Читать книгу: «Der Nagel», страница 4

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Stockholm, Mittwoch, 31. Mai 1944, 09:42 Uhr

Magnus war einer der Jüngeren. Er hatte seine Ausbildung mit Bravour abgeschlossen und sich danach beim schwedischen Geheimdienst beworben. Getrieben von der Hoffnung, dass dieser mit den neuesten technischen Gerätschaften ausgestattet war und sich ihm dadurch die Möglichkeit bot, sein Wissen auf dem aktuellen Stand der Technik halten zu können. Und mit etwas Glück anderen immer ein wenig voraus zu sein, da er damit rechnete, dass viele neue Entwicklungen zuerst bei den Geheimdiensten zum Einsatz kamen, bevor sie im zivilen Leben Gebrauch fanden. Gepaart mit - wie er immer erzählte - spannenden Detektivgeschichten versprach er sich so für seine Zukunft eine interessante und abwechslungsreiche Tätigkeit.

Auch wenn sich dies anfänglich nicht bestätigte, so änderte sich das schlagartig mit Ausbruch des europäischen Krieges und erreichte einen ersten Höhepunkt mit der Besetzung von Dänemark und Norwegen durch die deutschen Truppen im Frühjahr 1940. Trotz oder gerade wegen der schwedischen Neutralität, versuchten die Kriegsgegner England und Deutschland ihrerseits einen gewaltigen Druck auszuüben, damit Schweden die jeweilige Gegenseite nicht mit kriegswichtigen Rohstoffen versorgte oder anderweitig unterstützte. Nach der Niederlage Frankreichs war das Deutsche Reich auf dem Kontinent die herrschende Macht. Das Land konnte nun seinen Einfluss massiv verstärken, drohte doch dahinter immer die Gefahr einer Invasion Schwedens, da deutsche Truppen von Norwegen aus direkt und mit Dänemark im Süden unmittelbar an den schwedischen Landesgrenzen standen. Daher waren für die Regierung in Stockholm Informationen aus diesen beiden Ländern für geschicktes politisches Taktieren unerlässlich. Schließlich wollte man sich keiner unnötigen Gefahr aussetzen. So hatte der Geheimdienst an verschiedenen Stellen der Stadt Position bezogen, um die Gespräche der Krieg führenden Staaten abzuhören und auszuwerten.

Auf jeden Fall gab es reichlich zu tun und Magnus empfand seitdem seine Tätigkeit nie als langweilig. Die Mischung machte es und es wechselten sich das Abhören von Telefonaten und die Beschattung verdächtiger Personen in der Stadt ab. Beides hatte seinen Reiz, wenngleich gerade im Sommer die Außeneinsätze den positiven Nebeneffekt mit sich brachten, die eine oder andere hübsche Frau ebenfalls im Auge behalten zu können.

Zurzeit aber wurde er im Haus gebraucht, da der aktuelle Funk- und Telefonverkehr in den letzten Wochen stark angestiegen war. Alle erwarteten für dieses Frühjahr die Invasion der Alliierten in Frankreich und ein solcher Einsatz brachte entsprechend viel Arbeit für jede Seite mit sich.

Mit einem frisch gebrühten Kaffee in der Hand betrat er sein Büro. Neben dem neidischen Blick der Kollegen folgte ihm der aromatische Duft gemahlener Kaffeebohnen bis an seinen Platz. Er setzte den Kopfhörer auf und nahm genussvoll den ersten Schluck des heißen Getränks. Ein wohliges Gefühl durchzog seinen Körper und er dachte für einen Moment an das frühlingshafte Wetter draußen, an die jungen Frauen, denen er bei seiner letzten Beschattung zugelächelt hatte und an die anstehenden Vorstellungsgespräche am Nachmittag, die sein Vorgesetzter Sven noch mit mehreren Damen haben würde.

Sven war nur ein paar Jahre älter, hatte die Leitung dieser Nebenstelle des Geheimdienstes inne und war damit auch für das Personal verantwortlich. Das Verhältnis untereinander war sehr locker, solange alle ihre Aufgaben pflichtbewusst erledigten. Sven war sehr umgänglich und ließ seinen Leuten gewissen Freiheiten genauso, wie er ihnen eigenverantwortliche Aufgaben übertrug.

Er schätzte Magnus für seine Vielseitigkeit. Da sie hier nur eine kleine Nebenstelle waren, war ein Mitarbeiter wie er, der technisch sehr versiert war, deutsch und englisch fließend sprach und auch in Außeneinsätzen eingesetzt werden konnte, Gold wert. So konnten sie viele Dinge in Eigenregie lösen, ohne dafür auf weitere Spezialisten aus der Zentrale zurückgreifen zu müssen. Technische Probleme oder anstehende Reparaturen löste Magnus mit großer Begeisterung selbst. Nur beim Steno tat er sich schwer. Alles in allem ein Mitarbeiter, den man uneingeschränkt einsetzen konnte. Dafür war er hochgeschätzt.

Ein weiterer Schluck folgte dem ersten, als Magnus im Kopfhörer das bekannte Klingelgeräusch hörte. Ein Anruf in der deutschen Gesandtschaft in der Hovslagargatan 2, deren Leitung er gerade abhörte. Er stellte umgehend die Tasse auf die Seite, zog seinen Block heran und nahm den Stift in die rechte Hand. Mit der linken drehte er am Lautstärkeregler, um diese den aktuellen Gegebenheiten anzupassen. Der Anruf wurde bereits nach dem dritten Klingeln angenommen. Kein Name, kein sonstiger Hinweis auf denjenigen, der das Gespräch entgegennahm. Lediglich ein »Hej« war zu hören. Im Gegensatz zu der männlichen Stimme des Angerufenen begann daraufhin eine weibliche, ohne Begrüßung zu sprechen. Magnus notierte die wenigen Sätze auf seinem Block. Es war klar, dass auf der einen Seite ein Deutscher saß, was alleine schon durch den Anruf in der deutschen Gesandtschaft zu erwarten war. Auf der anderen Seite sprach die Frau schwedisch. Allerdings mit britischem Akzent, es sich also um eine Engländerin handeln musste. Allein das war schon mal interessant. Für gewöhnlich gab es in diesen Kriegszeiten wenig telefonischen Kontakt zwischen den beiden Gegnern, daher konzentrierte er sich darauf, alle Sätze sauber und fehlerfrei mitzuschreiben. Zum Glück dauerte das Gespräch nicht sonderlich lange. Steno war einfach nicht sein Ding. Da schraubte er doch viel lieber an den Anlagen herum. Einige Sekunden später war der Anruf zu Ende. Es war ein einseitiges Telefonat gewesen. Der Angerufene hatte zwischen der Begrüßung »Hej« und seinem »Tack« am Ende nichts gesagt. Magnus Intuition sagte ihm, dass das Gespräch wichtig war, und gab es sofort zur Reinschrift weiter. Nur kurze Zeit später ging er mit einem fehlerfrei abgetippten Text in das Nachbarbüro zu Sven.

Ohne Begrüßung, das hatten sie schon in der Küche beim Kaffeeholen getan, fasste Magnus das abgehörte Telefonat zusammen. »Anruf einer Engländerin in der deutschen Gesandtschaft. Das könnte interessant werden.«

Sven sah von seinem Schreibtisch auf und nahm Magnus das ihm entgegen gestreckte Papier ab. Er überflog die Zeilen und an seinen Augen konnte Magnus erkennen, dass er den Text zweimal durchging. Dann lehnte er sich in seinem Stuhl zurück und bat Magnus um seine Einschätzung.

«Wie würdest du den Inhalt interpretieren?« Er gab ihm den Zettel zurück.

»Der Text ist kurzgehalten«, begann Magnus. »Sieht nach Klarschrift aus. Spricht nicht für einen Profi. Was aber am meisten überrascht, dass der Name Carl Richert auftaucht.«

»Sehe ich auch so«, bestätigte Sven. »Das ist der Sohn des schwedischen Gesandten in Deutschland. Sieht ganz danach aus, als ob der heute aus Berlin zurückkommt.«

»Was aber könnte die Deutschen daran interessieren? Wenn sie was von ihm wollten, hätten sie ihn viel leichter vor dem Abflug abfangen können. Hier geht das nicht so einfach.«

»Ruf beim UD an. Sie sollen uns informieren, sobald Carl da ist. Dann will ich ihn umgehend sprechen.«

»Mache ich«, antwortete Magnus und wandte sich zum Gehen.

»Und bleib dran. Vielleicht kommen noch weitere Gespräche.«

Stockholm, Mittwoch, 31. Mai 1944, 11:15 Uhr

Der Flug XA355 bekam sofort Landeerlaubnis, als sich der Pilot am Tower meldete. Er drehte noch eine halbe Schleife über der Stadt, um die Landebahn von Norden anzufliegen. Carl saß am Fenster und schaute nach unten. Viele kleine Seen und Wasserstraßen spiegelten sich zwischen Häusern und Waldgebieten in der Sonne und ein warmes Gefühl durchfuhr seinen Bauch. Er war wieder daheim. Die letzte Anspannung fiel von ihm ab und er sackte weiter in seinen Stuhl hinein. Er hatte es geschafft. Er war mit hochbrisanten Unterlagen durch eine Straßensperre der SS gekommen, hatte die Kontrollen am Flughafen ohne Probleme passiert und war mit rasendem Herzen in die Maschine gestiegen, die ihn nach Stockholm bringen sollte.

Unzählige Male waren ihm auf dem vergangenen Flug die Vorgänge in Berlin durch den Kopf gegangen. Besonders die Situation, als der Soldat seine Koffer entdeckte und aus dem Wagen gezogen hatte. Sein Herz raste wie wild und sein Kopf drohte in dem Augenblick vor Anspannung und Angst fast zu zerspringen. Er wollte fliehen, hatte die Häuserfront abgesucht nach einem Durchgang, durch den er hätte verschwinden können. Da war etwas gewesen. Fünfzig Meter hatte er geschätzt. Er hatte gezögert. Gott sei Dank! Noch nie hatte er solche Angst um sein Leben gehabt und er war sich sicher, dass man ohne Zögern geschossen hätte. Niemand hätte es interessiert, dass er einen diplomatischen Pass besaß. Doch sein Zögern hatte ihn gerettet. Plötzlich war ein SS-Offizier erschienen. Die Soldaten hatten Haltung angenommen und der Vorgesetzte gab ein paar kurze Anweisungen, die sie mit »Jawohl« bestätigten. Der Soldat mit den beiden Koffern in den Händen beeilte sich, sie wieder in den Wagen zu legen. Dann murmelte er etwas von »Entschuldigung« und hatte Carl angedeutet, wieder einzusteigen. Er gab ihm seinen Ausweis und trat dann ein paar Schritte zurück. Carl war eingestiegen und musste seine rechte Hand über die linke legen, so stark zitterte die. Schweißperlen rannen ihm unablässig über die Stirn. Er atmete langsam ein und aus und versuchte sich zu beruhigen. Auf der anderen Seite des Fahrzeugs hatte auch sein Fahrer den Ausweis zurückbekommen. Er startete den Motor und sie fuhren in Richtung Tempelhof, wo bereits die schwedische Maschine wartete. Er wusste, dass dies sein letzter Flug von Berlin nach Stockholm war und dass er nicht zurückkommen würde. Er fuhr sich mit einem Taschentuch über die Stirn, als sie den Flughafen erreichten. Die fünfzig Meter hätte er nie geschafft.

Erst als sie den deutschen Luftraum hinter sich gelassen hatten, ließ die Anspannung etwas nach. Jetzt freute er sich auf Zuhause. Auf das Haus seiner Eltern, eine warme Badewanne und das Gefühl, völlig frei und unbeschwert tun zu können, was man mochte. Ohne irgendwelche Einschränkungen, ohne der ständigen Bedrohung durch Luftangriffe, ohne kaputte Straßen und zerstörte Häuser, ohne Menschen, die nicht mehr lachen konnten. Er freute sich darauf, endlich wieder bei seinen Freunden und seiner Mutter zu sein.

Der Flughafen Bromma war vor acht Jahren gebaut worden, lag außerhalb der Stadt und wurde für alle inländischen und internationalen Flüge eingesetzt.

Die Maschine näherte sich dem Boden, und als Carl die gleichmäßige Beleuchtung zu beiden Seiten der Betonstrecke sah, hatte er das Gefühl, endlich wieder in ein Leben in geordneten Bahnen zurückzukehren. Nur ein leichtes Rütteln verriet, dass der Pilot eine Bilderbuchlandung hingelegt hatte. Dann drückte ein starkes Bremsen seinen Körper in den Gurt.

Carl schaute aus dem Fenster und sah die Flughafengebäude auf sich zukommen. Kurze Zeit später rollten sie an einigen abgestellten Flugzeugen vorbei und langsam drehte sich die Spitze der Maschine auf das Gebäude am Ende des Rollfelds zu. Am liebsten würde er sofort nach Hause fahren, doch er musste noch mit dem Koffer zum Außenministerium. Er hatte bereits einen Wagen bestellt, der ihn zu den Regierungsgebäuden bringen sollte. Vielleicht holte ihn ja Björn ab. Zu ihm hatte er in den letzten Jahren ein freundschaftliches Verhältnis aufgebaut und er würde sich freuen, ihn zu sehen. Trotzdem nahm er sich vor, wirklich nur den Koffer abzugeben. Dann wollte er so schnell wie möglich nach Hause, wo ihn seine Mutter bereits erwartete. Die Maschine rollte auf das Terminal zu und kam einige Meter davor zum Stehen. Der Pilot schaltete die Motoren ab.

Carl schloss die Augen und genoss für einen kurzen Moment die Ruhe. Dann atmete er tief ein und erhob sich. Er zog sein Jackett an, griff nach den beiden Koffern und ging mit eingezogenem Kopf den Gang des Flugzeugs nach vorne. Ein Flugbegleiter hatte bereits die Tür geöffnet, eine Treppe wurde herangeschoben. Carl trat an den Ausgang und ließ seinen Blick über das Flughafengelände streifen. An den Gebäuden hatte sich seit dem letzten Mal nichts verändert. Er ging ein Stück hinaus auf die Plattform und vernahm jetzt im Hintergrund die Geräusche der Bauarbeiten an der neuen Start- und Landebahn. Er setzte den rechten Fuß behutsam auf die erste Stufe, dann ging er langsam Schritt für Schritt nach unten. »Hej då«, hörte er den Flugbegleiter noch sagen, dann setzte er bereits einen Fuß auf die Erde und eine unheimliche Erleichterung durchfuhr seinen Körper.

Er steuerte auf den Eingang der großen Halle zu. Ein Mitarbeiter des Flughafens sah ihn mit den Koffern, trat an die Tür und hielt sie ihm auf.

»Tack«, bedankte sich Carl und ging in die Halle. Er begab sich sofort zur Einreisekontrolle, setzte die Koffer ab und zeigte seinen Diplomatenausweis. Der Beamte erkannte ihn, nickte und Carl beeilte sich beim Durchqueren der Halle. Er verließ das Gebäude auf der anderen Seite und sah den schwarzen Volvo mit dem Fahnenständer auf dem Kotflügel zwischen den wartenden Fahrzeugen. Der Mann, der an der Fahrertür lehnte, sah herüber, winkte und umrundete dann den Wagen, um ihm die Tür zu öffnen.

»Hej Björn«, strahlte Carl, der sich sichtlich freute und dessen Stimmung sich weiter hob. Er warf die beiden Koffer auf den Rücksitz, dann wandte er sich seinem Freund zu und umarmte ihn.

»Välkomen«, begrüßte ihn Björn. Auch er war heilfroh, ihn gesund wiederzusehen. »Und, alles in Ordnung?«

Carl nickte. Er war überglücklich, wieder in Stockholm zu sein. Auch wenn er sich nach der Landung schon befreit gefühlt hatte, die Umarmung seines Freundes ließ noch einmal eine Woge der Erleichterung durch seinen Körper fahren. Die restliche Anspannung fiel von ihm. Er fühlte seine Beine schwach werden und bekam feuchte Augen.

Björn legte ihm die Hand auf den Arm.

»Komm, lass uns von hier verschwinden.«

Carl sah, dass Björn auf dem Beifahrersitz einen großen Karton stehen hatte.

»Lass ihn stehen«, entschied er kurzerhand, stieg hinten ein und rutschte in die Mitte des Rücksitzes. Björn schloss hinter ihm die Tür, ging um das Auto herum und nahm auf dem Fahrersitz Platz. Er drehte sich in seinem Sitz nach hinten und grinste Carl fragend an.

»Na, wohin darf‘s denn gehen?«

»Ich muss noch zum UD, einen Koffer abgeben, dann nach Hause.«

Das UD war die schwedische Abkürzung für das Außenministerium in Stockholm.

»Dann wollen wir mal keine Zeit verlieren.« Björn startete den Motor, fuhr aus dem Parkplatz heraus und beschleunigte.

»Du kannst dir nicht vorstellen, wie froh ich bin, wieder hier zu sein«, sagte Carl und schaute aus dem Fenster, um die Umgebung in sich aufzunehmen. Björn sah in den Rückspiegel und nickte. Dadurch fiel ihm nicht auf, dass ein großer, dunkler Mercedes vier Plätze hinter ihnen ebenfalls den Parkbereich verließ.

Nachdem der Wagen die Flughafengebäude hinter sich gelassen hatte, machte die Straße eine Linkskurve, um nach einigen Hundert Metern nach rechts Richtung Stockholm abzubiegen. Es war wenig los und Björn beschleunigte den PV 51 über die zulässige Höchstgeschwindigkeit auf dieser Strecke hinaus. Mit gleicher Geschwindigkeit folgte ihnen der dunkle Mercedes.

»Na, wie geht es dir, wie sieht es denn aus in Deutschland?« Björn interessierte sich sehr dafür, was sich alles durch den Krieg veränderte.

»Es wird immer schlimmer. Die Luftangriffe zerstören immer größere Bereiche, es gibt kaum noch Möglichkeiten, ein halbwegs normales Leben zu führen, soweit man das in einem Krieg dieser Dimension überhaupt kann. In der Stadt kann man sich nur noch schwer bewegen, zumal die öffentlichen Verkehrsmittel nur eingeschränkt fahren und die Straßen durch die Luftangriffe einfach nicht mehr nutzbar sind. Für unsere Fahrzeuge bekommen wir nur noch selten Benzin, sodass wir oft laufen oder uns auch mal aufs Fahrrad schwingen müssen.«

»Na, ein bisschen Bewegung hat dir doch noch nie geschadet.« Björn lachte. »Deinen Bauchansatz bist du aber trotzdem noch nicht losgeworden, wie ich sehe.« Björn streckte seinen Kopf und schaute im Rückspiegel an Carl herunter.

Die beiden verband ein herzliches Verhältnis. Sie verstanden sich gut und verbrachten auch außerhalb der Arbeit einen Teil ihrer Freizeit miteinander. Zumindest dann, wenn Carl es bei seinen Besuchen in Stockholm irgendwie einrichten konnte.

»Und die Arbeit wird immer aufreibender«, fuhr Carl fort, »besonders seit dem großen Luftangriff vom 22. November letzten Jahres. Du weißt ja, dass wir ein anderes Gebäude unweit der Rauchstraße mieten konnten, nachdem unser Haus bei diesem Angriff komplett ausgebrannt ist. Aber auch hier wird es immer schwieriger, die Aufgaben vernünftig durchzuführen. Das größte Problem ist, irgendetwas zu bekommen, wenn dir etwas ausgeht. In den meisten Geschäften gibt es nichts mehr und wir müssen ständig bei den deutschen Behörden nachfragen. Und das dauert.«

»Dann wirst du die nächsten Tage hier ja richtig genießen können. Man kann in der Stadt durchaus noch was erleben.« Björn zwinkerte Carl mit einem Auge über den Rückspiegel zu.

»Und dabei geht es uns ja noch recht gut«, ergänzte Carl. »Wenn ich daran denke, was die deutsche Bevölkerung zu Essen bekommt und was die jeden Tag leisten muss. Deutlich ruhiger und entspannter geht es zum Glück in Altdöbern zu. Wir versuchen, den größten Teil unserer Arbeit auch von dort aus zu erledigen.«

»Altdöbern? Ist das nicht das Schloss außerhalb von Berlin, das dein Vater letztes Jahr für die schwedische Regierung gemietet hat?«

»Ja. Im Gegensatz zur Hauptstadt ist das fast schon ein Paradies.«

Björn fuhr einem langsameren Wagen nahe auf, dadurch musste er sich wieder mehr auf den Verkehr konzentrieren. Er beobachtete die entgegenkommenden Fahrzeuge und wartete auf eine Lücke, in der er den Peugeot überholen konnte.

Björn fühlte sich wohl in seinem Job. Neben einer Vielzahl von unterschiedlichen Tätigkeiten, für die er herangezogen wurde, war eine seiner Hauptaufgaben die Fahrtätigkeit für Regierungsangehörige. Er fuhr unheimlich gerne schnelle Wagen, und da er sich kein eigenes Auto leisten konnte, genoss er diese Fahrtätigkeit ganz besonders. Seine Vorliebe, das Gaspedal recht weit durchzudrücken brachte ihn wiederholt in Konflikt mit der Polizei, doch konnte er von Glück sagen, dass er als Mitarbeiter der Regierung in allen Fällen mit einer mündlichen Verwarnung davongekommen war. Bis jetzt zumindest.

Björn erkannte eine größere Lücke im abnehmenden Gegenverkehr und setzte zum Überholen an. Fast gleichzeitig scherte der Mercedes aus und nutzte die Gelegenheit, ebenfalls an dem Peugeot vorbeizuziehen und hinter ihnen einzufädeln.

Da fährt ja noch einer so schlimm wie ich, dachte Björn, beachtete das dunkle Fahrzeug aber nicht weiter.

»Und wie geht‘s dir mit der Kleinen? Hast du sie schon?«

Carl sah im Rückspiegel ein breites Grinsen und wusste genau, worauf er hinauswollte.

»Ach, du meinst sicher Margit. Wir verstehen uns ganz gut.« Carl wollte dieses Thema nicht weiter vertiefen. Björn war, im Gegensatz zu ihm, ein Schürzenjäger und nutzte seinen Job bei der Regierung gelegentlich, um sich bei den Frauen hervorzutun, was ihm in einzelnen Fällen durchaus schon mal einen Vorteil eingebracht hatte. Unabhängig davon aber war er ein Freund, auf den man sich in jeder Situation verlassen konnte.

Sie fuhren jetzt auf der gut ausgebauten Straße Richtung Stockholm und Björn beobachtete im Rückspiegel den Mercedes, der ungewöhnlich dicht hinter ihnen fuhr.

»Jetzt geh doch schon vorbei«, sagte er zu sich selbst und beobachtete den dunklen Wagen weiter. Carl saß auf dem Rücksitz und hatte die undeutlichen Worte von Björn gar nicht wahrgenommen. Er betrachtete die vertraute Umgebung und war in Gedanken schon daheim.

Selbst Björn, der die sportliche Fahrweise jeder anderen vorzog, wurde langsam nervös. So dicht fuhr ja nicht einmal er auf, auch wenn er noch so spät dran war. Er beschleunigte und behielt im Wechsel die Fahrbahn, den Tacho und den Rückspiegel im Auge. Der Mercedes blieb weiter hinter ihnen und machte keine Anstalten, sie zu überholen. Im Gegenteil. Björn hatte das Gefühl, dass er seiner Stoßstange immer näherkam.

»Was ist denn mit dem ...«

Die Räder und Scheinwerfer des Mercedes verschwanden aus dem Sichtfeld des Rückspiegels und gleich danach bekam Carl einen Schlag in den Rücken, der seinen Kopf nach hinten warf und ihn jäh aus seinen Gedanken riss. Das Kreischen aufeinander schiebender und verbiegender Metallteile erfüllte die Luft.

»Was ist los?«, schrie Carl und streckte reflexartig beide Arme aus, um sich an den Seitentüren abzustützen.

»Der Idiot hinter uns«, hörte Carl Björn schreien, dann bekam er einen zweiten, nicht minder heftigen Schlag in den Rücken. Er rutschte auf dem Rücksitz umher und langte mit seiner rechten Hand nach dem Beifahrersitz, um sich dort festzuhalten.

Björn hielt das Lenkrad eisern fest und versuchte, durch eine höhere Geschwindigkeit einen Abstand zwischen ihnen und dem Mercedes zu bringen. Doch der Mercedes hielt mühelos mit und Björn sah im Rückspiegel einen erneuten Versuch auf sie zukommen, sie durch einen Stoß zum Schlingern und damit von der Straße abzubringen.

»Achtung«, schrie Björn, um Carl vorzuwarnen, der mittlerweile die Lehne des Beifahrersitzes fest umklammerte.

Heftiger als zuvor rammte sie der Mercedes erneut. Wieder kreischte Metall und das Klirren von Glas war zu hören. Björn hatte große Mühe, den Wagen unter Kontrolle zu halten und nur seiner Erfahrung und ganzem fahrerischen Können war es zu verdanken, dass sie bei dieser Geschwindigkeit nicht von der Straße schossen.

»Verdammt nochmal, was ist da los? Will der uns umbringen? Wir müssen anhalten«, schrie Carl.

»Wenn ich bremse, fährt der uns wieder drauf.« Björn umklammerte mit beiden Händen das Steuer und konzentrierte sich im schnellen Wechsel der Augen auf die Straße und den Rückspiegel. Die Bäume am Straßenrand flogen an ihnen vorbei und eine Kollision mit ihnen würde bei dieser Geschwindigkeit das Auto in viele Stücke zerreißen. Björns Griff verstärkte sich weiter, als er den dunklen Wagen erneut auf sie zukommen sah. Ein Scheinwerfer des Mercedes fehlte, ansonsten sah er noch recht unbeschädigt aus. Kurz bevor der Mercedes wieder mit Björns Wagen kollidierte, scherte er aus und setzte sich neben sie.

Fassungslos sah Carl in das andere Fahrzeug, Björn warf nur einen flüchtigen Blick rüber. Er musste sich auf die Straße konzentrieren.

In dem Mercedes saßen zwei Männer und Carl meinte ein Grinsen im Gesicht des Beifahrers zu erkennen, als der Wagen sich ihnen von der Seite näherte. Der Mann hatte einen schwarzen Hut auf, dessen Schatten den Blick auf seine Augen verwehrte. Er zog für einen Moment die Mundwinkel nach oben. Mit einer schnellen Bewegung riss der Fahrer des Mercedes das Lenkrad nach rechts und mit einem lauten Knall verkeilten sich die beiden Fahrzeuge auf der gesamten Länge ineinander. Björn versuchte durch Drehen des Lenkrads nach links dagegen und so den Wagen auf seiner Straßenseite zu halten. Doch der Mercedes war deutlich schwerer und schob ihn langsam aber sicher an den unbefestigten Rand der Fahrbahn.

»Scheiße, ich kann ihn nicht auf der Straße halten«, stieß Björn hervor und versuchte mit aller Kraft gegenzusteuern. Carl stand der Mund offen, er starrte entsetzt in den anderen Wagen. Scheinbar unberührt von dem Ganzen sah der Beifahrer noch immer zu ihnen und Carl hatte den Eindruck, dass sein Grinsen stärker wurde.

»Festhalten«, rief Björn und zog plötzlich nach rechts. Er wollte damit die beiden Fahrzeuge auseinanderbringen. Dadurch, dass er nun in die gleiche Richtung wie der Mercedes steuerte, gerieten sie noch schneller an den Fahrbahnrand.

»Was machst du da?«, schrie Carl und sah die Bäume am Straßenrand auf sie zukommen.

Mit einem Ruck lösten sich die Fahrzeuge voneinander. Björn riss sofort das Lenkrad wieder nach links. Das Heck ihres Wagens fing bedrohlich an zu schlingern, doch bevor das zu stark wurde, krachte ihr Fahrzeug in die Beifahrerseite des Mercedes zurück. Die beiden Männer in dem dunklen Wagen wurden von dem Manöver überrascht und es gelang Björn, den Mercedes wieder zur Fahrbahnmitte zu drängen. Doch der Fahrer hielt sofort dagegen und nur ein paar Sekunden später hatte er sie wieder an den Fahrbahnrand zurückgeschoben.

Björn trat auf die Bremse in der Hoffnung, sich so zu lösen und im besten Fall sogar anhalten zu können. Dadurch rutschte sein Fahrzeug etwa einen Meter nach hinten, dann hing er wieder fest. Die Geschwindigkeit der beiden hatte sich nur unmerklich verringert, gegen den schweren Mercedes war einfach nicht anzukommen.

Ihr Volvo fing an zu holpern. Ein deutliches Zeichen dafür, dass die rechten Räder die Fahrbahn verlassen hatten und bereits über den unbefestigten Randstreifen rollten.

»Ich kann nichts ...«, hörte Carl Björn noch rufen, dann zog es den PV 51 wie von Geisterhand nach rechts weg. Er löste sich vom Mercedes und schoss über eine Erhebung auf dem Grünstreifen. Der Wagen hob ab und Carl sah einen dicken Baum auf sie zukommen. Der Stamm bohrte sich auf der Beifahrerseite in das Fahrzeug, das auf der Fahrerseite auseinandergerissen, während es auf der anderen Seite wie ein Stück Papier zusammengefaltet wurde. Der Schlag wurde begleitet von einem ohrenbetäubenden Lärm, dann plötzlich war alles ruhig.

Die Schmerzen waren unerträglich. Carl lag auf den Resten der Rückbank und konnte sich keinen Zentimeter bewegen. Er war eingeklemmt, eine warme Flüssigkeit lief ihm ins rechte Auge. Er wollte sich mit der Hand über das Gesicht wischen, doch er konnte seinen Arm nicht bewegen. Er wusste nicht einmal, wo sein Arm überhaupt war. Ein beißender Geruch stieg ihm in die Nase und er spürte trotz der unsäglichen Schmerzen am ganzen Körper, wie es an seiner rechten Hüfte immer wärmer wurde. Dann verlor er das Bewusstsein.

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