atome in Ihrem Körper durch neue ersetzt. Die Energie, die Sie aufwenden, um einen Schluck Wasser zu trinken, stammt von Sonnenschein, der sich durch die Nahrungskette zu Ihnen hocharbeitet – in gewissem Sinne hebt Licht die Tasse an Ihre Lippen. Die scheinbare Mauer zwischen Ihrem Körper und der Welt ähnelt eher einem Lattenzaun.

 

Und die zwischen Ihrem Geist und der Welt ist wie eine auf den Bürgersteig gemalte Linie. Vom Augenblick der Geburt an gelangen Sprache und Kultur in Ihren Geist und gestalten ihn (Han und Northoff 2008). Empathie und Liebe sorgen von Natur aus dafür, dass Sie sich auf andere Menschen einstimmen, so dass Ihr Geist mit dem ihrigen mitschwingt (Siegel 2007). Diese Ströme geistiger Aktivität fließen in beide Richtungen, da Sie auch andere beeinflussen.

In Ihrem Geist gibt es fast überhaupt keine Grenzen. Seine ganzen Inhalte strömen ineinander; Empfindungen werden zu Gedanken, Gefühlen, Begierden, Handlungen und noch mehr Empfindungen. Dieser Bewusstseinsstrom korreliert mit einer Kaskade an flüchtigen neuronalen Verbindungen, wobei jede Verbindung innerhalb von häufig weniger als einer Sekunde in der nächsten verschwindet (Dehaene, Sergent und Changeux 2003; Thompson und Varela 2001).

Nicht so unabhängig

Ich bin auf der Welt, weil ein serbischer Nationalist Erzherzog Ferdinand ermordet und damit den Ersten Weltkrieg ausgelöst hat – was wiederum zu der zufälligen Begegnung meiner Eltern auf einem Tanzabend der Armee im Jahr 1944 führte. Natürlich gibt es zehntausend Gründe dafür, warum irgendjemand heute auf der Welt ist. Wie weit wollen wir zurückgehen? Mein Sohn – der mit seiner Nabelschnur um den Hals geboren wurde – ist wegen medizinischer Techniken, die über Hunderte von Jahren entwickelt wurden, auf der Welt.

Oder wir könnten ganz weit zurückgehen: Die meisten Atome in Ihrem Körper – einschließlich des Sauerstoffs in Ihren Lungen und des Eisens in Ihrem Blut – wurden im Inneren eines Sterns geboren. Im frühen Universum war Wasserstoff so ziemlich das einzige Element. Sterne sind riesige Fusionsreaktoren, die Wasserstoffatome miteinander verschmelzen lassen, schwerere Elemente erzeugen und dabei viel Energie freisetzen. Diejenigen, die zu Novä wurden, spien ihre Inhalte weit und breit umher. Bis zu der Zeit, als unser Sonnensystem sich zu bilden begann – ungefähr neun Milliarden Jahre nach dem Beginn des Universums –, existierten genügend viele große Atome, um unseren Planeten zu bilden, um die Hände zu bilden, die dieses Buch halten, und das Gehirn, das diese Worte versteht. Wirklich – Sie sind hier, weil viele Sterne explodiert sind. Ihr Körper besteht aus Sternenstaub.

Auch Ihr Geist ist von zahllosen vorausgegangenen Dingen abhängig. Denken Sie an die Lebensereignisse und an die Menschen, die Ihre Ansichten, Ihre Persönlichkeit und Ihre Emotionen geprägt haben. Stellen Sie sich vor, Sie wären bei der Geburt ausgetauscht und von armen Ladenbesitzern in Kenia oder einer reichen Ölfamilie in Texas großgezogen worden; wie anders würde Ihr Geist heute sein?

Das Leiden der Trennung

Da ein jeder von uns mit der Welt verbunden ist und in einem Verhältnis wechselseitiger Abhängigkeit zu ihr steht, werden unsere Versuche, separate und unabhängige Wesen zu sein, regelmäßig zum Scheitern gebracht, was schmerzhafte Signale der Störung und Bedrohung verursacht. Darüber hinaus führen unsere Anstrengungen selbst dann, wenn sie vorübergehend erfolgreich sind, zum Leiden. Wenn Sie die Welt als „überhaupt nicht ich“ sehen, ist sie potentiell unsicher, was Sie dazu veranlasst, sich vor ihr zu fürchten und sich ihrer zu erwehren. Sobald Sie sagen: „Ich bin dieser Körper, getrennt von der Welt“, werden die Schwächen Ihres Körpers zu Ihren eigenen. Wenn Sie meinen, dass er zu viel wiegt oder nicht richtig aussieht, leiden Sie. Wenn er durch Krankheit, Altern und Tod bedroht ist – wie es alle Körper sind –, leiden Sie.

Nicht so beständig

Ihr Körper, Ihr Gehirn und Ihr Geist enthalten eine Vielzahl an Systemen, die ein gesundes Gleichgewicht aufrechterhalten müssen. Das Problem aber ist, dass sich verändernde Bedingungen diese Systeme ständig durcheinanderbringen, was zu Signalen der Bedrohung, des Schmerzes und des Leids führt – mit einem Wort zum Leiden.

Wir sind sich dynamisch verändernde Systeme

Betrachten wir einmal ein einzelnes Neuron, eines, das den Neurotransmitter Serotonin freisetzt (siehe Abbildungen 3 und 4). Dieses winzige Neuron ist gleichzeitig Teil des Nervensystems und selber ein komplexes System, das zahlreiche Subsysteme benötigt, die es in Gang halten. Wenn es feuert, schleudern Verzweigungen am Ende seines Axons eine Salve aus Molekülen in die Synapsen – die Verbindungen – hinein, die es mit anderen Neuronen bildet. Jede Verzweigung enthält etwa zweihundert Vesikel genannte kleine Bläschen, die mit dem Neurotransmitter Serotonin gefüllt sind (Robinson 2007). Jedes Mal, wenn das Neuron feuert, öffnen sich fünf bis zehn Vesikel. Da ein typisches Neuron rund zehnmal in der Sekunde feuert, werden die Serotoninvesikel einer jeden Verzweigung alle paar Sekunden geleert.

Folglich müssen geschäftige kleine molekulare Maschinen entweder neues Serotonin produzieren oder frei um das Neuron herumtreibendes Serotonin recyceln. Dann müssen sie Vesikel herstellen, sie mit Serotonin füllen und nahe an den Ort des Geschehens bringen, also an die Spitze einer jeden Verzweigung. Das sind viele Prozesse, die da im Gleichgewicht gehalten werden müssen, und vieles könnte dabei schiefgehen – und der Serotoninstoffwechsel ist nur eines der Tausende Systeme in Ihrem Körper.

Ein typisches Neuron

• Neuronen sind die Grundbausteine des Nervensystems; ihre Hauptfunktion besteht darin, über winzige, Synapsen genannte Spalte miteinander zu kommunizieren. Zwar gibt es viele verschiedene Arten von Neuronen, doch ist ihr grundlegender Aufbau immer ziemlich ähnlich.

• Vom Zellkörper gehen Dendriten genannte Verästelungen aus, die Neurotransmitter von anderen Neuronen empfangen. (Manche Neurone kommunizieren mittels elektrischer Impulse direkt miteinander.)

• Etwas vereinfacht ausgedrückt, bestimmt die Summe aller exzitatorischen und inhibitorischen Signale, die ein Neuron Millisekunde um Millisekunde empfängt, ob es feuern wird oder nicht.

• Wenn ein Neuron feuert, verläuft eine elektrische Welle entlang seines Axons, der Faser, die sich in Richtung der Neuronen erstreckt, zu denen es Signale sendet. Hierdurch werden Neurotransmitter in die Synapsen, die es mit empfangenden Neuronen bildet, ausgeschüttet und Letztere entweder daran gehemmt oder dazu angeregt, im Gegenzug ebenfalls zu feuern.

• Die Fortleitung der Nervensignale wird durch Myelin beschleunigt, eine fetthaltige Substanz, welche die Axone isoliert.


Abb. 03 Ein (vereinfachtes) Neuron

• Die graue Substanz in Ihrem Gehirn setzt sich zum größten Teil aus den Zellkörpern von Neuronen zusammen. Auch weiße Substanz ist vorhanden, diese besteht aus den Axonen und den Gliazellen; Gliazellen leisten wichtige Funktionen für den Stoffwechsel, indem sie beispielsweise Axone mit Myelin umhüllen und Neurotransmitter recyceln. Neuronale Zellkörper sind wie 100 Milliarden durch ihre axonalen „Kabel“ miteinander verbundene Ein- und Ausschalter in einem komplizierten Netzwerk in Ihrem Kopf.


Abb. 04 Eine Synapse (im Nebenbild vergrößert dargestellt)

Die Schwierigkeiten, ein Gleichgewicht zu bewahren

Damit Sie gesund bleiben, muss ein jedes System in Ihrem Körper und Geist zwei im Widerstreit zueinander stehende Bedürfnisse ausgleichen. Auf der einen Seite muss es bei laufenden Transaktionen mit seiner lokalen Umgebung für Input offen bleiben (Thompson 2007); geschlossene Systeme sind tote Systeme. Auf der anderen Seite muss jedes System auch eine grundlegende Stabilität bewahren, muss um einen guten Sollwert herum und innerhalb bestimmter Spannweiten zentriert bleiben – nicht zu heiß, nicht zu kalt. Beispielsweise müssen vom präfrontalen Kortex (PFC) geleistete Hemmung und vom limbischen System ausgehende Erregung sich gegenseitig ausgleichen: zu viel Hemmung, und Sie fühlen sich im Inneren taub, zu viel Erregung, und Sie fühlen sich überwältigt.

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