Die Kunst, sich zu verlieren

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durch unsere Sprache Verbindungen zu unserer Vergangenheit herzustellen. Die Weltsicht der Wintu ist in der Tat einzigartig; unsere enge Vertrautheit mit unserer Umwelt rundet diese Einzigartigkeit ab, und die zukünftige Neuansiedlung von Menschen in unseren traditionellen Gebieten sowie die Wiedereinführung unserer Kultur und Geschichte werden dazu führen, dass die alten Narben langsam wieder verheilen können, die Narben der Umsiedlung und des offenen Genozids. Die Wegbereiter unseres heutigen Sprachverlusts.

Oder, wie es in einem 2004 veröffentlichten Artikel über die einhundert rasch aussterbenden Indianersprachen Kaliforniens heißt:

Solch eine Sprachendifferenzierung kann durchaus mit einer ökologischen Differenzierung verknüpft sein. Nach dieser Sichtweise haben die Menschen ihre Wörter den ökologischen Nischen, die sie bewohnten, angepasst – und Kaliforniens äußerst vielfältige Ökologie förderte seine linguistische Vielfalt. Diese Theorie wird unterstützt durch Landkarten, die zeigen, dass es in Gebieten mit einem größeren Artenreichtum auch mehr Sprachen gibt.

Es wäre eine schöne Vorstellung, dass die Wintu einst in einer so perfekten Welt lebten, dass sie alle Grenzen kannten und nie die Erfahrung machten, sich verirrt zu haben oder verloren zu sein, doch das Leben ihrer nördlichen Nachbarn, der Achumawi- oder Pit-River-Indianer, legt nahe, dass das wahrscheinlich nicht der Fall war. Als ich einmal Freunde bei einer Aufführung in einem Stadtpark treffen wollte und sie in der Menschenmenge nicht finden konnte, ging ich in ein Antiquariat und entdeckte ein altes Buch. Darin schreibt Jaime de Angulo, der wilde spanische Erzähler und Anthropologe, der vor achtzig Jahren eine beträchtliche Zeit bei diesem Volk verbrachte:

Ich möchte jetzt von einem seltsamen Phänomen berichten, das unter den Pit-River-Indianern auftritt. Die Indianer nennen es auf Englisch »wandering«. Sie sagen über einen bestimmten Menschen: »Er wandert gerade« oder »Er hat angefangen zu wandern«. Für manch einen scheint es bei bestimmten seelischen Belastungen einfach zu schwer zu sein, das Leben in der gewohnten Umgebung auszuhalten. Solch ein Mensch beginnt zu wandern. Ziellos streift er durchs Land. Hier und dort verweilt er kurz in den Lagern von Freunden oder Verwandten, doch dann zieht er weiter, bleibt nirgendwo länger als ein paar Tage. Nie drückt er seinen Schmerz, seinen Kummer oder seine Sorge äußerlich aus … Der Wanderer, ob Mann oder Frau, meidet Lager und Dörfer, bleibt lieber in wilden, einsamen Gegenden, auf den Gipfeln der Berge, am Grund der Canyons.

Dieser Wanderer ist gar nicht so weit entfernt von Woolf – auch sie kannte die Verzweiflung und den Wunsch nach dem, was die Buddhisten »Erlöschen« nennen, ein Wunsch, der sie schließlich, die Manteltaschen voller Steine, in einen Fluss trieb. Hier geht es nicht darum, dass man sich verirrt hat, sondern darum, dass man sich verlieren will.

De Angulo schreibt weiter, dass das Wandern zum Tod, zur Hoffnungslosigkeit, zum Wahnsinn, zu verschiedenen Formen der Verzweiflung führen kann, aber auch zu Begegnungen mit anderen Mächten in den entlegeneren Gegenden, in die ein Wanderer ziehen kann. Er endet mit den Worten:

Wenn man selbst schon ziemlich wild geworden ist, dann kommen vielleicht einige der wilden Wesen und schauen sich einen an, und eins von ihnen wendet einem vielleicht seine Aufmerksamkeit zu, nicht, weil man leidet und friert, sondern einfach, weil es zufällig mag, wie man aussieht. Wenn dies geschieht, ist das Wandern vorbei, und der Indianer wird Schamane.

Man verliert sich, weil man den Wunsch hat, sich zu verlieren. Doch dort, wo man sich verliert, findet man seltsame Dinge, merkt de Angulos Herausgeber an: »Die Alten sagen, alle Weißen sind Wanderer.«

Während jener langen Zeit, als die Geschichten nur so auf mich einprasselten, gab ich eine Lesung in einer Bar in einer Straße, die früher einmal am Wasser entlang verlief, bevor das Ufer aufgefüllt wurde, um an der Nordküste der Halbinsel, auf der San Francisco liegt, noch ein paar Häuserblöcke herauszuquetschen. Ich las ein kurzes Stück, das mit einem Wolkenbruch endete, und ein zweites über die See, und dann ging ich mir einen Drink holen. Carol, die Frau des Mannes, der mich zu der Lesung eingeladen hatte, winkte mich zu dem Barhocker neben sich herüber und erzählte mir schließlich von dem Tätowierkünstler, der über viele Jahre ihr Nachbar gewesen war. Er war jahrzehntelang ein Junkie gewesen, und irgendwann hatte sich dann an seiner Hand, dort, wo er sich einen Schuss gesetzt hatte, Schorf entzündet. Er landete mit einer fast tödlichen systemischen Infektion im Krankenhaus, und es musste ihm der Arm, der rechte Arm, der Arm, mit dem er arbeitete, amputiert werden. Doch am Ende jener langen Zeit, als er bis an den Rand des Todes gegangen und wieder zurückgekehrt war, meinte der Arzt zu seiner Verwunderung, er sei von seiner Abhängigkeit geheilt. Er wurde zwar ohne sein Handwerk, aber »clean« aus dem Krankenhaus entlassen und musste bei null anfangen, ein ebenso abruptes und überwältigendes In-die-Welt-geworfen-Werden wie die Geburt. Auf den Arm war ein Drache tätowiert gewesen, der jetzt bis auf den Kopf völlig verschwunden war.

Meine Freundin Suzie erzählte mir, während ich sie von jener Bar nach Hause fuhr, von der wahren Bedeutung der Figur der Justitia, die mit verbundenen Augen eine Waage in der Hand hält. Suzie malte ihre eigenen Tarotkarten und durchdachte dabei jede Karte neu. Justitia stand, laut einem Buch über die antike Mythologie, vor den Toren des Hades und entschied, wer hineindurfte; in den Hades einzugehen bedeutete, auserwählt zu sein für eine Verfeinerung durch Leiden, Abenteuer und Verwandlung, ein Weg der Bestrafung, dessen Belohnung das verwandelte Selbst ist. Das warf ein anderes Licht auf den Gang in die Hölle. Und es legte nahe, dass die Gerechtigkeit viel komplizierter und unberechenbarer ist, als wir es uns oft vorstellen, dass das Ende weiter weg als erwartet und viel schwerer abzuschätzen ist, wenn am Ende alles ausgeglichen sein soll. Außerdem legt es nahe, dass ein behagliches Leben zu führen bedeuten kann, auf der Strecke geblieben zu sein. Geh in die Hölle, doch wenn du dort bist, geh weiter und komm am anderen Ende wieder heraus! Schließlich malte Suzie eine Gruppe am Lagerfeuer, ihr Bild der Gerechtigkeit, und meinte, für sie sei Gerechtigkeit, wenn man sich auf dem Weg gegenseitig hilft. An einem anderen Abend erzählte mir ihr Partner David von einem seiner Bekannten, einem Biologen auf Hawaii, der neue Arten entdeckt, indem er sich absichtlich im Regenwald verirrt. Das dichte Blattwerk und der bedeckte Himmel machen einem diese Aufgabe dort leichter als auf dem Hochplateau der Wintu.

David fotografierte schon seit Jahren im Regenwald von Hawaii und anderswo gefährdete Arten, und seine Bildersammlung und Suzies Tarotkarten schienen irgendwie zusammenzupassen. Da viele Arten verschwinden, wenn ihr Lebensraum verschwindet, fotografierte er sie vor dem Nichts eines schwarzen Hintergrunds (was manchmal bedeutete, dass er an den unmöglichsten Orten und im unerbittlichsten Klima ein schwarzes Samttuch aufhängen musste), wodurch jedes Tier, jede Pflanze, allein vor dem Dunkel, wie für eine Porträtaufnahme arrangiert schien. Und die Bilder sahen auch aus wie Karten, Karten aus dem Kartenspiel der Welt, wo jedes Tier eine Geschichte beschreibt, eine Art des Daseins in der Welt, ein Bündel von Möglichkeiten, ein Spiel, aus dem ständig Karten weggeworfen werden, eine nach der anderen. Pflanzen und Tiere sind auch eine Sprache, selbst in unserem reduzierten, domestizierten Englisch, wo Kinder wie Unkraut wachsen oder auf Rosen gebettet sind, wo der Markt aus Bullen und Bären besteht und die Politik aus Falken und Tauben. Wie Karten, so kann auch die Flora und Fauna immer wieder gelesen werden, nicht nur für sich allein, sondern im Zusammenhang, in den sich endlos verändernden Zusammenhängen einer Natur, die ihre eigenen Geschichten erzählt und die unseren färbt, eine Natur, die wir zunehmend verlieren, ohne überhaupt das Ausmaß dieses Verlusts zu erkennen.

Tatsächlich hat der Begriff des »Verlierens« zwei verschiedene Bedeutungen. Dinge zu verlieren hat damit zu tun, dass Bekanntes wegfällt; sich zu verlieren hat damit zu tun, dass Unbekanntes auftaucht. Es gibt Dinge und Menschen, die verschwinden, und dann sieht, kennt oder besitzt man sie nicht mehr – man verliert ein Armband, einen Freund, einen Schlüssel. Aber man weiß immer noch, wo man selbst ist. Alles ist vertraut, nur dass da ein Gegenstand weniger ist, ein fehlendes Element. Verliert man dagegen sich, ist die Welt größer geworden als das Wissen, das man von ihr hat. So oder so entsteht ein Verlust an Kontrolle. Man stelle sich vor, man strömt durch die Zeit und legt Handschuhe, Schirme, Schraubenschlüssel, Bücher, Freunde und Freundinnen, Wohnungen, Namen ab. So sieht die Welt aus, wenn man sich mit dem Rücken zur Fahrtrichtung in einen Zug setzt. Blickt man nach vorn, erfährt man ständig Momente der Ankunft, Momente der Erkenntnis, Momente der Entdeckung. Der Wind weht einem die Haare zurück, und man wird von Dingen begrüßt, die man noch nie gesehen hat. Das Materielle fällt angesichts der auf einen einstürmenden Eindrücke von einem ab. Es schält sich ab wie die Hüllen einer sich häutenden Schlange. Die Vergangenheit zu vergessen bedeutet natürlich, das Gefühl von Verlust zu verlieren, das auch eine Erinnerung an einen fehlenden Reichtum darstellt und eine Reihe von Anhaltspunkten liefert, mit deren Hilfe man sich in der Gegenwart orientieren kann; die Kunst besteht nicht darin, zu vergessen, sondern darin, loszulassen. Ist alles andere verschwunden, so kann man durchaus reich an Verlusten sein.

Schließlich machte ich mich auf die Suche nach Menon. Ich hatte gedacht, seine Frage sei Teil einer Sammlung von Aphorismen oder Fragmenten, wie beispielsweise den Fragmenten des Heraklit. Ich sah deutlich ein Buch vor mir, das gar nicht existiert. Sollte ich es je gewusst haben, so hatte ich wieder vergessen, dass Menon der Titel eines Dialogs von Platon ist. Sokrates tritt gegen den Sophisten Menon an und macht seinen Gegner, wie in allen manipulierten Boxkämpfen Platons, zunichte. Manchmal sehe ich beim Spazierengehen etwas, was aus einer gewissen Entfernung wie ein Edelstein oder eine Blume aussieht und sich ein paar Schritte später als ein Stück Abfall erweist. Doch bevor es deutlich zu erkennen ist, sieht es wunderschön aus. Genauso ist es auch mit Menons Frage, vielleicht allerdings nur in der blumigen Übersetzung, in der ich sie zuerst, aus dem Zusammenhang gerissen, gehört hatte. Sokrates antwortet auf jene Frage:

 

Ich begreife, was du sagen willst, Menon! Siehst du, daß es eine eristische Frage ist, die du vorbringst? Daß es nämlich einem Menschen nicht möglich sei, etwas zu erforschen, weder das, was er weiß, noch das, was er nicht weiß? Denn das, was er weiß, wird er wohl nicht erforschen wollen; er weiß es ja, und für so etwas braucht es kein Erforschen mehr. Aber auch das nicht, was er nicht weiß, denn da weiß er ja nicht, was er erforschen soll.

Das Entscheidende ist nicht, dass Elias eventuell eines Tages auftaucht. Das Entscheidende ist, dass die Türen jedes Jahr für die Dunkelheit offen gelassen werden. Die jüdische Tradition besagt, dass manche Fragen wichtiger sind als die Antworten, und das ist auch hier der Fall. Die Frage, so wie sie die Wasserfotografin gestellt hatte, war wie eine Glocke, deren Nachklänge noch lange in der Luft hängen und immer leiser werden, aber nie einfach aufzuhören scheinen. Sokrates oder Platon scheinen fest entschlossen, alles zu tun, damit sie aufhören. Hier stellt sich die Frage, die sich bei vielen Kunstwerken stellt: Hat das Kunstwerk die Bedeutung, die der Künstler oder die Künstlerin ihm geben wollte, mit anderen Worten, hat Menons Argument die Bedeutung, die er oder Platon ihm geben wollten? Oder geht sie darüber hinaus? Denn letzten Endes ist es keine Frage danach, ob man das Unbekannte kennen, ob man in ihm ankommen kann, sondern vielmehr die Frage danach, wie man es suchen, wie man den Weg dorthin zurücklegen soll.

Während des Großteils dieses Dialogs widerlegt Sokrates Menon und greift ihn mithilfe von Logik, Argumenten und sogar Mathematik an. Bei dieser Frage weicht er jedoch auf den Mystizismus aus, das heißt auf durch nichts zu untermauernde, poetische Behauptungen. Nach seiner ersten abweisenden Antwort fügt er hinzu:

Was sie aber sagen, ist Folgendes: – überlege dir, ob dir richtig scheint, was sie sagen – sie behaupten, die Seele des Menschen sei unsterblich; sie beendige zwar ihr Dasein, was man »sterben« nenne, erstehe aber immer wieder; zugrunde gehe sie nie. Deswegen müsse man sein Leben so fromm als möglich verbringen, denn von welchen Persephone die Sühne alten Leides / empfangen, deren Seelen gibt sie zur Sonne hinauf / im neunten Jahre zurück; / aus ihnen erstehen erhabene Kön’ge und Männer, / behende in Kraft und gewaltig an Weisheit; / in kommender Zeit aber nennen die Menschen sie heil’ge Heroen. Da die Seele also unsterblich ist und immer wieder ersteht, und da sie alles gesehen hat, was hier und was im Hades ist, so ist auch nichts, so gibt es auch nichts, was sie nicht kennt; es ist deshalb nicht verwunderlich, daß sie sich … an das erinnern kann, was sie schon gewußt hat.

Sokrates sagt, man könne das Unbekannte kennen, weil man sich daran erinnert. Man kenne bereits das, was unbekannt zu sein scheint; man sei bereits hier gewesen, allerdings nur als jemand anderes. Das verlagert das Unbekannte lediglich vom unbekannten Anderen zum unbekannten Ich. Menon sagt: »Ein Geheimnis.« Sokrates sagt: »Im Gegenteil, ein Geheimnis.« So viel steht fest. Es kann eine Art Kompass sein.

Was folgt, sind einige meiner eigenen Landkarten.

Das Blau der Ferne

Die Welt ist an den Rändern und in den Tiefen blau. Dieses Blau ist das Licht, das verloren gegangen ist. Das Licht am blauen Ende des Spektrums pflanzt sich nicht über die ganze Distanz von der Sonne bis zu uns fort. Zwischen den Luftmolekülen verteilt es sich, im Wasser wird es gestreut. Wasser ist farblos: Flaches Wasser scheint die Farbe dessen zu haben, was sich darunter befindet, doch tiefes Wasser ist voll von diesem gestreuten Licht – je sauberer das Wasser, desto tiefer das Blau. Aus genau dem gleichen Grund ist der Himmel blau, doch das Blau am Horizont, das Blau der Erde, das sich im Himmel aufzulösen scheint, ist ein tieferes, träumerischeres, melancholischeres Blau, das Blau in den entlegensten Gegenden, dort, wo man kilometerweit sehen kann, das Blau der Ferne. Dieses Licht, das uns nicht berührt, das sich nicht über die ganze Distanz fortpflanzt, das Licht, das verloren geht, schenkt uns die Schönheit der Welt, die zu einem großen Teil die Farbe Blau hat.

Seit vielen Jahren schon bewegt mich das Blau am äußersten Rand des Sichtbaren, diese Farbe der Horizonte, der fernen Bergketten, all dessen, was weit weg ist. Die Farbe jener Ferne ist die Farbe einer Emotion, die Farbe der Einsamkeit und des Begehrens, die Farbe von dort, gesehen von hier, die Farbe von dort, wo man nicht ist. Und die Farbe von dort, wo man nie hingehen kann. Denn das Blau befindet sich nicht an jenem kilometerweit entfernten Ort am Horizont, sondern in der atmosphärischen Entfernung zwischen einem selbst und den Bergen. »Verlangen«, sagt der Dichter Robert Hass, »weil sich Begierde aus unendlichen Distanzen addiert.« Blau ist die Farbe des Verlangens nach den fernen Orten, an denen man nie ankommt, nach der blauen Welt. Als ich an einem milden, feuchten Frühlingsmorgen einer Straße folgte, die sich über den gleich nördlich der Golden Gate Bridge gelegenen 750 Meter hohen Mount Tamalpais schlängelt, bot sich mir hinter einer Kurve plötzlich ein Bild von San Francisco in den verschiedensten Blauschattierungen, eine Stadt in einem Traum, und ich war von der enormen Sehnsucht erfüllt, in dieser Stadt der blauen Hügel und blauen Häuser zu leben, obwohl ich doch dort wohne. Ich war nach dem Frühstück losgefahren – weder der braune Kaffee noch die gelben Eier oder die grünen Ampellichter hatten mich mit einem derartigen Verlangen erfüllt, und außerdem freute ich mich bereits darauf, an der Westseite des Berges wandern zu gehen.

Wir betrachten unser Begehren nach etwas als ein Problem, das es zu lösen gilt, analysieren, worauf das Begehren gerichtet ist, und konzentrieren uns dann auf diesen Gegenstand und darauf, wie wir ihn uns beschaffen können, statt auf die Natur und das Gefühl des Begehrens, obwohl es oft die Distanz zwischen uns und dem Objekt unseres Begehrens ist, die den Zwischenraum mit dem Blau der Sehnsucht füllt. Manchmal frage ich mich, ob man es mithilfe eines kleinen Perspektivenwechsels nicht als ein eigenständiges Gefühl schätzen lernen könnte, da das Begehren genauso zum menschlichen Dasein gehört wie das Blau zur Distanz. Ob man in diese Ferne hineinblicken kann, ohne sie gleich aufheben zu wollen, ob man seine Sehnsucht genauso annehmen kann wie die Schönheit jenes Blaus, das man nie besitzen kann. Denn ein Teil dieser Sehnsucht wird, so wie das Blau der Ferne, durch Beschaffungen oder Ankünfte nur verlagert, nicht gestillt, so wie die Berge aufhören, blau zu sein, sobald man in ihnen ankommt, und das Blau stattdessen die nächste Ferne färbt. Irgendwo hier liegt der geheimnisvolle Grund dafür, dass Tragödien schöner sind als Komödien und dass uns die Traurigkeit bestimmter Lieder und Geschichten einen so großen Genuss bereitet. Irgendetwas ist immer weit weg.

Die Mystikerin Simone Weil schrieb an einen Freund auf einem anderen Kontinent: »Lieben wir diese ganz aus Freundschaft zusammengesponnene Ferne, die, die sich nicht lieben, werden nicht getrennt.« Für Weil ist die Liebe die Atmosphäre, die die Distanz zwischen ihr und ihrem Freund füllt und färbt. Selbst wenn dieser Freund dann auf der Türschwelle steht, bleibt etwas an ihm unsagbar fern: Tritt man vor, um ihn zu umarmen, so schlingen sich die Arme um ein Mysterium, um das Unbekannte, das Nicht-Kennbare, um das, was sich nicht besitzen lässt. Die Ferne sickert selbst in das Allernächste. Schließlich kennen wir ja kaum unsere eigenen Tiefen.

Im 15. Jahrhundert begannen europäische Maler, das Blau der Ferne zu malen. Frühere Künstler hatten sich in ihren Werken für das, was weit entfernt war, nicht übermäßig interessiert. Manchmal waren die Heiligen und Patrone auf Goldgrund gemalt, manchmal wölbte sich der Raum, als sei die Erde tatsächlich eine Kugel, der Mensch allerdings in ihrem Inneren. Jetzt legten Maler mehr Wert auf Naturtreue, auf eine Darstellung der Welt so, wie sie sich dem menschlichen Auge präsentierte, und so packten sie zu jener Zeit, als die Kunst der Perspektive gerade erst entdeckt wurde, die Gelegenheit beim Schopf, das Blau der Ferne als ein zusätzliches Mittel einzusetzen, um ihren Werken Tiefe und Dimension zu verleihen. Oft scheint der blaue Streifen am Horizont übertrieben: Er erstreckt sich zu weit nach vorn, wechselt zu abrupt die Farbe, ist zu blau, als frohlockten sie so sehr über dieses Phänomen, dass sie zu viel des Guten taten. Unterhalb des Himmels, über dem vermeintlichen Sujet des Gemäldes, in den Bildräumen vor dem Horizont, malten sie eine kleine blaue Welt: blaue Schafe, einen blauen Schäfer, blaue Häuser, blaue Berge, eine blaue Straße und einen blauen Wagen.

Man sieht sie immer wieder, die blaue Weite, die in Solarios Gemälde von 1503 auf der gleichen Höhe wie der gekreuzigte Christus beginnt; die in einem Gemälde aus Raphaels Werkstatt über die Ruinen hinausgeht, vor denen eine wunderschöne Jungfrau Maria ihren auf einem Tuch von hellerem Blau schlafenden Sohn bewundert; in Niccolò dell’Abbates Gemälde von 1571, auf dem eine blaue Stadt und blauer Himmel zu sehen sind, hinter einer klassischen Gruppierung von, wie es aussieht, Grazien, die, inkongruent wirkend und wie nebenbei, Moses aus dem Schilf eines prächtigen Flusses ziehen, dessen Farbe aus dem Hintergrund zu kommen scheint, wie ein Färbemittel, das sich immer weiter ausbreitet. Man findet sie sowohl in der italienischen als auch in der nordischen Malerei. In Hans Memlings Auferstehungs-Triptychon von circa 1490 fahren die Zehen und der Gewandsaum einer schwebenden Figur aus dem Bildrahmen hinaus, gewagt beschnitten wie eine Figur auf einer Fotografie, obwohl es ja von Wundern keine Fotografien gibt. Darunter blickt eine Gruppe braunhaariger Männer, die Hände im Gebet und voller Verwunderung erhoben, aufwärts. Direkt über ihren Köpfen sieht man das nahe Ufer eines Sees. Der See ist blau, und dahinter liegen blaue Berge, als gäbe es drei Reiche: den Himmel, in dessen Sonnenuntergangsfarben die schwebende Figur hineinreicht, die vielfarbige Erde unten und das ferne blaue Reich, das weder zum einen noch zum anderen gehört, das nicht Teil dieser christlichen Dualität ist. In Joachim Patinirs berühmtem, rund dreißig Jahre zuvor gemaltem Bild vom Hl. Hieronymus in der Wüste ist diese Wirkung sogar noch ausgeprägter. Hieronymus kauert, unter einem zerfetztem Pultdach, in einer Art Unterstand vor einer tiefgrauen Felsformation, und die Welt dahinter ist zum Großteil blau – ein blauer Fluss, blaue Felsen, blaue Berge –, als sei er nicht vor der Zivilisation ins Exil geflohen, sondern vor jener besonderen Himmelstönung. Allerdings ist Hieronymus, genau wie eine der Figuren in Memlings Gemälde, in ein mattes Blau gekleidet, so wie viele Marien wirken, als wären sie in die Ferne gekleidet, als hätte sich ein Teil dieser mehrdeutigen Ferne nach vorne verschoben.

In seinem Bildnis der Ginevra de’ Benci von 1474 malte Leonardo da Vinci im Hintergrund lediglich einen schmalen Streifen blauer Bäume und blauen Horizonts, hinter den bräunlichen Bäumen, die die strenge, blasse Frau einrahmen, deren Oberteil mit Bändern desselben Blautons zusammengeschnürt ist, doch er hatte ja eine Vorliebe für stimmungsvolle Wirkungen. Er schrieb, wolle man Gebäude so malen, dass

eines weiter entfernt ist als das andere, dann mußt du das mit einer etwas dichteren Luft darstellen … Also wirst du das erste Gebäude … in seiner natürlichen Farbe malen, das weiter entferntere weniger scharf umrissen und blauer, und dasjenige, das noch einmal so weit entfernt sein soll, male noch einmal so blau; dasjenige, das fünfmal so weit entfernt sein soll, male fünfmal so blau …

Die Maler schienen ganz hingerissen von dem Blau der Ferne; sieht man sich diese Gemälde an, kann man sich eine Welt vorstellen, in der man durch eine weite Fläche mit grünem Gras, braunen Baumstämmen und weiß getünchten Häusern gehen könnte, und irgendwann käme man dann im blauen Land an: Gras, Bäume und Häuser würden blau, und blickte man an sich herunter, wäre man eventuell auch blau, so wie der hinduistische Gott Krishna.

 

In den Cyanotypien, den blauen Fotografien, des 19. Jahrhunderts, wurde diese Welt dann Wirklichkeit – »cyan« bedeutet »blau«, obwohl ich immer gedacht hatte, dieser Begriff beziehe sich auf das Cyanid, mit dessen Hilfe die Abzüge hergestellt wurden. Cyanotypien waren billig und leicht herzustellen, weshalb manche Amateure ausschließlich mit der Cyanotypie arbeiteten und manche professionellen Fotografen das Medium benutzten, um Probeabzüge anzufertigen, die sie so behandelt hatten, dass die Bilder innerhalb weniger Wochen verblassen und verschwinden würden: Diese verschwindenden Bilder waren als Muster gedacht, von denen man dauerhafte Abzüge in anderen Farbtönen bestellen konnte. In den Cyanotypien betritt man eine Welt, wo Dunkel und Hell blau und weiß sind, wo Brücken und Menschen und Äpfel so blau wie Seen sind, als wäre alles, was man sieht, geprägt durch die melancholische Stimmung, die das Cyanid hier hervorruft. Auf Postkarten überlebte diese Farbe bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts: Ich besitze einige Karten von blauen Palästen und blauen Gletschern, blauen Denkmälern und blauen Bahnhöfen.

Es gibt ein Fotoalbum mit ovalen Bildern, aufgenommen gegen Ende des 19. Jahrhunderts von einem Mann namens Henry Bosse. Es sind alles Bilder vom oberen Mississippi, und es sind alles blaue Cyanotypien. Zunächst scheinen sie ein Zauberreich darzustellen, den Fluss, wie er einmal war, doch Bosse arbeitete mit den Ingenieuren zusammen, die den Strom regulierten und begradigten, die aus einem wilden, mäandernden Ungetüm mit Inseln und Strudeln und sumpfigen Ufern ein schmaleres und schneller fließendes Gewässer machten, einen ausgebaggerten, eingedämmten Strom für einen zügigen Handelsverkehr. Sie bauten Flügeldeiche, die in den Fluss hineinragten, die Sedimente festhielten und die natürlichen Flussränder auslöschten, baggerten ihn aus und versiegelten ihn, doch Bosses Bilder sind schöner, als es reine Dokumente und Bauunterlagen sein müssen – jedes einzelne eine Kamee in Blau, blau bis hin zum Vordergrund, den blauen Rangierbahnhöfen und den sich im Bau befindlichen blauen Brücken. Doch in der Welt, in der wir tatsächlich leben, ist die Ferne, sobald wir in ihr ankommen, nicht mehr fern, nicht mehr blau. Aus der Ferne wird Nähe, allein es sind nicht dieselben Orte.

Während eines trockenen Jahres sank der Wasserspiegel im Great Salt Lake einmal so stark ab, dass ein Großteil des Sees zu Land wurde, und ich ging hinaus in Richtung Antelope Island, das über seinem Spiegelbild schwebte, ein solides, symmetrisches Objekt wie ein Edelstein, im fernen Blau vor mir schwebend. Was bis vor Kurzem noch See gewesen war, war jetzt ein kilometerweit reichendes Puzzle aus Wasserlachen und feuchtem und trockenem Sand, aus seichten Lagunen mit klarem Wasser und langen Sandfingern, die auf die Insel und ihr Spiegelbild in dem in der Ferne gelegenen tieferen blauen Wasser zuliefen. Manchmal endeten die Sandbänke im Wasser und ich musste mir einen anderen Weg suchen, doch konnte ich stundenlang und kilometerweit mehr oder weniger direkt auf die Insel zugehen. Der Boden, über den ich ging, war zuweilen gerippter Sand, zuweilen glatt, manchmal brach er unter mir ein, als lägen Luftlöcher darunter, manchmal quatschte er unter meinen Füßen, sodass meine Fußabdrücke dort, wo mein Gewicht das Wasser verdrängt hatte, von hellerem Sand umgeben waren. Da sich hinter mir ein langes Band von Fußstapfen entrollte, konnte ich mich nicht wirklich verlaufen, doch ich verlor die Zeit aus den Augen, verlor mich auf jene andere Art, die nichts damit zu tun hat, dass man sich verirrt, sondern damit, dass man dort eintaucht, wo alles andere wegfällt.

Hier und da lagen kleine Zweige mit braunen Eichenblättern auf dem Boden, obwohl es in Sichtweite keinerlei Bäume gab und das Ufer weit entfernt war; da und dort durchnässte, zusammengeschrumpfte Klumpen aus Federn und Knochen, die einmal Vögel gewesen waren. Wie die Blätter dort hingekommen waren, wie die Vögel gestorben waren, war nicht zu ergründen – diese Tiefen ließen sich nicht ausloten. Hinter mir sah ich, hoch oben in die Felsen und Berge jenseits des Great Salt Lake eingegraben, die Wasserlinie des Lake Bonneville, der so viel größer, so viel tiefer gewesen war, damals, vor langer Zeit, in einer feuchteren Erdepoche, als in Arizona Redwood-Bäume wuchsen und das Death Valley ebenfalls ein See war. Zehntausend Jahre oder mehr ist es her, seit es diesen See nicht mehr gibt, doch sein Ring um die ganze Landschaft herum machte mir klar, dass der Boden, über den ich lief, einmal tief unter Wasser gelegen hatte, genau wie das Strandgut und der weiche Sand mich daran erinnerten, dass ich dort vor nicht allzu langer Zeit hätte rudern oder schwimmen können. Dies war neues Land, temporäres Land, das im Winter wieder unter Wasser liegen würde, und es könnten Jahre vergehen, bis man dort wieder entlanglaufen konnte, oder auch Jahrhunderte. Je weiter ich ging, desto größer und klarer wurde Antelope Island, golden im harten Licht, blieb jedoch stets weit vor mir, wie ein Traum oder eine Hoffnung. Das übrig gebliebene Wasser war hellblau, und an jenem sengend heißen Oktobernachmittag traf es in weiter Ferne mit einem blassen Himmel zusammen, sodass der Unterschied zwischen Wasser und Luft nur schwer zu erkennen war.

Während ich gedankenverloren weiterlief, herausgelöst aus der Verankerung in der Zeit, musste ich an den Vortrag denken, den ich in Salt Lake City gehalten hatte. Bei meinem Versuch, die Tiefe der derzeitigen Veränderungen zu beschreiben, die zur Kenntnis zu nehmen wir versäumen, hatte ich eine Geschichte von einem anderen See erzählt, vom Titicacasee. Als ich zwei war, lebten wir ein Jahr lang in Lima, und einmal machten wir alle, Mutter, Vater, die Brüder und ich, einen Ausflug in die Anden und fuhren dann über den Titicacasee von Peru nach Bolivien. Der Titicacasee – wie der Lake Tahoe, der Lago di Como, der Bodensee und der Lago de Atitlán einer jener hoch gelegenen Seen, die wie blaue Augen zum blauen Himmel zurückstarren.

Vor ein paar Jahren holte meine Mutter eines Tages aus ihrer Zederntruhe die türkise Bluse, die sie mir auf jenem Ausflug nach Bolivien gekauft hatte, Indianerkleidung im Miniaturformat, die ich damals zu besonderen Anlässen getragen hatte. Als sie die kleine Bluse auseinanderfaltete und mir überreichte, kollidierte die lebendige Erinnerung daran, sie einmal getragen zu haben, auf schockierende Weise mit der Tatsache, dass sie so winzig war, dass die Ärmel nicht einmal 30 Zentimeter lang waren, dass darin nur ein klitzekleiner Grillenkäfig von einem Brustkorb, der nicht mehr der meine war, Platz hatte; der Schock rührte daher, dass ich mich zwar noch lebhaft daran erinnern konnte, wie es sich in dieser Brokatbluse angefühlt hatte, nicht aber daran, dass ich darin so winzig klein gewesen war, so vollkommen anders als die Erwachsene, die diese Erinnerung hatte. Die Kontinuität der Erinnerung konnte nicht die Kluft ermessen, die zwischen dem Körper eines kleinen Kindes und dem einer Frau besteht.

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