Mysteriöse Museumsschätze

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Mysteriöse Museumsschätze
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Mysteriöse

Museumsschätze



Reinhard Habeck

Mysteriöse

Museumsschätze

Rätselhafte Funde

versunkener Welten


Gewidmet

drei fantastischen Freunden und weltoffenen Forschern der „Next-Mystery-Generation“, die vieles bezweifeln, aber nichts für unmöglich halten:

Andreas „Desmond“ Kirchner

Mario Rank

Dietmar Rücker

STYRYA

BUCHVERLAGE

Wien – Graz – Klagenfurt

© 2017 by Styria Verlag in der

Verlagsgruppe Styria GmbH & Co KG

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-990-40472-0

Bücher aus der Verlagsgruppe Styria gibt es in jeder Buchhandlung und im Online-Shop

www.styriabooks.at

Coverfotos: Wikimedia Commons/Dagmar Hollmann (vorne);

Wikimedia Commmons/Elfenbeinschnitzerei Übermuseum Bremen (hinten);

Reinhard Habeck (Rücken)

Covergestaltung: Emanuel Mauthe

Buchgestaltung und Satz: Hannes Strobl, Satz·Grafik·Design, Neunkirchen

Lektorat: Elisabeth Wagner

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2018


Bemalter Gipsabguss des Kriegerkopfes aus dem Ostgiebel des Aphaia-Tempels

auf Ägina im Museum der Universität Tübingen

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Auftakt: „Schau’n Sie sich das an!“

GUT GEBRÜLLT, LÖWENMENSCH!

Kreative Geistesblitze

Die vergessene Entdeckung des Löwenmenschen

Lokaltermin im Museum Ulm

Geschlechterzwist und Mutanten

Verzierung, Schmuck oder Urzeit-Code?

Der Alpenschamane

Als Gott eine Frau war

DER WOLFSEGGER EISENKLOTZ

Am falschen Ort zur falschen Zeit

OOPArt aus Vöcklabruck

Der älteste Report

Falsche Fährten

Der Meteoritenirrtum

Lokalaugenschein im Heimathaus

DIE LETZTEN ALPENRÄTSEL

Das Archiv unserer Ahnen

Kuriose und mysteriöse Musterbeispiele

Corni Freschi und die experimentelle Archäologie

Doktor Priulis Denkwerkstatt

Das Heiligtum von Cemmo

Die Vorwelt war knallbunt

Neue Sensationsfunde im Val Camonica

WUNDERLAMPEN DER ANTIKE

Wiener Spurensuche

Das Totenbuch des Chonsu-Mes

Nes-schu-tefnut und die Schlangensteine

Licht für den Pharao

Alte Fragen, neue Erkenntnisse

Mythologische Zeugnisse

Carnuntum und das ewige Licht

KELTENKULT UND UNTERSBERG-MYTHOS

Artemis und die heiligen Schlafmützen

Wahrhaft sagenhaft!

Opfergaben für imaginäre Berggötter?

Salzige Mumien und glotzende Fratzen

Noch mehr keltische Raritäten

Ungeklärtes Vermächtnis

Die Lazarus-Handschriften

DER TEUFEL ALS „GHOSTWRITER“

Der Pakt mit dem Teufel

Inspiration aus älterer Quelle?

Die Seele des Codex Gigas

Rätselhafte Herkunft

Fratzengesicht und Bilderrätsel

Verstecktes Original

Der Teufel schläft nicht

DIE SKURRILE SCHÄDELSAMMLUNG DES DOKTOR GALL

Auf ins älteste Museum Niederösterreichs!

Exotische Souvenirs, der Badener Schneckenkönig und „Andreas Hitler“

Kopfjagd und Schädellehre

Wer ist wer?

Tragische Schicksale

Goethes wahres Gesicht

Phrenologische Sackgasse

DER FLUCH DES ZLATOROG

Die Sage vom weißen Gamsbock

Verhinderte Thronfolge

Der Sakrileg-Schuss vom Bluntautal

Auf der Pirsch im „Haus der Natur“

Ein rumänisches Fluchopfer?

Tödliche Vorahnungen

Das Attentat der Zufälle

Schlusswort mit Dank und einer Bitte

Quellen und Literatur

Auftakt: „Schau’n Sie sich das an!“

„Man findet oftmals mehr, als man zu finden glaubt.“ Pierre Corneille (1606 – 1684) französischer Dramatiker

Museen, Galerien und Bibliotheken sind verstaubte Anstalten! Wer braucht sie noch im digitalen Zeitalter? Bietet das Internet nicht längst viel umfassendere und bessere Einblicke zum Erbe unserer Urväter? Und ist es nicht sowieso viel bequemer, diese Schätze in aller Ruhe vor dem heimischen Bildschirm zu betrachten? Das können nur Stubenhocker behaupten, die noch nie ein Museum von innen gesehen haben. Google, Wikipedia und Co. helfen bei Nachforschungen, aber sie können nicht virtuell Plätze ersetzen, wo Dinge noch Dinge sind, die man real besichtigen kann. Museen sind durchaus lebendige Orte, wo wir hautnah erfahren, dass Gegenstände noch wirklich und authentisch sind, aufgeladen mit der geheimnisvollen Aura ihrer bewegten Geschichte.

 

Das ist der Grund, weshalb ich meine Bücher nicht nur vom Schreibtisch aus zu Papier bringe. Das wäre mir zu wenig. Wenn ich über einen mysteriösen Fund berichte, will ich ihn in natura gesehen haben. Das ist nicht in jedem Fall möglich, aber doch in den meisten. Wer in die museale Wunderwelt eintaucht, wird immer etwas entdecken, das zum Staunen zwingt. Manchmal erst auf den zweiten Blick, beim Bemühen, die Geschichte hinter der Geschichte zu erfahren.

Die Kunstschätze und Sammlungen haben einen Bildungsauftrag, in dem Erinnerungen und Wissen zum Werdegang unserer Zivilisation vermittelt werden. Doch wie gesichert ist dieses Weltbild? Kunsthistoriker und Archäologen haben viele Geheimnisse der Menschheitsgeschichte erforscht und gelüftet. Was wir über unsere Vorfahren und versunkene Welten beweisbar wissen, ist dennoch nur Stückwerk. Selbst weltberühmte Entdeckungen wie die altsteinzeitliche Venus von Willendorf, die Gletschermumie „Ötzi“ oder die Pharaonenschätze Tutanchamuns sind immer noch voller Rätsel. Weitaus größer sind die Fragezeichen bei bizarren Gegenständen, die wegen ihrer schwer deutbaren Charakteristik, ungewöhnlichen Altersdatierung oder wegen ihrer rätselhaften Historie sowie ungeklärter Fundumstände mit dem Etikett „Kultobjekt“, „Zierrat“ oder „Kuriosum“ versehen wurden. Was war ihr ursächlicher Zweck? Viele der rätselhaften Funde befinden sich heute in Privatbesitz oder liegen unbeachtet in dunklen Museumsdepots. Das interessierte Publikum erfährt darüber kaum Erhellendes, weiß oft gar nicht von deren Existenz. Bei der Recherche zum vorliegenden Buch bin ich wieder auf merkwürdige Relikte gestoßen, die teils in Archiven zu verstauben drohen oder sogar als verschollen gelten. Doch die meisten Exponate, die ich vorstelle, können problemlos besichtigt werden.

Bei jedem Buch das gleiche Dilemma: Als Autor frage ich mich, welche Themen ich am besten aus dem gewaltigen Fundus wählen soll? Will man möglichst viele Schaustücke und Entdeckungen präsentieren, können wichtige Daten nur „angerissen“ werden. Es besteht die Gefahr, dass man sich hinterher den Vorwurf einhandelt, die Beschreibung der Exponate sei zu oberflächlich ausgefallen oder die ganze Publikation würde eher einem Lexikon entsprechen. Die andere Variante sieht vor, dass es nur einige ausgesuchte Museumsschätze sind, diese dafür aber genauer vorgestellt und hinterfragt werden. Ich habe mich für Letzteres entschieden. Ich präsentiere acht Themenbereiche mit subjektiv ausgewählten Exponaten, die eine mysteriöse oder zumindest wunderliche Geschichte zu erzählen haben. Von kleinen „Ausflügen“ abgesehen, habe ich mich dabei auf Merkwürdigkeiten aus dem Alpenraum beschränkt. Als Freund fantastischer und alternativer Thesen bringe ich wie immer meine Fragen und Überlegungen dazu ein. Man kann ihnen folgen, muss aber nicht, denn „Patentrezepte“ zum Verständnis des geheimnisvollen Wissens unserer Urahnen gibt es nicht.

Jede Leserin, jeder Leser ist herzlich dazu eingeladen, die Geheimnisse „meiner“ Museumsschätze zu überprüfen. Dazu bietet sich an, die erstaunlichen Funde an den vorgestellten Schauplätzen sowie in den Sammlungen und Museen selbst in Augenschein zu nehmen. Das Motto dazu liefert eine legendäre Redewendung des österreichischen Kabarettisten Karl Farkas (1893 – 1971). Bei den Ankündigungen seiner spaßigen Kleinkunstrevuen pflegte der Wiener stets zu sagen: „Schau’n Sie sich das an!“ Das ist auch mein Appell. Wenn es mir gelungen ist, auf den folgenden Seiten in Wort und Bild einige Anregungen für die nächste eigene Spurensuche zu liefern, hat das Buch seinen Zweck erfüllt.

Viel Vergnügen bei den literarischen und realen Entdeckungsreisen!


Reinhard Habeck


Eingang Hohlenstein-Stadel: Fundort des Löwenmenschen

Gut gebrüllt, Löwenmensch!

„Das Leben der Ahnen können wir nur erahnen.“

Walter Ludin (geb. 1945)

Schweizer Theologe, Priester und Journalist

Bezeichnung: Der Löwenmensch von Hohlenstein-Stadel und die Eiszeitkunst

Besonderheit: Aufrecht stehende Elfenbeinplastik mit Löwenkopf und menschlichem Rumpf, geschnitzt aus einem Mammutstoßzahn. Der Löwenmensch gilt als eines der ältesten und bedeutendsten Kunstwerke der Menschheit. Was die Figur einzigartig macht, ist nicht nur das Alter und ihre Größe (mit 31 cm überragt sie andere vergleichbare Kleinplastiken der Eiszeit deutlich), sondern die Verschmelzung zwischen Tier und Menschengestalt. Was war die Inspiration? Welcher religiösen Vorstellungswelt entsprang dieses Meisterwerk? Zeigt es ein Fabeltier? Einen maskierten Menschen? Ist es das Urbild eines Schamanen? Oder Abbild einer übernatürlichen Gottheit?

Geschichte: Entdeckt wird es 1939 in der Schwäbischen Alb. Erst 1969 wird die archäologische Bedeutung von Hunderten Elfenbeinbruchstücken erkannt. Zusammengesetzt ergeben sie die Statuette eines Mischwesens. 2008 bis 2013 kommen überraschend weitere Teile der Figur zum Vorschein. In der Folge wird der Löwenmensch in einem Restaurierungsprojekt vervollständigt. Mit der Gestalt aus dem Kalkmassiv Hohlenstein (mit den Höhlen Kleiner Scheuer, Stadel und Bärenhöhle) werden in weiteren Höhlen der Schwäbischen Alb (Bocksteinhöhle, Vogelherdhöhle, Hohle Fels, Geißenklösterle und Sirgensteinhöhle) noch zahlreiche andere einzigartige Eiszeitkunstwerke und Gebrauchsgegenstände ausgegraben. Eine Entdeckung der jüngsten Jahre ist die „Hohlefels-Venus“ aus Elfenbein.

Alter: Zeitabschnitt vor 43.000 bis 31.000 Jahren, genannt „Aurignacien-Kulturstufe“.

Aufbewahrung: Der Löwenmensch befindet sich im Ulmer-Museum in Baden-Württemberg, Deutschland. Weitere eiszeitliche Funde der Schwäbischen Alb finden sich im Urgeschichtlichen Museum Blaubeuren, im Landesmuseum Württemberg in Stuttgart und im Museum der Universität Tübingen (MUT). Vergleichsfunde: Naturhistorisches Museum Wien.

Kreative Geistesblitze

Das Auftauchen des anatomisch modernen Menschen in Europa wird mit der ältesten archäologischen Kultur der jüngeren Altsteinzeit in Verbindung gebracht. Wissenschaftler nennen diese Epoche Aurignacien, benannt nach einem Dorf im französischen Département Haute Garonne, wo im 19. Jahrhundert in einer Höhle die ersten Funde gemacht wurden. In dieser Epoche vor bis zu 43.000 Jahren waren kreatives und abstraktes Denken bereits voll entwickelt. Inmitten der letzten Eiszeit entstanden damals einzigartige Kunstwerke: kunstvoll bemalte und gravierte Steine, farbenprächtige Höhlenmalereien, meisterhafte Reliefs, filigraner Schmuck, geschnitzte Musikinstrumente, formreiche Werkzeuge und erstaunliche körperliche Kleinplastiken. Die bis jetzt bekannten ältesten Belege stammen aus den Höhlen am Südrand der Schwäbischen Alb. Was dabei verblüfft, ist die Modernität der Relikte. Schon Pablo Picasso (1881 – 1973) erkannte beim Anblick eiszeitlicher Kunstwerke: „Uns ist seither nichts mehr Neues eingefallen!“

Dank vieler eindrucksvoller Funde sind die Anfänge der Kunst recht gut dokumentiert. Dagegen wissen wir über die genialen Künstler relativ wenig. Es gibt aus dieser Epoche der Altsteinzeit kaum Skelettreste. Nach jüngstem Forschungsstand könnten zwei Milchzähne aus der Grotta del Cavallo („Höhle des Pferdes“) im süditalienischen Apulien der älteste Nachweis für den modernen Menschen in Europa sein. Sie wurden in einer geologischen Schicht gefunden, die auf 45.000 bis 43.000 Jahre datiert wird. Zu diesem Ergebnis kam 2011 ein Wissenschaftsteam unter der Leitung des Departments für Anthropologie der Universität Wien. Die Zähne, die bereits 1964 gefunden wurden, sind mit modernsten Techniken der Zahnmessung sowie der „virtuellen Anthropologie“ neu datiert und bewertet worden. Als bislang älteste anerkannte Funde des europäischen Homo sapiens gelten Kieferstücke und Zähne aus der südfranzösischen Fundstelle La Quina im Département Charente.


Im Museum der Universität Tübingen aufbewahrt: Elfenbeinplastik eines Wildpferdes, hergestellt vor 40.000 Jahren in der Schwäbischen Alb


Seltener Fund aus Krems-Wachtberg, ausgestellt im Naturhistorischen Museum Wien: zwei Säuglingsbestattungen aus der Altsteinzeit

Ihr Alter wird mit 38.000 Jahren angegeben. Sie sind somit etwas jünger als die ältesten Eiszeitkunstwerke der Schwäbischen Alb. Wenn die kunstvoll gestalteten Hinterlassenschaften vom Homo sapiens stammen, wovon wir ausgehen dürfen, muss seine Einwanderung früher angesetzt werden, als das Fossilmaterial nahelegt. Wer mehr als Zähne sucht: In der Anthropologischen Abteilung des Naturhistorischen Museums in Wien lagern die am besten erhaltenen Überreste unseres direkten Vorfahren, der Gattung intelligenter „Jetztmensch“, in Europa. Die Knochen wurden im tschechischen Mladeč gefunden und sind 31.000 Jahre alt.

Ein anderer seltener Fund der Altsteinzeit kam 2005 auf dem Wachtberg in Krems an der Donau zum Vorschein. Er führt 32.000 Jahre zurück in die Vorzeit. Damals erlebte eine Siedlergruppe des Homo sapiens einen traurigen Tag: Zwei Säuglinge mussten zur Ruhe gebettet werden. Liebevoll legten sie die Toten in eine mit rotem Farbstoff aufgefüllte Mulde, gaben ihnen eine Kette mit Schmuckperlen mit ins Grab und bedeckten die zarten Körper mit einem Mammutschulterblatt. Es sind die ältesten Knochenfunde des modernen Menschen in Österreich.

Die Doppelbestattung zweier Kleinkinder ist eine absolute Rarität und gilt als archäologische Sensation. Bisher ist in Österreich erst einmal ein derart altes Grab gefunden worden: in Spitz an der Donau. 1896 wurde es allerdings von der Besitzerin des Grundstücks aus Aberglauben zerstört und in den Bach geworfen. Wie viele Kunst- und Kulturschätze der Menschheitsgeschichte wurden wohl durch Ignoranz und Fanatismus zerstört, weil ihre wahre Bedeutung nicht erkannt wurde? Welche Artefakte der Menschwerdung verschwanden in dunklen Kellerarchiven der Museen, sind von der Wissenschaft vergessen worden und warten auf ihre Wiederentdeckung? Ich behaupte: Es gibt unzählige Container, Wandschränke und Regale voll mit brisanten Artefakten.

Die vergessene Entdeckung des Löwenmenschen


Joachim Hahn legte den Grundstein zur Renovierung des Löwenmenschen.

Wenn wir nach dem ersten, kreativsten und erstaunlichsten Kunstgegenstand des Homo sapiens fragen, landen wir beim „Löwenmensch“ vom Hohenstein-Stadel im Lonetal. Die Elfenbeinstatuette ist dem traurigen Schicksal des Vergessens und Verstaubens – Zufall und Fortuna sei Dank – gerade noch entrissen worden. Ihre Entdeckung, Wiederentdeckung, Restaurierung und erneute Restaurierung muten genauso abenteuerlich an wie die rätselhafte Figur selbst.

Rückblende: Wir schreiben den 25. August 1939. Der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs steht unmittelbar bevor. In der Stadel-Höhle der Schwäbischen Alb legt der örtliche Archäologe Otto Völzing (1910 – 2001) seit 1935 eiszeitliche Schichten frei. Er hat wie viele andere Helfer seinen Einberufungsbefehl erhalten. Die weiteren Ausgrabungsarbeiten müssen abgebrochen werden. Einer der Funde des letzten Tages sind rund 200 undefinierbare Bruchstücke. Der verantwortliche Leiter Robert Wetzel (1898 – 1962), Urgeschichtsforscher mit einem zweifelhaften Ruf nationalsozialistischer Gesinnung, erkennt zwar, dass es Splitter einer Elfenbeinplastik sind, doch damit endet das Wissen um die gerade entdeckte Figur auch schon. Die Grabungsfunde landen im Keller des Ulmer Museums.

 

Der Löwenmensch vor der Restaurierung 2013

Dort bleiben sie dreißig Jahre lang unbeachtet liegen, bis zum 8. Dezember 1969. Der Prähistoriker Joachim Hahn (1942 – 1997) arbeitet damals bereits seit Wochen im Museumsdepot. Seine Aufgabe: Sichtung und Bestimmung der Funde aus der Stadel-Höhle. Zwischen hunderten Kartons stößt er auf eine Schachtel mit der Aufschrift „HS 25. 8. 39 20.m 6.Hieb“. Als er sie öffnet, erblickt er den „Schotter“ vom letzten Grabungstag anno 1939. Mit zwei Studenten beginnt er, die Elfenbein-Puzzleteile mühsam zusammenzusetzen. Nach wenigen Tagen offenbart sich vor den staunenden Augen der Wissenschaftler eine fantastische, aufrecht stehende Skulptur, die bald in der Presse als „Ulmer Tiermensch“ bekannt wird. Hahn selbst nennt das Mischwesen scherzhaft „Mugwump“. Der Name ist eine Anlehnung an eine Romanfigur des US-Schriftstellers William S. Burroughs (1914 – 1997).

Mitte der 1970er-Jahre gibt eine anonyme Glücksfee einen kleinen Behälter mit ein paar Fundstücken im Museum ab. Die Unbekannte erklärt, dass ihr Sohn die „Dinge“ beim unerlaubten Spielen in der Stadel-Höhle gefunden habe. Da das Datum der Übergabe und der Name der Überbringerin fehlen und außerdem der Zugang in den hinteren Raum der Stadel-Höhle mit einem Gitter versperrt ist, wird die Angelegenheit nicht weiterverfolgt. Erst in den 1980er-Jahren sieht sich die Basler Paläontologin Elisabeth Schmid (1912 – 1994) den Fund genauer an und erkennt, dass er wichtige Teile des „Ulmer Tiermenschen“ enthält. Es gelingt ihr gemeinsam mit Restauratoren, den Kopf der Figur weiter zu vervollständigen. Es wird deutlich: Das Haupt gehört einer Raubkatze. Der „Mugwump“ entpuppt sich als „Löwenmensch“. Bei dieser Bezeichnung ist es geblieben. Da trotzdem immer noch Teile des Oberkörpers fehlen und fast alle Menschendarstellungen aus dieser frühen Zeit weiblich sind, glaubt Schmid, es handle sich um eine Löwenfrau.

Als 2008 erneut Grabungen beginnen, stößt das Team um den Archäologen Claus-Joachim Kind völlig überraschend auf etwa 300 weitere winzige Splitter der Figur. Im Rahmen eines aufwendigen Restaurierungsprojekts kommt der anmutige Löwenmensch zu seiner vorläufigen Vollendung. Dabei helfen Methoden der Röntgen-Computertomografie, mit der das Meisterwerk virtuell in alle Einzelteile zerlegt und danach wieder zusammengesetzt wird. Danach folgt die Wiederherstellung am Original. Seit 2013 glänzt der Löwenmensch frisch geliftet hinter Panzerglas im Museum Ulm.


Das Ulmer Museum

Lokaltermin im Museum Ulm


Der Autor vor der Vitrine des Löwenmenschen

Am südlichsten Rand der Schwäbischen Alb liegt die Universitätsstadt Ulm. Sie ist berühmt für ihre bezaubernde Altstadt direkt an der Donau, dem mittelalterlichen Fischer- und Gerberviertel und das Münster, das mit 161 Metern den höchsten Kirchturm der Welt besitzt. Ein bekannter Zungenbrecher lautet: „In Ulm, um Ulm und um Ulm herum.“ Ich bin dem Ruf oft und gerne gefolgt. Zuletzt 2014, als der Historiker und Autor Willi Grömling (1944 – 2015) und seine Frau Ingrid für einen kleinen kunstbegeisterten Freundeskreis eine Sonderführung durchs Ulmer Museum arrangierten.

Es war der „goldrichtige“ Zeitpunkt, um dem jüngst renovierten Wunderwesen Reverenz zu erweisen. Das Museum dokumentierte gerade die spektakuläre Schau „Die Rückkehr des Löwenmenschen“ mit den neuesten Erkenntnissen zu den Uranfängen der Kunst und ihrer genialen Schöpfer. Dazu erschien ein Begleitbuch, das die spannende Auffindungsgeschichte, das aufwendige Restaurierungsprojekt und den faszinierenden Mythos rund um das altsteinzeitliche Prachtexemplar erklärt. Kurt Wehrberger hat den packenden Archäologiekrimi gemeinsam mit Fachkollegen verfasst. Der Kurator ist einer der profundesten Kenner der Eiszeitkunst in der Schwäbischen Alb. Bei seinem liebsten Studienobjekt kommt der Urzeitforscher ins Schwärmen: „In der fantastischen Gestalt des Löwenmenschen ist uns ein einzigartiges Relikt erhalten, das in eine Sphäre geistig-religiöser Vorstellungen der Menschen der letzten Eiszeit verweist. Die Figur gibt uns einen faszinierenden Einblick in das komplexe Weltbild unserer frühesten Vorfahren, das die tägliche Auseinandersetzung mit der Natur eindrucksvoll widerspiegelt. Seit der Auffindung im Jahre 1939 bleibt seine Geschichte und die Intention seiner Herstellung spannend.“


Hüter des Löwenmenschen: Kurt Wehrberger, stellvertretender Direktor des Ulmer Museums

Mit dem Löwenmenschen sind noch etwa 50 weitere fantastische filigrane Kunstwerke in vier Höhlen der Schwäbischen Alb entdeckt worden. Die Fundorte klingen kauzig: Hohlenstein-Stadel und Vogelherd (beide im Lonetal) sowie Geißenklösterle und Hohle Fels (beide im Achtal). Die ältesten handtellergroßen Plastiken sind 40.000 Jahre alt, die jüngsten 30.000 Jahre. Gleiches gilt für acht Flöten aus Geier- und Schwanenflügelknochen sowie Mammutelfenbein. Sie haben unterschiedliche Tonlagen und gehören zu den ältesten Musikinstrumenten der Welt. Das hohe Alter der Kunstwerke bereitet manchem klassischen Prähistoriker noch Kopfzerbrechen. Doch das Fazit aus den Radiokohlenstoffdatierungen und stratigrafischen Befunden ist eindeutig: Die Wiege der Kunst lag nicht anonym im „Irgendwo“, sondern direkt vor unserer Haustüre, mitten in Süddeutschland!


Menschlicher Körper mit Löwenkopf: Wandrelief der ägyptischen Göttin Sachmet

Bei meinem Besuch habe ich Glück und genieße eine besondere Ehre: Kurt Wehrberger, der auch stellvertretender Museumsdirektor ist, lässt es sich nicht nehmen, persönlich durch die archäologische Sammlung mit ur- und frühgeschichtlichen Exponaten aus über 80.000 Jahren Menschheitsgeschichte zu führen. Highlight ist und bleibt der „Löwenmensch“ aus der Aurignacien-Kultur, dem das Museum im 1. Stock einen eigenen, imposant gestalteten Themenbereich gewidmet hat. Jeder Gast, der vor der Vitrine des Löwenmenschen verweilt, ist fasziniert und erstaunt über die ästhetische Ausdruckskraft des aufrecht stehenden Wesens mit leicht gespreizten Beinen und herabhängenden Armen. Es hat zweifelsfrei den Körperbau eines Menschen. Der Kopf dagegen ist der eines Löwen. Die Schnauze deutet ein Lächeln an und der Blick ist in die Ferne gerichtet. Im Angesicht dieser Tier-Mensch-Figur werde ich an die Gestalt anderer Mischwesen erinnert, die mir aus der altägyptischen Mythologie bekannt sind: die mächtige Schutzgöttin Sachmet und die sanftmütige Katzengöttin Bastet. Beide werden meist stehend in Menschengestalt mit Tierkopf dargestellt. Auch im alten Babylon und später in der griechischen und römischen Historie wird von Hybriden – halb Mensch, halb Löwe – berichtet. Der Löwenmensch aus der Stadel-Höhle entstand jedoch locker 35.000 Jahre früher. Ein gewaltiger Zeitsprung, der nur unter Zuhilfenahme einer Zeitmaschine zu überbrücken wäre, dennoch springt dem Betrachter die optische Parallele der Wunderwesen ins Auge.

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