Die Kunst, sich zu verlieren

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Als ich die Bluse wiederbekam, verlor ich die Erinnerung, denn beides gleichzeitig war nicht miteinander zu vereinbaren. Sie verschwand im Nu, ich konnte dabei zusehen. Ab und zu hört man von Wandgemälden und wie durch ein Wunder erhaltenen Leichen, die Hunderte oder auch Tausende von Jahren vergraben, luftdicht abgeschlossen und vor dem Licht geschützt waren. Wenn sie das erste Mal der frischen Luft und dem Licht ausgesetzt werden, beginnen sie zu verblassen, zu zerbröckeln, zu verschwinden. Manchmal sind Gewinn und Verlust enger miteinander verknüpft, als wir uns eingestehen wollen. Und manche Dinge lassen sich nicht bewegen oder besitzen. Manches Licht schafft nicht den ganzen Weg durch die Atmosphäre, sondern wird gestreut.

Ich legte die Bluse in meine eigene Kleiderkiste, und als ich wieder an sie denken musste, holte ich sie hervor und merkte, dass meine Erinnerung sie in etwas verwandelt hatte, was mir vertrauter war, nämlich in die Samtblusen, die Navajofrauen und -mädchen tragen. Die bolivianische Bluse war mit Perlen bestickt und hatte einen mit einer hellblauen Paspel besetzten Zickzackausschnitt sowie zwei blaue Schleifen, deren Bänder vor langer Zeit flachgedrückt worden waren, doch das Material war gestreifter Brokat. Es war türkis, das Blau von Swimmingpools und Halbedelsteinen, heller als der Himmel.

Als ich mit dem Schreiben begann, war ich fast mein ganzes Leben lang ein Kind gewesen, und meine Kindheitserinnerungen waren stark und lebendig, waren die Kräfte, die mich damals prägten. Die meisten sind im Laufe der Zeit schwächer geworden, und jedes Mal, wenn ich eine Erinnerung aufschreibe, gebe ich sie preis: Sie hört auf, das Schattenleben einer Erinnerung zu führen, und wird in Buchstaben fixiert, sie hört auf, mir zu gehören. Sie verliert die Unbeständigkeit und Unzuverlässigkeit all dessen, was lebt – genau wie die Bluse aufhörte etwas zu sein, in dem ich meiner Erinnerung nach einmal selbst gesteckt hatte, und stattdessen ein Kleidungsstück wurde, das, als man es mir gab, von jenem nicht wiederzuerkennenden kleinen Kind auf dem Schnappschuss getragen worden war. Eine Frau in ihren Zwanzigern ist fast ihr ganzes Leben lang ein Kind gewesen, doch im Laufe der Zeit wird der Teil, der ihre Kindheit ausgemacht hat, kleiner und kleiner, rückt ferner und ferner, wird blasser und blasser, obwohl es heißt, dass am Ende des Lebens der Anfang wieder lebendig wird, als sei man um die ganze Welt gesegelt und wieder in die Dunkelheit zurückgekehrt, aus der man gekommen war. Für ältere Menschen wird oft das Nahe und kurz Zurückliegende recht vage und nur das zeitlich und räumlich Ferne ist lebendig.

Für Kinder ist die Distanz von geringem Interesse. Gary Paul Nabhan schreibt davon, wie er mit seinen Kindern zum Grand Canyon fuhr und ihm dort klar wurde,

wie viel Zeit Erwachsene damit verbringen, in der Landschaft nach malerischen Rundblicken und reizvollen Ausblicken zu suchen. Während die Kinder auf Händen und Knien herumkrochen und sich mit dem beschäftigten, was direkt vor ihnen war, bewegten wir Erwachsene uns mittels der Abstraktion.

Er fügt hinzu, dass sein Sohn und seine Tochter jedes Mal, wenn sie sich einem Felsvorsprung näherten, »unvermittelt meine Hand losließen, um auf der Erde Knochen, Kiefernzapfen, glitzernden Sandstein, Federn oder Wildblumen zu suchen«. In der Kindheit gibt es keine Distanz: Für ein Baby ist die Mutter im Nebenzimmer für immer verschwunden, für ein Kind dauert es bis zu seinem Geburtstag endlos lange. Was nicht da ist, ist unmöglich, unwiederbringlich, unerreichbar. Die mentale Landschaft von Kindern ähnelt der von mittelalterlichen Gemälden: ein Vordergrund voller lebendiger Dinge und dann eine Wand. Das Blau der Ferne entsteht mit der Zeit, mit der Entdeckung der Melancholie, des Verlusts, des Wesens der Sehnsucht, der Komplexität des Terrains, das wir durchmessen, und mit den Jahren des Reisens. Wenn Kummer und Schönheit zusammengehören, dann bringt die Reife vielleicht nicht das mit sich, was Nabhan »Abstraktion« nennt, sondern ein ästhetisches Bewusstsein, das die Verluste, die die Zeit bringt, teilweise wettmacht und uns Schönheit in der Ferne finden lässt.

Antelope Island kam näher und näher, wurde größer und klarer, aber schließlich kam ein Punkt, an dem es nicht mehr weiterging. Oder es wäre vielleicht doch gegangen, hätte allerdings bedeutet, in dem See schwimmen zu müssen, der selbst unter normalen Umständen sehr viel salziger als das Meer ist und in dem während jener Trockenperiode das Salz extrem konzentriert gewesen sein muss. Ich kann mir auch eine andere Variante jenes Ausflugs vorstellen, wo ich mich ausgezogen hätte und losgeschwommen wäre, mir den Rücken verbrannt und mich wie ein Korken auf und ab bewegt hätte, bis hin zur Insel, aber ich habe keine Ahnung, was ich dort nach meiner Ankunft getan hätte. Und ich bin mir nicht sicher, ob die Insel überhaupt dazu bestimmt war, dass man dort ankam, denn aus der Nähe hätte sich ihr glühendes Gold in Buschwerk und Erde aufgelöst.

Als ich so weit gegangen war, wie ich konnte, blickte ich nach unten, und die bogenförmigen Ränder von Land und Wasser verloren ihren Maßstab und sahen aus wie die Welt aus dem Flugzeug. Flüge verbinden normalerweise Städte miteinander, doch dazwischen liegen die unbetretenen Gegenden, denen man nur ungefähre Namen geben kann: irgendwo in Neufundland, irgendwo in Nebraska oder den Dakotas. Von oben am Himmel, aus einer Höhe von mehreren Kilometern betrachtet, sieht das Land aus wie eine Landkarte von sich selbst, allerdings ohne all die Bezugspunkte, ohne die Karten keinen Sinn ergeben. Die Altwasserseen und Tafelberge, die man durchs Fenster sieht, sind anonym, unergründbar, eine Landkarte ohne Wörter. Ich habe festgestellt, dass der Wunsch, das Flugzeug würde auf einem von ihnen notlanden, unter denjenigen, die arbeitshalber von Stadt zu Stadt fliegen, weitverbreitet ist. Diese namenlosen Gegenden erwecken den Wunsch, verloren zu sein, weit weg zu sein, den Wunsch nach jenem melancholischen Wunder, das das Blau der Ferne darstellt. Und als ich an jenem Tag am Great Salt Lake auf meine Füße hinabblickte, da schienen selbst meine Füße weit weg zu sein, in diesem maßstablosen Terrain, wo sich das Nahe und das Ferne ineinander verschränkten, wo Pfützen Meere waren und Sandrippen Bergketten.

Ich ging zurück, die Insel hinter mir und vor mir der ruinenhafte Salt Palace, wo mein Wagen auf mich wartete, zurück in die Welt des alltäglichen Durcheinanders. Doch in der Nähe meines Ausgangspunkts wartete in jener Landschaft noch eine Überraschung auf mich: eine Reihe von kleinen Einbuchtungen, wo das Wasser verdunstet war und sich Salzkristalle gebildet hatten. Eine war ein Rosenteppich, eine ein Strohhaufen, eine ein Schneeflockenfeld, alle aus schlammigem Salz, doch als ich versuchte, einen kleinen Strauß der hellbraunen Rosen abzuschneiden, um ihn mit nach Hause zu nehmen, büßten sie sofort an Schönheit ein. Manche Dinge besitzen wir nur so lange, wie sie verloren bleiben, manche Dinge sind nur so lange nicht verloren, wie sie in der Ferne sind.

Gänseblümchenketten

Manche Dinge verschwinden in meiner Familie einfach. Vor langer Zeit zeigte mir die jüngere Schwester meines Vaters eine ganze Schachtel voller Familienfotos, und die leere Wand, die hinter meinen eigenen Anfängen stand, gab nach unter einem Schwall von auf Papp-Passepartouts aufgezogenen Porträtaufnahmen und fremden, namenlosen Gesichtern in allen Schattierungen, von Sepia bis hin zum Grau von Silbergelatineabzügen. Lange saßen meine Tante und ich mit der Schachtel in ihrem von Redwood-Bäumen fast durchgehend in eine düstere Stimmung getauchten Wohnzimmer und blätterten die Bilder durch, während sie mir bekannte und unbekannte Namen rezitierte. Das Foto, das den größten Eindruck auf mich machte, zeigte meine Großmutter und ihre beiden jüngeren Brüder auf Ellis Island oder ungefähr zu der Zeit, als sie durch diese große Einwandererschleuse im Hafen von New York gekommen waren. Sie standen, sich gegenseitig leicht verdeckend, gemäß den Konventionen der damaligen Porträtfotografie wie die Orgelpfeifen nebeneinander. Ihre Köpfe waren kahl geschoren, vielleicht wegen Läusen oder Kopfflechten, und sie hatten hohläugige, gespenstische Gesichter, wie so viele Einwanderer damals, diese drei Kinder in ihren identischen weißen Matrosenanzügen, die es durch ganz Europa und über den Atlantik geschafft hatten und die noch einen weiteren Kontinent allein durchqueren würden.

Als ich mich lange Zeit später nach den Fotos erkundigte, meinte meine Tante, so eine Schachtel mit Bildern gebe es nicht und ich müsse mir das Ganze eingebildet haben. Nach ein paar Jahren fragte ich sie noch einmal, und sie gab zu, dass die Schachtel existiert habe, meinte aber, sie sei verschwunden. Fotografien, die als Anker einer objektiven Vergangenheit dienen sollen, sind genauso unzuverlässig wie alles andere, was meine Familiengeschichte väterlicherseits ausmacht. Mein Vater und meine Tante leben nicht mehr, ihre Eltern sind lange vor ihnen gestorben, und es gibt niemanden, der die wenigen verstreuten Geschichten, die sie erzählt haben, wiederholen oder ihnen widersprechen könnte. Jede Geschichte kam als Überraschung daher – eine Äußerung, die ihnen nicht entlockt, die nicht infrage gestellt und nicht wiederholt werden durfte – und hatte die rätselhafte Kürze eines Orakels oder eines Lückenfüllers in Zeitungen. In gewisser Weise ähnelt diese Familiengeschichte väterlicherseits der Weltengegend, aus der sie kam, wo ganze Länder von Imperien verschlungen und wieder ausgespien wurden, wo sich die Grenzen unabhängig von Sprache und Kultur änderten, wo der Kommunismus mit seiner berühmten Gehilfin, der Fotoretusche, die Vergangenheit unterdrückte, sodass die Bilder mit der Zeit Schritt hielten und diejenigen, die aus der Welt verschwanden, auch von den Bildern dieser Welt verschwanden. Die drei Kinder mit den kahl geschorenen Köpfen waren aus Białystok ausgewandert, das lange zu Litauen gehörte, dann zu Polen, dann zu Preußen, einmal von Napoleons Truppen besetzt war, zur Zeit ihrer Auswanderung in Russland lag, während des Ersten Weltkriegs, als Schlachtfeld zwischen Deutschland und Russland, zerbombt und während des nächsten Weltkriegs erneut von den Deutschen besetzt wurde, die jetzt die Juden verschwinden ließen.

 

Es kann auch sein, dass Wahrheit für meine Familie keine feste Größe war, da sie ständig zwischen den verschiedenen Sprachen, in denen sie sich unterhielten, hin- und herschwankte, genauso wie die Auswanderung für Menschen, deren Diaspora bereits sehr viel früher begonnen hatte, nicht die gleiche Art von Heimatlosigkeit darstellte. Zu Hause sprachen sie weder Russisch noch Polnisch, sondern Jiddisch, ursprünglich ein mittelalterlicher deutscher Dialekt, obwohl sie auch keine Deutschen waren, sondern Erben der Diaspora, die fast zwei Jahrtausende zuvor in Israel begonnen hatte (wenn auch nicht, wie die blauen Augen und das blonde Haar in unserer Familie bezeugen, »reine« Nachfahren). Von ihrer Sprache ist nichts in meine Generation hinübergerettet worden außer ein paar Beschimpfungen: Das Jiddische kann Charaktermängel mit der gleichen Genauigkeit beschreiben, mit der die Inuit-Sprachen Eis beschreiben und das Japanische den Regen. Für andere Zwecke bewahrte man sich eine andere Sprache, das Hebräische, und das nicht auszulöschende Bild eines damals imaginären Heimatlandes bewahrte seine Sprecher davor, mit ihrer Umgebung zu verschmelzen. Manchmal frage ich mich, was jene erstaunliche Hartnäckigkeit, jenes Festhalten an einer verlorenen Landschaft und einer alternden Sprache für einen Sinn hatte. Es ließe sich die These aufstellen, dass es besser für sie gewesen wäre, wenn sie mit der Landschaft verschmolzen wären, wie es zweifelsohne bei vielen heute Vergessenen der Fall gewesen ist, wenn sie einheimische Sprachen und Geschichten übernommen und irgendwelche Landstriche lieb gewonnen hätten, wenn sie aufgehört hätten, Verbannte zu sein, indem sie aufhörten, sich an das Land zu erinnern, aus dem sie verbannt worden waren, damit sie das Land, in dem sie lebten, vollkommen annehmen konnten. Nur wenn sie jene Vergangenheit hinter sich ließen, würden sie auch den Zustand der Verbannung hinter sich lassen können, denn das Land, aus dem sie verbannt worden waren, existierte nicht mehr, und sie waren auch nicht mehr die Menschen, die es einmal verlassen hatten. Vielleicht entsprang dieses willentliche Vergessen, die Weigerung, Geschichten zu erzählen, dem Wunsch, wir könnten in der Neuen Welt auf eine Art und Weise heimisch werden, wie sie es in der Alten nie geschafft, nie vermocht hatten.

Alle aus unserer Familie, die den Holocaust überlebten, überlebten ihn, weil sie jenes feindliche zwischenzeitliche Heimatland verlassen hatten, und nur eine einzige Frau kehrte je dorthin zurück. Sie war durch die Liebe gerettet worden, erzählte mir ihre Tochter sehr viel später in Los Angeles. Sie hatte sich in einen Russen verliebt, den zu heiraten ihr ihre Familie ausreden wollte, folgte ihrem Herzen jedoch trotzdem nach Russland und überlebte dort den Zweiten Weltkrieg, der ihren Mann, als sie mit ihrem jüngsten Kind, einem Sohn, schwanger war, das Leben kostete. Nach dem Krieg kehrte diese Witwe nach Polen zurück, um sich wieder ihrer Familie anzuschließen, doch sie waren alle ausgerottet worden. So blieb sie allein mit ihren Kindern dort, bis sie, als diese noch klein waren, an Tuberkulose starb. Die Kinder wurden in ein von antisemitischen Nonnen geleitetes Waisenhaus gesteckt und, als man ihre ethnische Herkunft feststellte, nach Israel geschickt. Der Sohn lebt, soweit ich weiß, immer noch dort, aber die Tochter ging zum Studium nach Frankreich und kam später in die Vereinigten Staaten. Sie hatte in der Wüste Negev unter Beduinen gelebt, in Kaschmir mit einem Fürsten, in Arizona mit Architekten. Auf dem Tisch in ihrem Schlafzimmer standen kleine Gläser voller Erde, wunderschöne ocker-, rot- und sogar lavendelfarbene Pulver, die sie in den Wüsten der ganzen Welt eingesammelt hatte, und es schien, als sei dies für sie, die so oft Entwurzelte, alles, was an Heimatland übrig geblieben war, diese Sammlung von verschiedener Erde, wie die Rouge- und Pudergläschen, die bei anderen Frauen auf dem Frisiertisch stehen. Seither haben wir den Kontakt verloren. Allerdings ist sie mit meinem Großvater verwandt, nicht mit meiner Großmutter.

Die Mutter meiner Großmutter verschwand ebenfalls, zumindest wurde es mir so erzählt. Wie es damals oft geschah, ging ihr Vater zuerst fort und ließ seine Frau nachkommen, als er sich in der Neuen Welt, in Los Angeles, etabliert und das Geld für ihre Überfahrt verdient hatte. Später ließ er dann auch die Kinder, die nach der Abreise ihrer Eltern bei Verwandten gewohnt hatten, kommen. Zumindest hörte ich es einmal so, als man mir erzählte, dass meine Urgroßmutter irgendwo zwischen Osteuropa und der Westküste der Vereinigten Staaten verschwunden sei. Ich habe mir immer ausgemalt, was zwischen diesen beiden Punkten passiert sein könnte, habe mir vorgestellt, wie sie irgendwo in der Prärie aus dem Zug gestiegen ist, sich verirrt und nicht mehr zurückgefunden hat, ein unvorstellbares neues Leben begann, das so anders war als das, was von ihrer Familie und ihrer ethnischen Herkunft her für sie vorgesehen gewesen war, wie sie aus der lauten Dichte einer Erzählung von Isaac B. Singer in die ausgedehnte Stille eines Romans von Willa Cather trat. Die weiten Räume des amerikanischen Westens, die Einwanderer auch heute noch kaum kennen, haben Reisende schon immer dazu eingeladen, ihre Vergangenheit wie Gepäck zu verlieren und sich neu zu erfinden.

Heute ist mir klar, dass ich mir selbst gewünscht hatte, ich könnte aus dem Zug aussteigen, aus dem Auto, der Unterhaltung, der Pflicht, und in die Landschaft treten, die ich jener imaginären Vorfahrin schenkte. Ich wurde mit der Vorstellung von Landschaft als Zufluchtsort groß, mit der Möglichkeit, die horizontale Welt gesellschaftlicher Beziehungen zu verlassen zugunsten einer vertikalen Ausrichtung an Erde und Himmel, dem Stofflichen und dem Geistigen. Weite, offene Räume können dieses Verlangen am besten stillen, die Räume, die ich selbst zuerst in der Wüste fand und dann in den westlichen Prärien. Solche Räume zu betreten ist nicht so leicht, wie man es sich vielleicht vorstellt; oft sind sie privates Land, an dem man auf dem Weg zum öffentlichen Land mit seinen Bäumen und Steilhängen vorbeifährt, privat deshalb, weil es leichter ist, den Wert von etwas als den des Nichts zu erkennen, und weil es, sofern es sich nicht um die absolute Leere wüstentrockener Seebetten handelt, zum Anbauen oder Abweiden geeignet ist.

Vor einigen Jahren war ich am Unabhängigkeitstag bei einem Picknick auf einer riesigen Rinderfarm im Nordosten von New Mexico, wo ich, abgesehen von den Freunden, die mich eingeladen hatten, keinen Menschen kannte. Während jener Monsunzeit war das Gras ein grüner Teppich mit einem Muster aus kleinen Erdhöhlen, kugelförmigen Kakteen und Wildblumen, aus denen jedes Mal, wenn ich mich ihnen näherte, leuchtend helle Insekten hochsprangen. Dieser Teppich erstreckte sich ohne Unterbrechung bis zu den blauen Bergen, die einen Tagesmarsch oder weiter entfernt lagen, eine weitflächige Landschaft, in der man, so schien es, nie stehen bleiben müsste oder aber, hätte man die ganze Strecke durchmessen, verwandelt worden wäre. Ich entschuldigte mich bei den anderen und ging hinein in diese Landschaft, bis die Gruppe von Schwarzpappeln und Ulmen, die einzigen Bäume in dieser unermesslichen Weite, ganz klein geworden war, lange nachdem die Menschen darunter bereits verschwunden waren. Leichte Sommerwinde streichelten mich, meine Füße schritten voran, als verfügten sie über einen eigenen Antrieb, und die Berge waren stets voller Versprechen. Ich machte halt, bevor die Bäume außer Sichtweite waren, wollte an jenem Tag nicht völlig in die Weite entschwinden. Diese Räume sind vielleicht das beste Äquivalent der Wahrheit, der Klarheit, der Unabhängigkeit, das ich kenne.

»Leere ist der Pfad, auf dem der Mensch geht, der seine Mitte gefunden hat«, sagte ein tibetischer Mönch vor sechshundert Jahren, und in dem Buch, in dem ich diese Verkündigung fand, folgte darauf eine Erklärung des tibetischen Wortes für »Pfad«: »Shul«, ein

Zeichen, das bleibt, wenn das, wodurch es entstanden ist, schon nicht mehr da ist – zum Beispiel ein Fußabdruck. Shul kann auch die vernarbte Mulde sein, wo einst ein Haus gestanden hat, oder eine Rinne im Gestein, die nur bei starken Niederschlägen tatsächlich Wasser führt, die flach gedrückte Stelle im Gras, wo letzte Nacht ein Tier gelegen hat. All das ist Shul: der Eindruck oder Abdruck von etwas, was einmal da war. Auch ein Pfad ist Shul: ein im Laufe der Zeit entstandener Eindruck, von vielen Füßen geschaffen und für andere frei und gangbar gehalten. Als Shul kann auch die Leere als Abdruck von etwas verstanden werden, das einst da war. Der Abdruck ist in diesem Fall durch die Narben gegeben, die das selbstsüchtige Begehren hinterlässt.

Im Jiddischen ist Shul eine Synagoge – allerdings versuchte ich damals nicht, meine verschollene Vorfahrin in einen Tempel zu schicken, sondern auf einen Pfad durch eine unbewohnte Weite, wo der Himmel bis zu den Füßen herunterzukommen scheint.

Lange stellte ich mir vor, sie sei die Frau auf Lewis Hines Foto Junge russische Jüdin auf Ellis Island von 1905. Für einen für seine Sozialdokumentationen bekannten Fotografen ist es ein eigenartiges Bild, mit diesem ernsten, grüblerischen Gesicht und dem undeutlichen, weichgezeichneten Hintergrund. Ellis Island, auf den meisten Bildern von Menschen überlaufen, ist hier leer und still. Der einzige Hinweis auf den Ort selbst sind die verschwommenen Geländerreihen, durch welche die Menschenschlangen in die Große Halle geschleust wurden. Dieses Bild eines derart privaten und einsamen Moments inmitten des dichten Gewühls von Ellis Island dokumentiert eine Ausnahme sowohl auf der Insel selbst als auch in Hines Werk. Hier geht es nicht um gesellschaftliche Zustände. Hier geht es um die Seele. Eine Frau mit einem Schal oder Kopftuch, gerade weit genug zurückgeschoben, dass man ihre schwarzen Haare sehen kann, die in der Mitte gescheitelt sind und schon länger nicht mehr gewaschen wurden, blickt auf irgendetwas jenseits der Kamera, weder eingeschüchtert noch gefesselt. Nur ihr Stoffmantel mit dem asymmetrischen Verschluss macht sie als jemanden kenntlich, der aus den östlichsten Randgebieten Europas kommt. Aus der Nähe betrachtet ist sie fast schön, jung und irgendwie empfindlich, doch von weiter weg oder auf einer kleineren oder dunkleren Abbildung kann man den Schädel in dem ausdruckslosen Gesicht dieser Emigrantin sehen, als hätten Hunger, Erschöpfung und Angst sie an andere als nationale Grenzen geführt. Die Stirn über ihren schattendunklen Augenhöhlen glänzt so weiß wie der Himmel hinter ihr. Es ist, als könnten wir durch sie hindurchsehen zu der gleichen Blässe des fernen Himmels, oder als wären beide nur leere Stellen auf dem Fotopapier.

Lange nachdem das Bild der in die Prärie tretenden Frau ein für mich sicherer Talisman war, erzählte man mir, dass meine Urgroßmutter gar nicht verschwunden war. Ihr Mann hatte sie, als sie in Kalifornien ankam, in eine Nervenheilanstalt einweisen lassen, und als ihre drei Kinder eintrafen, mussten sie feststellen, dass ihr Vater erneut geheiratet hatte, diesmal eine Amerikanerin, und eine neue Tochter hatte. Den Rest malte ich mir aus, etwa wie meine Großmutter ankam und entdecken musste, dass sie von einer Halbschwester verdrängt worden war, die die englische Sprache fließend beherrschte, die sie erst lernen musste und für den Rest ihres Lebens mit einem starken Akzent sprechen sollte. Anfangs schien sie sich zurechtgefunden zu haben und trat, einem anderen Foto zufolge, einem Wanderklub für Frauen bei: kräftige junge Frauen in kniehohen Schnürstiefeln und Pumphosen, so einheitlich gekleidet, dass sie aussahen wie ein Militärtrupp, oben in den jungen, kiefernbestandenen Bergen von Los Angeles. Erkennen kann ich sie in dieser Gruppe von olivhäutigen Mädchen mit ihren hoffnungsvollen Blicken nicht. Irgendwann gegen Ende der Zwanzigerjahre heiratete sie meinen Großvater, einen anderen Einwanderer aus einem nahe gelegenen Ort im russischen Ansiedlungsrayon, der in die Wirren der Russischen Revolution geraten und von seinem älteren Bruder herübergeholt worden war. Sie lernten sich, wie irgendjemand einmal erwähnte, in einem jüdischen Wanderklub kennen, und diese Tatsache passt überhaupt nicht in das allgemeine Bild von ihnen, denn sie schienen absolute Stadtmenschen zu sein, zusammengeschrumpft in ihren Körpern, die für sie Wohnungen des Fleisches waren, nicht jedoch ein Mittel, um in dem offenen Raum der Neuen Welt Abenteuer zu erleben. Näher kommt die Wirklichkeit, in der diese Vorfahren lebten, nicht an meine Fantasievorstellung von der in der Prärie aus dem Zug gestiegenen Frau heran.

 

Meine Urgroßmutter verschwand aus dem Leben ihrer Kinder. Und es stellt sich die Frage, ob sie es freiwillig tat oder ob sie keinen Weg zurück aus ihren Gedanken finden konnte. War sie nur für ihre Kinder verloren, weil sie einen anderen Weg gefunden hatte, oder war sie auch für sich selbst verloren, der Fähigkeit beraubt, sich in der Welt und ihrem eigenen Verstand zurechtzufinden? Auch den Verstand kann man sich als Landschaft vorstellen, doch allein der Verstand von Weisen ähnelt unter Umständen der Kurzgrasprärie, in der ich mit dem In-die-Irre-Gehen und Verschwinden gespielt hatte. Bei uns anderen gibt es Höhlen, Gletscher, reißende Flüsse, dicke Nebel, Abgründe, die sich direkt vor unseren Füßen auftun, ja sogar wilde, räuberische Tiere, die Namen aus unserer Familie tragen. Es ist eine Landschaft, in der man sich leicht verirren kann, und manche Gegenden machen einem Angst und Bange. Es gibt eine buddhistische Erzählung von einem Mann, der an einem Mönch vorbeigaloppiert, welcher ihn fragt: »Wohin reitest du?« – »Da musst du mein Pferd fragen«, antwortet der Mann. Diese unkontrollierbare Emotion erlaubt es einem nicht, sich sein Ziel auszusuchen oder es gar zu sehen. Es ist die einfachste Form des Wahnsinns, von der die meisten von uns gelegentlich auch kosten.

Meine Großmutter tauchte in meinem Leben genauso plötzlich auf, wie ihre Mutter verschwunden sein musste. Niemand hatte mir erzählt, dass ich eine andere Großmutter hatte als die irischamerikanische Mutter meiner Mutter im Ostteil des Landes, die wir nur selten sahen, bis wir eines Tages, nicht lange nachdem wir zurück nach Kalifornien gezogen waren, aber noch vor meiner Einschulung, nach Los Angeles fuhren. Wir hielten vor einer von einem Asphaltmeer umgebenen riesigen Betonanstalt, und dann kam diese unerwartete Vorfahrin herunter und gab mir, während wir alle draußen standen, einen Kuss. Auf meiner Wange blieb etwas Lippenstift zurück, und meine Mutter wandte sich um und stieß einen spitzen Schrei aus, weil sie dachte, es sei Blut. Später wurde meine Großmutter dann in die staatliche Heilanstalt in Napa überwiesen, gar nicht weit von unserem Wohnort entfernt. Jahrelang dachte ich, es sei ein Altersheim, da sie in einer Abteilung war, auf der ausschließlich ältere Frauen lebten, die es danach dürstete, Kinder zu sehen, und die sich deshalb bei unseren Besuchen immer um uns scharten und uns Münzen schenkten, und außerdem hatte mir auch niemand etwas anderes gesagt. Es war eine geradezu unheimlich stille Anlage mit vielen großen Rasenflächen, auf denen verstreut Bäume standen, die einen angenehmen Schatten warfen. Versuche ich mich heute daran zu erinnern, so fallen mir die Rotschulterstärlinge ein, die wir auf der Fahrt dorthin immer in den Sümpfen der San Pablo Bay sahen; und ein Nachmittag oder viele Nachmittage, die mein jüngerer Bruder und ich damit verbrachten, auf einer dieser Rasenflächen Gänseblümchenketten zu flechten, die meine Großmutter dann immer trug, bis sie rund um ihren enormen Busen und buckligen Rücken herum verwelkt waren; und mir fällt der Kirschmoststand unter dem riesigen Baum ein, wo wir auf dem Heimweg immer anhielten, und der Geschmack der Kirschen. Es kam mir nie in den Sinn, sie nach der Vergangenheit zu fragen, und wahrscheinlich hätte sie auch nicht viel zu sagen gehabt.

Angeblich litt sie an paranoider Schizophrenie. So lautete jedenfalls die Diagnose, aufgrund derer sie die letzten Jahrzehnte ihres Lebens in einer Anstalt verbrachte. Ich dachte allerdings immer, ihr Weltbild sei unter den gegebenen Umständen vielleicht sogar völlig vernünftig, obwohl sie damals, als ich sie kennenlernte, ein menschliches Wrack war, dessen Verstand durch Schockbehandlungen, jahrelange Medikamenteneinnahme und den Tribut, den Anstalten fordern, verändert worden war. Es ist schwer zu sagen, ob tatsächlich ihr Schmerz oder ob ihre Vergangenheit beseitigt wurde oder ob beides dasselbe war. Die sie behandelnden Ärzte haben aller Wahrscheinlichkeit nach selbst nie eine so tiefe Instabilität erfahren wie sie: verschwindende Mütter, die enorme Kluft zwischen dem mittelalterlichen russisch-polnischen Ansiedlungsrayon und dem funkelnden amnestischen Los Angeles, die drei oder vier Sprachen, die sie zurückließ, und das Englisch, das sie nie richtig lernte, die Auslöschung der Welt, aus der sie kam, und der Verwandten, die sie zurückließ. »Posttraumatische Belastungsstörung« lautete eine andere Diagnose, die ein Therapeut einmal für ihr Verhalten angeboten hatte, ein Zustand, der den vielen Arten von Krieg, die sie überlebte, Rechnung trug und einer Welt, in der nichts so weit hergeholt oder so schrecklich war, als dass es nicht hätte passieren können.

Die Geschichten, die mein Vater mir über seine Kindheit und Familie erzählt hat, kann ich an einer Hand abzählen. Er war rund 30 Zentimeter größer als seine Eltern und mit seinen blauen Augen und einst blonden Haaren weit, weit heller als seine Mutter, als stammte er direkt aus Südkalifornien mit all seinem Sonnenlicht und Überfluss. Er war Teil jener großen Assimilationswelle der Fünfzigerjahre, als die ethnische Herkunft als überflüssiger Ballast betrachtet wurde, als Amerika an die Zukunft wie an eine Religion glaubte. Es ist nicht schwer sich vorzustellen, warum er seinen schurkischen Vater und seine verrückte Mutter aus seiner Identität ausradieren wollte, obwohl er ihnen mehr ähnelte, als es äußerlich den Anschein hatte, so wie sein ganzes Leben lang immer wieder die Pferde mit ihm durchgegangen sind. Die jüngere Schwester meines Vaters, meine Tante, war genauso dunkel wie ihre Mutter und wurde als junges Mädchen, als sie mit ihrem Vater in El Paso lebte, stets für eine Mexikanerin gehalten, weshalb sie oft Probleme hatte, aus Juárez über den Rio Grande zurückzukommen. Von ihrem zweiten Mann bekam sie dann einen Nachnamen, der zu ihrem Äußeren passte, und ging von da an als Latina durch. Sie war sarkastisch, literarisch gebildet und radikal, diejenige, die die Familiengeschichten und -fotos aufbewahrte, obwohl diese weniger als Stützen eines fest gefügten Bildes von der Vergangenheit dienten, sondern eher als Phantasmen und Fiktionen, die sich entsprechend den Anforderungen der Gegenwart ständig veränderten. Doch das tun alle Geschichten und Fotografien, die öffentlichen ebenso wie die privaten.

Ein andermal hängte meine Tante in ihrem Haus ein Foto von ihrer Mutter, meiner Großmutter, auf – ein weiteres Bild, das ich dort nur ein einziges Mal sah. Es zeigte ein Kind, das neben einem grob gearbeiteten hölzernen landwirtschaftlichen Gerät stand. Wäre die Fotografie bereits vor fünfhundert Jahren erfunden gewesen, man hätte sich leicht vorstellen können, dieses Bild stamme aus jener Zeit. Es vermittelte einen Eindruck davon, wie rückständig die Welt gewesen war, aus der meine Großmutter in den Zehner- oder Zwanzigerjahren des 20. Jahrhunderts ins sonnige, optimistische, wirtschaftlich blühende Los Angeles gekommen war. Mit mir schienen die Menschen auf den Fotos, die meine Tante mir manchmal zeigte, wenig oder gar nichts zu tun zu haben; ihre Gesichter, ihre Posen, ihre Kleidung verrieten mehr über eine bestimmte Zeit und einen bestimmten Ort als über unsere Familie und Verwandtschaft. Die Technologie und die Konventionen der Fotografie haben den Bildern einer jeden Generation ein ganz bestimmtes Aussehen verliehen, während die Geschichte, die Mode und die Ernährung auf jedem einzelnen Körper ihre Spuren hinterließen, sodass fast alle Menschen einer bestimmten Epoche auf eine Art miteinander verwandt sind, die sie nicht mit anderen Generationen teilen. Vor den Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts schienen das Licht und die Luft selbst fast eine Tiefe und Leuchtkraft wie unter Wasser gehabt zu haben: Die Haut glänzte schillernd und alles wirkte, als hätte es eine schwache Aura, die dann von den neueren Schwarz-Weiß-Filmen, welche weniger Silber in der Emulsion hatten, zerstört wurde. Ich glaube, die meisten Amerikaner, die die Weltwirtschaftskrise nicht selbst miterlebten, sind der Meinung, sie habe sich in einer Welt mit groben, aber insgeheim doch verführerischen schwarz-weißen Oberflächen zugetragen, als stellte die Textur selbst eine Art Reichtum dar, der die ganze Armut wettmachen konnte. Und zu Beginn des letzten Jahrhunderts, als das Licht grell war und von weit oben kam, gab es viele ernste, hohläugige Gesichter über Kleidern, die den Körper kaschierten. Hoch oben im Himalaja gibt es Fossilien von Muscheln – was war und was ist, das ist zweierlei.

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