Eine Zukunft für meine Kinder

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JENSEITS DER MAUER

1989 hatte mein Vater Meinungsverschiedenheiten mit seinem Vorgesetzten im Außenministerium. Ich weiß nicht genau, worum es dabei ging, aber es kann nichts Ernstes oder allzu Schwerwiegendes gewesen sein – auch deshalb, weil man damals ohne Umschweife ins Gefängnis geworfen wurde, wenn man die Regierung allzu deutlich und ausdrücklich kritisierte. Im Fall meines Vaters handelte es sich lediglich um kleinere Differenzen, und er wurde in den Süden versetzt : Ab sofort sollte er in Mulanje, einem der 27 Verwaltungsdistrikte des Landes, als District Commissioner, Präfekt, tätig sein.

Die Region Mulanje war nach dem gleichnamigen Gebirgsmassiv benannt, dessen höchster Gipfel, der Sapitwa, über 3000 Meter hoch ist. Er ist der höchste Berg im südlichen Zentralafrika und liegt nahe der mosambikanischen Grenze. Mulanje ist eine landwirtschaftliche Region ; hier wird vor allem der exklusive Tee angebaut, den Malawi in die ganze Welt exportiert. Wir wohnten in einem schönen Haus, das uns von der Regierung zugewiesen worden war und nichts mit den Baracken und Hütten gemeinsam hatte, von denen das Umland übersät war. Für mich war Mulanje eine »neue Welt«, die ich fasziniert beobachtete. Sie machte mich neugierig und zog mich magisch an. Mir wurde bewusst, dass sich mein Horizont Schritt für Schritt erweiterte. Die Menschen, die zu uns kamen, um mit meinem Vater zu sprechen, hatten ihre Geschichten, kamen aus ganz unterschiedlichen Verhältnissen und kämpften mit vielerlei Problemen, auch wenn ihre Sorgen, um ehrlich zu sein, größtenteils um die Ernährung kreisten. Damals begann ich die Welt und ihre Bewohner zu entdecken und die Unterschiede zu erkennen, die sie charakterisierten. Da waren die Armen und die Reichen, die Ehrlichen und die Gauner, die Faulen und die Fleißigen … Zum ersten Mal sah ich über die Mauer jener kleinen, geschützten Welt hinweg, in der ich aufgewachsen war. Zum ersten Mal begegnete ich dem echten Leben, dem Leben der ländlichen Bezirke, wo etwa 80 Prozent der Bevölkerung lebten ; dem Leben der Bauern und Viehzüchter und all der Menschen, die sich durchschlagen und anstrengen und Tag für Tag immer wieder neu um ihre Zukunft kämpfen mussten.

Ich weiß nicht, ob meine Mutter glücklich war. Sie war eine sehr zurückhaltende Frau und folgte meinem Vater ohne Kommentare und ohne Klagen. Doch ihm merkte man die Unzufriedenheit an. Er setzte alles daran, die Kontakte zu seinen ehemaligen Kollegen nicht zu verlieren : Die meisten waren Funktionäre, die wie er selbst aus dem Norden stammten und Positionen in Sichtweite der Regierung bekleideten, oder ehemalige Studienkollegen. Es half. Sie setzten sich für ihn ein. 1992 wurde er zum stellvertretenden Sekretär des Finanzministeriums in Lilongwe ernannt. Wir kehrten zurück in den zehnten Bezirk, und nach meinem achten Schuljahr erhielt ich das Abschlussdiplom der Primary School.

Mein Vater meldete mich an einer Privatschule in Rumphi im Norden des Landes an. Miteigentümer dieses renommierten Instituts war Chakufwa Chihana, ein entschiedener Gegner des Präsidenten, der sich – insbesondere nachdem Banda sich 1971 selbst zum Präsidenten auf Lebenszeit ernannt hatte – mit der von ihm gegründeten Partei AFORD, Alliance for Democracy, für Demokratie und freie Wahlen einsetzte. Die politische Lage änderte sich jedoch erst 1992, nachdem die malawische Bischofskonferenz den »Vater des Vaterlandes« in einem Hirtenbrief zum Rücktritt aufgefordert hatte. 1993 stimmte die Bevölkerung in einem Referendum für die Demokratie. 1994 wurde Bakili Muluzi von der UDF (United Democratic Front) zum neuen Präsidenten gewählt.

Ich blieb zwei Jahre in Rumphi. Wenn ich heute als erwachsene Frau auf die damalige Zeit zurückblicke, dann ist mir klar, dass ich als Schülerin weder ernsthaft bemüht noch respektvoll gewesen bin. Ich kam aus einer guten Familie, mir fehlte es an nichts, ich hatte schöne Kleider und immer genug zu essen. Ich begriff nicht, wie wichtig die Ausbildung für meine Zukunft war. Am Lernen lag mir nichts, es interessierte mich nicht. Ich hatte anderes im Kopf. Ich liebte die Musik und das Tanzen und ging oft in die Diskothek. Die Schnelllebigkeit dieser Welt zog mich an und machte mich neugierig. Die Schule war eine Art Internat und nahm einen großen Teil des Tages in Anspruch. Der Unterricht fand morgens statt. Die Nachmittage mussten wir im Klassenzimmer verbringen und lernen, bis es Zeit zum Abendessen war. Es war eine Qual. Ich passte während des Unterrichts nicht auf und machte auch keine Hausaufgaben. Stattdessen redete und lachte ich mit meinen Freundinnen. In diesen Jahren entstanden einige der wichtigsten Freundschaften meines Lebens. Zu einigen habe ich noch heute Kontakt. Wir stehen über das Internet und die sozialen Netzwerke miteinander in Verbindung. Die meisten sind ausgewandert, vor allem nach England, und haben sich ein neues Leben aufgebaut. Ich weiß nicht, ob sie glücklich sind. Wenn wir voneinander hören, dann sagen sie, dass es ihnen gut geht und dass sie eine Arbeit haben, aber wenn ich nachfrage, sind die Antworten vage. Ich habe das Gefühl, dass das Leben eines Malawiers im Ausland nicht gerade leicht ist. Nicht umsonst kommen viele nach einigen Jahren zurück und investieren all ihre Energie und das Wenige, was sie gespart haben, in ihr Heimatland. Andere dagegen sind niemals weggegangen. Sie sind in Malawi geblieben und haben sich mithilfe ihrer Familie oder aus eigener Kraft eine gute Position verschaffen können. Vor einiger Zeit ging ich über die Straße, als ein Mann mit dunkler Sonnenbrille aus einer großen Limousine ausstieg und sich vor mir aufbaute : »Pacem, bist du das ?«, fragte er mich.

Ich hatte ihn nicht erkannt, ich hatte keine Ahnung, wer er war. Ich machte Anstalten, weiterzugehen. Da nahm der Mann seine Sonnenbrille ab und lächelte breit. Es war Kondwani, ein alter Schulfreund, dessen Familie so arm gewesen war, dass sie meinen Vater oft hatte um Hilfe bitten müssen. Er war groß geworden : ein gut aussehender, kräftiger junger Mann, der mit einem teuren Auto herumfuhr und eine Sonnenbrille trug. Das bewies, dass man es auch in unserem Land zu etwas bringen kann, wenn man sich anstrengt, Glück hat oder das bisschen Hilfe, das man bekommt, zu nutzen weiß. Man kann sich aus einer Situation der Armut befreien und sein Leben in die Hand nehmen und selbst gestalten. Man kann sich eine Zukunft sichern. Ich weiß nicht, ob das oft geschieht. Ich glaube nicht. Aber die Möglichkeit besteht. Und das ist schon nicht wenig.

WAS HABE ICH DIR GETAN ?

Mein Vater war sehr zornig über meine bescheidenen schulischen Erfolge. Er warf mir vor, ich hätte mir keine Mühe gegeben, ich hätte ihm schlecht gedankt für sein Vertrauen und für die Opfer, die er gebracht habe, und ich hätte ein so privilegiertes Leben gar nicht verdient : »Ich kann es einfach nicht glauben«, sagte er wieder und wieder, »dass du so oberflächlich bist !« Er meldete mich an einer anderen Schule an, die ebenfalls im Norden lag, in Mzuzu.

Das war weit weg, und so sah ich meine Familie selten, das heißt nur in den Ferien. Bei einem dieser Besuche erlebte ich den ersten echten Streit zwischen meinen Eltern. Nach diesem Streit – sie hatten einander angeschrien, und es waren böse Worte gefallen – kam meine Mutter zu mir und meinen Brüdern ins Zimmer und schlief dort auf dem Boden. Am Morgen danach war ihr Gesicht verweint und ihr Blick verstört. Ich fragte sie, was geschehen sei, doch sie antwortete nicht.

Am Tag danach fanden sich die üblichen »Eheberater« ein – die Verwandten, die sich immer einschalten, wenn ein Paar Probleme hat. Von meinem Zimmer aus hörte ich meine Mutter sagen : »Bevor ich so weiterlebe, gehe ich lieber wieder zurück in mein Dorf.« Ich spitzte die Ohren. Ich lauschte. Ich begriff. Vor unserem Umzug nach Mulanje hatte mein Vater ein Verhältnis mit einer anderen Frau gehabt, seiner Sekretärin. Meine Mutter hatte es herausgefunden und sich gewehrt : Sie hatte dafür gesorgt, dass mein Vater versetzt wurde. Unser Umzug, davon war sie überzeugt, würde der Affäre ein Ende bereiten – doch sie hatte sich getäuscht. Papa drängte seine ehemalige Sekretärin, ihre Stelle zu kündigen, bezahlte ihr die Schwesternschule in Mulanje – und traf sich weiterhin mit ihr.

Von da an sagte meine Mutter jedes Mal, wenn ich wieder zur Schule aufbrach, zu mir : »Pacem, wenn ich nicht mehr da bin, dann sei stark, sei ein braves Mädchen !« Ich war noch sehr jung, nicht einmal 18 Jahre alt, und hielt das Ganze für einen Scherz ; ich dachte, sie wolle mich provozieren und schauen, wie ich darauf reagierte. Als ich im Januar 1995 nach den Ferien wieder nach Mzuzu abreiste, sagte sie : »Pacem, ich werde bald sterben. Ihr werdet mit einer anderen Frau zusammenleben müssen, das wird nicht leicht sein. Kümmere dich um deinen kleinen Bruder.«

Ich konnte es einfach nicht glauben. Ich dachte, sie wolle mich auf den Arm nehmen oder habe eine Depression. Es war das letzte Mal, dass ich sie lebend sah.

Den Rest der Geschichte habe ich erst nach ihrem Tod von meiner Großmutter erfahren.

Mama war krank gewesen, doch sie hatte mit niemandem darüber sprechen wollen. Auf eigene Faust hatte sie die besten Privatkliniken der Stadt aufgesucht und sich Medikamente verschreiben lassen. An einem Freitag im März war sie ins Bottom Hospital in Lilongwe gegangen. Sie fühlte sich derart elend, dass sie kaum laufen konnte. Man überwies sie sofort an ein anderes Krankenhaus, das Kamuzu Central Hospital. Gleich nach ihrer Ankunft kam eine Schwester in ihr Zimmer und bat sie um die Ergebnisse der im Bottom durchgeführten Blutuntersuchung. Meine Mutter gab sie ihr. Die Frau ging hinaus. Kurz darauf kam sie mit einer Kollegin zurück. Mama lag mit geschlossenen Augen da, schwach, abgemagert und kraftlos. Die Krankenschwestern dachten, sie sei eine ungebildete Frau, und unterhielten sich am Fußende ihres Bettes auf Englisch miteinander.

 

»Was sollen wir mit ihr machen ?«, fragte die eine.

»Nichts, sie ist HIV-positiv, da kann man nichts machen.«

Meine Mutter hörte zu. Sie verstand jedes Wort. Aids zu haben war damals ein sicheres Todesurteil. Es hieß, alles aufzugeben, es hieß, sich von jeder Vorstellung einer möglichen Zukunft zu verabschieden.

Als sie näherkamen und ihr einige Tabletten reichten, weigerte meine Mutter sich : »Ich habe euch zugehört, ich habe alles gehört. Ihr braucht mir nichts vorzumachen, diese Medikamente helfen nicht, ich kann nicht gesund werden.«

Die Krankenschwester versuchte sich herauszureden : »Aber nein, du irrst dich. Wir haben von einer anderen Patientin gesprochen.«

»Das ist nicht wahr«, schnitt sie ihr das Wort ab, »ich weiß, dass ihr von mir gesprochen habt.«

Sie beschloss, keine Medikamente und auch keine Nahrung und kein Wasser mehr zu sich zu nehmen. Bis mein Vater kam, sprach sie kein einziges Wort. »Was habe ich dir getan ?«, fragte sie ihn, als sie ihn eintreten sah. »Was habe ich dir getan«, wiederholte sie, »womit habe ich das verdient ?«

Mein Vater schwieg. Schuldbewusst.

Und Mama, zerbrechlich und erschöpft, zornig und verzweifelt, setzte hinzu : »Wer wird sich um meine Kinder kümmern ?«

Das waren ihre letzten Worte, ihre letzten Gedanken.

In den darauffolgenden Tagen verweigerte sie jegliche Therapie und Nahrung. An einem Montag um zwei Uhr rief mein Onkel in der Schule an. Er sagte mir, dass es meiner Mutter sehr schlecht gehe und ich rasch kommen müsse.

Er holte mich ab und brachte mich nach Hause, nach Lilongwe.

Mama war bereits tot.

Wir begruben sie in Chitipa, dem Dorf meines Vaters. So wollte es die Tradition.

Wenige Wochen später begann auch er sich schlecht zu fühlen. Er erkrankte an Tuberkulose, doch dank der Therapie wurde er gesund und kam wieder etwas zu Kräften. Ich hörte ihn oft weinen, vor allem nachts. Ich nahm all meinen Mut zusammen, holte tief Luft und fragte ihn, weshalb. Er antwortete, ich hätte mich geirrt, er habe nicht geweint. Noch am selben Abend hörte ich ihn wieder schluchzen und ging in sein Zimmer : Diesmal konnte er es nicht abstreiten. Er sagte, dass es ihm schlecht gehe und dass ich meinen Brüdern nichts sagen solle.

Drei Monate nach dem Begräbnis seiner Frau kam er mit einer Frau nach Hause, die wir nie zuvor gesehen hatten. Wir waren überrascht und fragten uns, wer das wohl sein mochte. Er stellte sie uns vor und erklärte, er wolle sie zur Frau nehmen. Für den Moment sagte niemand etwas. Wie schon gesagt : Mein Vater hatte einen harten und strengen Charakter, und es war sehr schwierig, mit ihm zu sprechen. Wir waren eingeschüchtert und hatten keine Möglichkeit, seine Entscheidungen zu beeinflussen. Doch die Krankheit veränderte ihn nach und nach. Die Strenge und Autorität, die er ausstrahlte, machten einer Verletzlichkeit Platz, die ich an ihm noch nie wahrgenommen hatte. Er tat mir leid. Ich fasste mir ein Herz : »Papa«, fragte ich ihn, »geht es dir schlecht, weil du wieder heiraten und diese Frau ins Haus bringen musst ?«

Er sah mir direkt in die Augen : »Pacem, es geht mir schlecht und es wird täglich schlimmer. Du kannst dich nicht um mich kümmern. Ich habe beschlossen, wieder zu heiraten, weil ich jemanden brauche, der mir hilft und der uns allen zur Hand geht.«

»Aber wenn du stirbst … wenn das passieren sollte … wird diese Frau dann für uns sorgen ?«

»Nein, das ist nicht ihre Aufgabe. Aber ich habe mein Testament schon gemacht«, sagte er, »und ihr werdet genug zum Leben haben.«

Dieses Gespräch veränderte alles. Mein Vater flößte mir keine Angst mehr ein. Ich fing an, ihm eine unendliche Reihe von Fragen zu stellen, wir unterhielten uns stundenlang. Mir wurde bewusst, dass er uns bei all seiner Strenge und Unnachgiebigkeit innig liebte. Doch ich konnte mir nicht erklären, was mit ihm geschehen war. Er war immer so stark und unabhängig gewesen. Jetzt dagegen schleppte er sich nur noch dahin, er schien beinahe aufgegeben zu haben. Er klagte nicht über Schmerzen, sprach nicht von seinen Beschwerden, doch sein Körper war von der Krankheit gezeichnet. Er magerte zusehends ab und wurde immer schwächer. Die Durchfallattacken wurden immer häufiger, seine Haut war von Erythemen übersät und im Mund hatte er offene Stellen, die brannten.

Die Frau kam und wohnte in unserem Haus. Obwohl sie uns einigermaßen gut behandelte, änderte sich unser Leben. Sie gab uns nie Geld, und sie machte uns nie etwas zu essen, wie meine Mutter es immer getan hatte. Wenn sie kochte, dann nur für sich und meinen Vater. Wir drei mussten uns selbst versorgen. Ich sprach mit meinem älteren Bruder darüber und sagte zu ihm : »Schicken wir sie weg, sie kann nicht hierbleiben.«

Wir sprachen mit ihr, und sie antwortete sehr entschieden, dass sie keine Widerrede dulde und auf unsere Gefühle keine Rücksicht nehme : »Ich bin nicht euretwegen, sondern wegen eures Vaters hier, und für ihn ist es gut so.«

Wir waren inzwischen groß und bereit, Verantwortung zu übernehmen, und wir scheuten die Auseinandersetzung nicht : »Du bist wegen des Geldes hier ! Du interessierst dich doch weder für uns noch für ihn, geh weg !«

Ich und mein kleiner Bruder waren besonders angriffslustig, mein älterer Bruder war toleranter ; darin ähnelte er unserer Mutter. Das Leben zuhause wurde immer schwieriger. Die Frau kümmerte sich inzwischen auch um die Familienfinanzen und sogar Papa, so erschöpft er auch war, hatte begonnen, sich darüber zu beklagen. Wir waren hin- und hergerissen zwischen dem Drang, fortzugehen, und dem Wunsch, ihm beizustehen. Schließlich kamen wir überein, seinen Bruder zu rufen ; er war Clinical Officer* und konnte uns vielleicht helfen zu verstehen, woran er erkrankt war und was wir tun konnten, um ihm zu helfen.

Mein Onkel sagte uns, mein Vater sei nur deshalb so abgemagert, weil er wegen der offenen Stellen in seinem Mund nicht ausreichend Nahrung zu sich nehme. Papa antwortete : »Du bist ein Schwindler, du willst mir nicht die Wahrheit sagen. Ich habe Aids, und du willst es mir verheimlichen !« Obwohl die Symptome der Krankheit damals noch nicht so bekannt waren wie heute, war ihm sein Zustand voll und ganz bewusst.

Er ging nicht mehr ins Büro. Sein Lebenslicht flackerte von Tag zu Tag schwächer. Sechs Monate später starb er.

Innerhalb von wenig mehr als einem Jahr hatte unsere Familie aufgehört zu existieren.

EIN ANDERES LILONGWE

Nach dem Tod meiner Eltern schien mein Leben keinen Sinn mehr zu haben. Ich dachte viel nach und blickte zurück. Papa hatte enorme Opfer gebracht, damit ich etwas lernte, er hatte mich an den besten Schulen angemeldet und alles getan, um mir ein unbeschwertes Leben und eine sichere Zukunft zu ermöglichen. Und ich ? Was hatte ich getan, um ihm das zu danken ? Nichts, absolut nichts. Und da stand ich nun, kaum 18 Jahre alt, ohne Eltern und ohne Perspektiven.

Doch zu unserem Glück hatte Papa für uns gesorgt und das große Haus im zehnten Bezirk, in dem wir wohnten, ohne unser Wissen gekauft. Wir blieben einige Zeit dort und vermieteten es dann, um Geld zu haben. Wir drei trennten uns. Lapken, mein kleiner Bruder, ging zu einem Cousin, mein älterer Bruder Keegan und ich jeweils zu einem anderen Onkel. Wir blieben alle in Lilongwe, doch unser Leben veränderte sich und war plötzlich mit Hindernissen angefüllt, die wir uns bis zu diesem Augenblick nicht einmal hatten vorstellen können. Solange ich noch zuhause gewohnt hatte, also bis zum Tod meiner Mutter, hatte ich nie einen Handschlag getan. Ich hatte mir um nichts Sorgen machen müssen und hatte alles gehabt, was ich brauchte. Die Hausangestellten hatten für uns geputzt, gekocht und gewaschen. Bei meinem Onkel war das anders. Ich hatte Pflichten ihm gegenüber. Ich musste mir Kost und Logis verdienen. Ich bekam nichts geschenkt. Ich stand jeden Tag um drei Uhr morgens auf, um das Haus aufzuräumen, Essen zu machen und die Wäsche zu waschen. Anders als mein Vater war mein Onkel nicht reich und hatte keine Angestellten. Manchmal gab es zum Frühstück nicht einmal etwas zu essen, sondern nur Tee. Ich war diese Einschränkungen nicht gewohnt und träumte von einem Teller Nsima.

In dieser Zeit begegnete ich meinem ersten Verlobten Wilson, einem ehemaligen Mitschüler. Nach der weiterführenden Schule war er nach Lilongwe gegangen und hatte die Universität besucht. Wir hatten uns zufällig getroffen und begonnen, miteinander auszugehen. Ich war glücklich, es ging mir gut. Ich erzählte ihm, was gerade alles passiert war, und schilderte ihm meine neue Welt. Er war sehr lieb und hatte gewisse finanzielle Mittel. Er fing an, mich zu unterstützen. Er brachte mir Essen und gab mir immer ein bisschen Geld, damit ich mir kaufen konnte, was ich brauchte. Er riet mir, niemandem davon zu erzählen : »Wenn sie es erfahren«, sagte er, »dann wirst du ihnen mit dem Geld ihre Gastfreundschaft bezahlen müssen, und dir wird nichts bleiben.«

Mein älterer Bruder, das neue Familienoberhaupt, erfuhr, dass ich verlobt war. Ich erklärte ihm, dass Wilson ein anständiger Junge war, ernsthaft und aufmerksam, und dass er nach seinem Studium eine Arbeit finden und mich heiraten würde.

»Ich freue mich für dich«, sagte er, »aber tu mir einen Gefallen : Denk auch an deine Zukunft.«

Ja, die Zukunft … Zum ersten Mal hing sie ausschließlich von mir ab. Sie lag in meinen Händen, ich war allein dafür verantwortlich. Ich sprach mit meiner Tante, und es gelang mir, sie zu überzeugen. Erneut schrieb ich mich an der Schule von Mzuzu ein. Das war für mich eine Möglichkeit, wieder in der Realität Fuß zu fassen, auch wenn diese Realität sich so rasch veränderte, dass man Schwierigkeiten hatte, Schritt zu halten. Während der Ferien oder am Wochenende kam ich zurück in die Hauptstadt und ging mit meinem Verlobten aus, doch ich fühlte mich unbehaglich : Ich begriff, dass ich so nicht leben, dass ich nicht immer von seiner Unterstützung abhängig sein konnte.

Am Ende des Schuljahrs begann ich in Mponela zu arbeiten.

Ich unterrichtete an einer privaten Sekretärinnenschule und war für ein praktisches Fach zuständig : die Daktylographie, die man damals noch fürs Maschineschreiben brauchte. Die Bezahlung war nicht fest, sondern hing von der Zahl der Kursteilnehmer ab. Die Schülerinnen zahlten die Kursgebühr an den Schulträger, der einen Anteil davon an mich weitergab. Manchmal verdiente ich fast nichts, manchmal lief es besser. Mir ging es gut damit : Ich konnte ein Zimmer mieten und war nicht mehr völlig von der Familie meines Onkels abhängig. Mein Verlobter war jedoch nicht gerade glücklich darüber, dass ich in Mponela blieb und dazu noch allein. Wir diskutierten und stritten uns. Beinahe hätten wir uns getrennt, doch er war zu verliebt, und so blieben wir am Ende doch zusammen. Doch etwas war zerbrochen.

Es ging mir gut in Mponela. Ich hatte viele Freunde, ich war unabhängig, und ich konnte für mich selber sorgen. Ich nahm mein Leben in die Hand, ich ging der Zukunft entgegen.

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