Oliver Hell - Todesklang

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Oliver Hell - Todesklang
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Oliver Hell

Todesklang

von

Michael Wagner

Thriller

1.Auflage

Im Juli 2016

Copyright © 2016 Michael Wagner

Textur by Ruth West.

Frame by Freepik.

Michael Wagner

@michaelwagner.autor

http://walaechminger.blogspot.de/

All rights reserved.

Xanten

Am Mittwoch gegen 11:00 Uhr wurde eine bislang unbekannte Tote linksrheinisch aus dem Rhein in der Ortslage Xanten-Wardt geborgen. Die zuständige Kriminalpolizei der Kreispolizeibehörde Wesel übernahm die weitergehenden Ermittlungen. Nach einer Obduktion ergaben sich Hinweise auf eine Todesursache durch Gewalteinwirkung. Wer sachdienliche Angaben machen kann, meldet sich bei der Kreispolizeibehörde Wesel.

Polizeibericht 11.05.2013

Bonn

Wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz hat sich ein 19-jähriger Mann aus Bonn eine Strafanzeige eingehandelt. Er war bereits vor einigen Wochen ins Visier der Ermittler geraten, nachdem er bei einem Drogengeschäft aufgefallen war. Bei der nun durchgeführten Durchsuchung seiner Wohnung fanden die Beamten neben typischen Konsum- und Handelsartikeln auch rund 250 Gramm Marihuana. Die Sachen wurden sichergestellt und ein Strafverfahren eingeleitet.

Aus demselben Grund ermittelt die Polizei auch gegen einen weiteren 19-Jährigen aus dem Stadtgebiet. Der junge Mann war zusammen mit zwei Freunden am Dienstagnachmittag in der Bonner Innenstadt aufgefallen und daraufhin kontrolliert worden. Wegen seines auffälligen Verhaltens wurden seine Sachen durchsucht, dabei kam Amphetamin zum Vorschein. Das Rauschgift wurde sichergestellt. Die weiteren Ermittlungen laufen.

Polizeibericht 20.08.2014

Mittwoch, 20.8.2014

Weißenthurm

Er wusste ganz genau, was passieren würde, wenn er Oliver Hell das nächste Mal gegenüberstand. Hell hatte ihn gedemütigt, er hatte ihm die Frau genommen und zu guter letzt hatte er auf ihn geschossen.

„Du wirst dir wünschen, mir das alles nicht angetan zu haben“, presste Ron Baum hervor und starrte den Mann am Tisch gegenüber hasserfüllt an. Der Mann, der wie er selber Patient in der forensischen Klinik-Nette-Gut war, stand auf und wechselte den Tisch. Er kannte diese Selbstgespräche dieses Mannes, mit dem nicht zu spaßen war. Dort tuschelte er mit einem anderen Patienten und sie sahen gemeinsam zu Baum herüber.

„Glotzt nur, ihr Idioten“, rief er ihnen zu. Die Männer wandten sich ab, tuschelten aber weiter.

„Ihr werdet es schon sehen“, zischte Baum und spürte, wie seine Magensäfte zu brodeln begannen. Dieses schmerzhafte Ziehen, das immer schlimmer werden würde. Er schloss die Augen, senkte den Kopf und ballte seine Hände unter der Tischplatte zu Fäusten.

Er musste handeln. Sofort. Es musste heute noch passieren. Er entspannte seine Kiefermuskeln, hob den Kopf und öffnete die Augen. Niemand sah seinen kalten Blick.

Ron Baums Anwalt hatte versucht, seinen Mandanten als einen seelisch schwer angeschlagenen Mann hinzustellen. Er plädierte sogar auf Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen. Staatsanwalt Retzar hingegen forderte eine Verurteilung wegen des Doppelmordes an Donatus Monzel und Edeltraut Weyres und versuchten Mordes an Oliver Hell und Franziska Leck. Bei diesem Strafmaß wäre Ron Baum lebenslang hinter Gitter geschickt worden. Auch die von der Verteidigung ins Feld geführte Erkrankung – Ron Baum litt unter Narkolepsie – wollte Retzar nicht schuldmindernd ansehen. Schließlich habe sie den Mann nicht bei der Ausübung seiner Taten gestört. Der Ausgang des Prozesses schien klar, die Morde an den beiden alten Menschen wurden Baum ohne Zweifel zugeschrieben. Zum Eklat kam es, als Oliver Hell in den Zeugenstand trat, um den Angriff auf sich und seine Partnerin zu schildern. Ron Baum rastete total aus, wollte sich auf den Kommissar stürzen. Nur mit Mühe konnten ihn die Polizeibeamten überwältigen und zu Boden reißen. Noch während er aus dem Gerichtssaal geführt wurde, stieß er wüste Drohungen gegen Hell und Retzar aus. Dies war der Grund, weshalb ihn der Richter zu lebenslanger Haft verurteilte, darüber hinaus ordnete er die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an.

Das passierte im Mai 2014. Seitdem saß Ron Baum in der Klinik-Nette-Gut und seine Wut stieg von Tag zu Tag.

Er hatte sich verändert. Die Morde hatten ihn verändert. Der Aufenthalt in der Klinik hatte ihn zusätzlich verändert. Die Medikamente, die er gegen seine Krankheit nahm, verhalfen ihm zu vielen klaren Momenten. Er konnte klar denken, konnte planen. Es war wichtig, dass er gelassen blieb. Nur so konnte er seinen Plan ausklügeln. Damit er ihn ruhig und durchdacht in die Tat umsetzen konnte. Er war so allein wie nie zuvor in seinem Leben. Allein unter Psychopathen und Pflegern, Ärzten und anderen Scharlatanen. Er musste hier raus. Und er wusste auch schon, wie er vorzugehen hatte.

*

Bonn

„Es ist schon wieder einer unserer Läufer aufgeflogen“, sagte Sinan Shkodra mit gedämpfter Stimme. Amar Kadiu hob den Kopf und sah seinem Angestellten in die Augen. Dann erhob er sich langsam und trat ans Fenster. Er schob eine Lamelle der Sichtschutzjalousie beiseite und sah auf den fast bis auf den letzten Platz belegten Parkplatz hinunter.

„Wie kann das passieren? Was für Leute hast du in deinem Team, Sinan?“

„Boss, ich kann es mir auch nicht erklären. Der Kerl war immer ein zuverlässiger Läufer“, meldete sich jetzt Sinan Shkodra vom Schreibtisch aus, an dem er noch immer stand.

„Nicht zuverlässig genug, Sinan, nicht zuverlässig genug. Solche Dinge können wir uns nicht erlauben. Du darfst es dir nicht erlauben, um genau zu sein.“

Sinan Shkodra warf seinem Boss einen stechenden Blick zu. Er kam mit einem schnellen Schritt auf Kadiu zu, hob beschwörend die Hände.

„Boss, ich habe schon vor einigen Wochen gesagt, wir sollten auf moderne Technik setzen, nicht auf Drogenabhängige als Übermittler der Ware. Das kann uns gegenüber der Konkurrenz einen großen Vorteil bringen. Das, was ich im Kopf habe, ist ein Schritt in die Zukunft. Boss, lass mich den Beweis antreten. Dann wirst du sehen, dass ich Recht habe!“

Kadiu schob den Unterkiefer vor, drehte sich herum und musterte den Mann vor sich. „In Ordnung, ich gebe dir eine Chance, Sinan. Aber wenn du versagst, dann wird ein anderer deinen Job übernehmen. Ist das klar?“

Seine Stimme klang ruhig, doch war die Drohung aus dem Munde des Drogenbosses unmissverständlich. Shkodra verstand sie und es war ihm klar, dass es sich dabei nicht nur um den Verlust eines simplen Jobs handelte. Er hatte keinen Zweifel daran, dass er bei einem erneuten Versagen mit einem Betonklotz an den Füßen im Rhein enden würde.

Sinan Shkodra nickte, wirkte tatsächlich nicht einmal eingeschüchtert, sondern in seinem Blick sah man eine gewaltige Entschlossenheit.

„Ich werde dich nicht enttäuschen, Boss. Versprochen!“

*

Bonn, Bad Godesberg

Mit einem leisen Surren hob der Quadrocopter ab und stieg schnell bis auf eine Höhe von zehn Metern. Mit dem Steuergerät in der Hand richtete Sinan Shkodra das Fluggerät so aus, dass die Kamera ihn selbst erfasste. Langsam kam der Quadrocopter zurück, die Kamera zeigte sein zufriedenes Grinsen auf dem Display. Dann drehte das Fluggerät ab, entfernte sich auf einer geraden Bahn bis an den Waldrand und landete dort. Ein Auto bog vom Rheinhöhenweg ab und fuhr hinüber zum Annaberger Hof. Shkodra störte sich nicht daran, sondern ließ das Fluggerät wieder starten. Keiner konnte ahnen, dass er kein begeisterter Hobby-Pilot war, wie die vielen anderen auch, die mit ihren Fluggeräten auf abgelegenen Wiesen, Industriebrachen und entleerten Parkplätzen unterwegs waren. Keiner wusste, dass hier ein Drogenhändler eine neue Art des Transports testete. Unter dem Quadrocopter hatte er ein Päckchen angebracht. Wasserdicht verpackt, mit Klebeband umwickelt. Mit Leichtigkeit hob sich das Fluggerät dennoch vom Boden und auch die Flugeigenschaften hatten sich nicht verschlechtert. Wenn das mit einem normalen handelsüblichen Flieger schon funktionierte, wie gut würde es dann erst mit dem Profi-Gerät klappen. Auf diese Idee war er durch die Internetfirma Amazon gekommen, die in den USA plante, ihre Pakete mit Flugdrohnen auszuliefern. Was mit einem Kleidungsstück oder einem anderen im Internet gekauften Gegenstand klappte, würde auch mit Drogen funktionieren. Und genau so eine Drohne hatte er bestellt. Damit konnte man Waren mit einem Gewicht bis zu sieben Kilogramm transportieren. Und das bei einer Geschwindigkeit von 50km/h und einer maximalen Flugzeit von einer Viertelstunde. Damit war der Transport von Kokain, Speed und Crystal Meth überhaupt kein Problem mehr. Die Fluggeräte folgten einer vorgegebenen einprogrammierten Route und kehrten auch nach einer zeitlich einprogrammierten Landephase wieder an den Ausgangspunkt zurück. Kein menschliches Versagen mehr, keine zugekifften Junkies, die von den Bullen erwischt werden konnten. Alles clean. Alles High-Tech. Und alles in seinem Köpfchen entstanden. Sein Boss, Amar Kadiu, würde große Augen machen und nicht mehr an ihm zweifeln. Das war sicher. Er würde den großen Wurf machen.

Die Sonne war schon fast hinter den Baumwipfeln versunken und der beginnende Sonnenuntergang warf einen hellrosa Schimmer auf die wenigen Schleierwölkchen am Himmel. Sinan Shkodra lenkte die Drohne zu sich zurück und ließ das Fluggerät landen. Von Bonn aus näherte sich ein Fahrzeug. Sinan Shkodra drehte sich herum und sah, wie der Wagen an der Einmündung zur kleinen Stichstraße zum Annaberger Hof anhielt. Mit zornig zusammengekniffenen Augenbrauen erkannte er das Fahrzeug. Ein Ford Mustang. Diese protzige Kiste gehörte einem Mitglied einer kroatischen Gang, die sich mit der von Sinan Shkodra um die Drogengeschäfte in Bonn stritt. Sie hatten sich auf bestimmte Grenzen geeinigt. Der Gang von Amar Kadiu gehörte der Bad Godesberger Bezirk, der von dem Gebiet der anderen Gang umschlossen wurde. Mit einem Mal wurde Shkodra klar, dass er sich auf dem Gebiet der gegnerischen Bande befand. Der Rheinhöhenweg markierte die Grenze. Er befand sich auf dem Gebiet der anderen. Aller Wahrscheinlichkeit nach würde der Kerl mit dem Mustang sein Maul nicht halten können. Er würde einen Streit vom Zaun brechen. Als hätte Shkodra es geahnt, schlug der Fahrer die Tür des großen Sportwagens zu und marschierte wie ein Kerl in einem Western, der zu einem Duell bereit ist, über die Wiese auf ihn zu. Seine Gesichtsmuskeln spannten sich an und Sinan Shkodra machte sich bereit für die drohende Auseinandersetzung.

 

*

Donnerstag, 21.08.2014

Sa Rapita, Mallorca

Oliver Hell trat auf die Straße vor dem kleinen ‚Hostal Bris‘, in dem er schon seit ein paar Wochen wohnte. Wie jeden Morgen empfand er die modernen Fenster des Hauses gegenüber als störend. Nein, eigentlich empfand er diesen Neubau als störend. Ein großes Wohngebäude in rostrot mit weiß abgesetzten Fensterlaibungen und dunklen Schlagläden. Wenn er es genau betrachtete, waren es diese dunkel gestrichenen Fensterläden, die nicht in den farbenfrohen Kanon der Nachbarschaft passen wollten. Diese Häuser waren alt, weiß getüncht, aber die Fensterläden erstrahlten in hellblauem, sonnengelbem und mediterranem Grün. Sie gehörten zum alten Ortskern von Sa Rapita, waren typisch mallorquinisch. Das Haus gegenüber passte nicht hierher, es sah eher deutsch aus. Vielleicht war es das, was ihn störte. Alles, was ihn momentan an seine Heimat erinnerte, wollte er so weit von sich schieben wie nur möglich. Seinen Beruf, die Mörder, Psychopathen und Irren, die ihm in seiner Tätigkeit als Kriminalhauptkommissar fast tagtäglich begegneten. Von denen hatte er die Nase voll.

Mit einem ‚Hola‘, das schon sehr spanisch klang, begrüßte er den Besitzer des kleinen Tabakladens neben dem Hotel. Dann ging er ohne Eile hinunter zur Avenida de Miramar. Langsam überquerte er die Küstenstraße, die parallel zum felsigen Strand verlief, lief über den holprigen Parkplatz und trat an die Klippe heran. Die Brandung klatschte gegen die zerklüfteten Steine. Auf dem Parkplatz standen nur ein paar Autos und hinter ihm donnerte ein Kühllaster vorbei, hielt ein paar Meter weiter vor einem der kleinen Restaurants mit Meerblick oder dem Spar-Markt. Oliver Hell interessierte das nicht. Er spürte nur die sanfte Brise, betrachtete die kleinen Schönwetter-Wölkchen am Horizont. Um nichts auf der Welt hätte er sich an einen anderen Ort gewünscht. Während auf dem Rest der Insel der touristische Sommertrubel tobte, war es hier ruhig. Es gab keine Hotelbunker oder Resorts, nur ein paar kleine Hotels und Pensionen. Carola Pütz hatte ihm das ‚Hostal Bris‘ empfohlen und er war nur zu gerne ihrer Empfehlung nachgekommen.

Der Wind hatte sich gelegt und schon morgens um halb zehn zeigte das Thermometer 25° Grad an. Er sah in Richtung Westen zu der Landzunge hinüber, deren Namen er nicht kannte und überlegte, wie lange er wohl zu Fuß dorthin brauchen würde. Wandern. Eine Tätigkeit, die er in all den Jahren in Bonn nie ausgeführt hatte. Hier nutzte er die Zeit, um zu sich zu finden. Um seine Pläne zu konkretisieren. Daheim in seinem neu angemieteten Haus standen unausgepackte Umzugskisten, Möbel mussten aufgebaut werden. Doch daran verschwendete er keinen Gedanken.

Ein Lächeln flog über sein Gesicht. „Ist doch völlig egal, wie lange du dafür brauchst, der Weg ist das Ziel“, murmelte er vor sich hin und ging los.

*

Bonn, Polizeipräsidium

Mit den Fingernägeln von Zeigefinger und Daumen versuchte Jan-Phillip Wendt ein Haar von seinem Nasenrücken zu zupfen. Nach drei Versuchen klappte es und er betrachtete nachdenklich das Haar, das an seinem Fingernagel klebte. Er schnippte es weg und seufzte. Mit einer eleganten Bewegung schwang er die Füße von Oliver Hells Schreibtisch. Mittlerweile fühlte er sich dort fast heimisch. Das war nicht von Anfang an so gewesen. Nachdem ihm Staatsanwalt Pavel Retzar die kommissarische Leitung der Abteilung übertragen hatte, dauerte es gut eine Woche, bis er seinen Arbeitsplatz gegen den seines Chefs tauschte. Es verging kein Tag, an dem er sich nicht wünschte, sein Freund und Mentor Oliver Hell würde seine selbstgewählte Auszeit beenden. Alle vermissten ihn. Die Kollegen im Team, die Rechtsmedizin, selbst die Mitarbeiter der Spurensicherung – sie alle atmeten schwer, wenn der Name Oliver Hell fiel.

Als Wendt es sich in seinem Sessel, den er Hells protzigem Sitzmöbel vorzog, gemütlich gemacht hatte, riss aus irgendeinem Grund plötzlich der Himmel auf. Die Sonnenstrahlen bahnten sich ihren Weg und landeten auf Wendts unausgeschlafen wirkenden Gesichtszügen. Er beeilte sich, die Jalousie zu schließen. Er war tatsächlich unausgeschlafen, wie so oft in der letzten Zeit. Der Grund war sehr einfach: Er und Julia verbrachten zurzeit die Abende bei ihr in Asbach, weil es in ihrem Garten viel angenehmer war als auf Wendts kleiner Terrasse. Von Asbach bis ins Polizeipräsidium in der Königswinterer Straße in Bonn-Oberwinter fuhr er morgens mindestens eine halbe Stunde, oft länger. Mit zu wenig Schlaf quälte er sich auf die Arbeit und war froh, dass die Verbrechen in diesem Jahr in einem Sommerloch verschwanden. Wendt fuhr sich mit der Hand über die Bartstoppeln und gähnte ausgiebig. Er schloss die müden Augen und schüttelte leicht den Kopf. Noch alleine im Büro, Klauk, Rosin und Christina Meinhold waren noch nicht eingetroffen, überlegte er, ob er sich für ein paar Minuten in den Sessel setzen und die Augen geschlossen halten sollte. Er stieß die Luft aus, als er sich daran erinnerte, dass Oliver Hell bei einer solchen Gelegenheit von dem ehemaligen Staatsanwalt Überthür beim Schlafen fotografiert worden war. Mitten in diese zögerliche Entscheidungsfindung hinein klingelte das Telefon.

Das wär’s dann, dachte Wendt, ließ sich in den Sessel fallen und nahm nach dem vierten Klingeln das Gespräch an. Während er zuerst noch entspannt zuhörte, straffte sich plötzlich sein Rücken und sein Polizistengehirn wurde von einer Sekunde zur nächsten in Alarm versetzt.

„Wie konnte das passieren?“, fragte er. Der Anrufer atmete schwer durch, blieb zunächst eine Antwort schuldig. „Wir sind dabei, das herauszufinden. Wenn wir genaue Details erfahren haben, geben wir Ihnen Bescheid, Herr Kriminaloberkommissar Wendt“, sprach die Stimme aus dem Telefonhörer mit einem schuldbewussten Tonfall.

„In Ordnung, ist die Fahndung raus?“, fragte Wendt barsch.

„Selbstredend“, antwortete der Mann jetzt ein wenig sicherer.

Wendt drückte das Gespräch weg und senkte den Kopf.

„Verdammte Idioten“, fluchte er laut vor sich hin und produzierte einige heftige Sorgenfalten auf seiner Stirn. Er schaute auf seine Armbanduhr. Es war kurz nach halb zehn. Trotz der Sonne, die von der Jalousie nur lückenhaft abgehalten wurde, legte sich eine Dunkelheit über die Stadt. Plötzlich kam ihm das Büro kalt und feindselig vor. Ein Schauer fuhr ihm über den Rücken und als er seinen Unterarm betrachtete, sah er die Härchen darauf aufrecht stehen. Wendt schluckte. Langsam, wie in Zeitlupe, griff er zum Telefon und wählte eine interne Nummer.

„Hallo, hier ist Wendt. Frau Oberstaatsanwältin Hansen, ich habe soeben erfahren, dass Ron Baum aus der Klinik in Weißenthurm geflohen ist“, sagte er mit demselben schuldbewussten Tonfall, mit dem kurz zuvor der Mitarbeiter der psychiatrischen Klinik dieses gebeichtet hatte. Brigitta Hansen schwieg. Er hörte sie atmen.

„Ist Hell informiert?“, presste sie hervor.

„Noch nicht. Ich wollte zuerst Sie in Kenntnis setzen.“

„So lange, wie er auf der Insel bleibt, ist der Kommissar in Sicherheit“, antwortete sie sorgenvoll. „Fahndungsfotos von Ron Baum sofort an alle Bahnhöfe und Flughäfen schicken, auch ins Ausland. Er kann auch von den Niederlanden aus nach Mallorca fliegen. Wir müssen diesen Psychopathen so schnell wie möglich wieder dingfest machen.“

Wendt nickte. „Sehe ich auch so. Ich werde Hell informieren, Frau Oberstaatsanwältin.“

„Das übernehme ich. Trommeln Sie Ihre Leute zusammen und leiten die Fahndung nach Baum ein. Ich will, dass jeder Kollege auf der Straße sein verdammtes Gesicht kennt!“

„Okay“, seufzte Wendt. Und er erkannte: Brigitta Hansens Wortwahl war außergewöhnlich. Für sie, die sonst vornehme Zurückhaltung lebte. Das Wort ‚verdammt‘ gehörte nicht zu ihrem Wortschatz.

Das noch eben als angenehm empfundene Sommerloch wurde mit einer längst als erledigt angesehenen Geschichte gefüllt. Ein Doppelmörder war auf der Flucht. Wendt musste versuchen, seinen persönlichen Zorn unter Kontrolle zu bringen, sonst würde er ihm nur im Weg stehen. Er musste auf Distanz zu diesem Ereignis gehen. Wie auch immer er das bewerkstelligen konnte. Dieser Mann, der jetzt auf der Flucht war, dieser Mann war dafür verantwortlich, dass Oliver Hell seit Monaten auf Mallorca in selbstgewählter Klausur lebte. Mallorca war für ihn eine Art Exil. Was ja nur sein gutes Recht war, schließlich hatte Ron Baum versucht, ihn und Franziska zu töten.

In diesem Moment bemerkte er, dass Christina Meinhold leise das Büro betreten hatte. Sofort erkannte sie, dass etwas vorgefallen war.

„Morgen Jan-Phillip, was ist passiert?“

Wendt hob den Kopf. „Ron Baum ist aus dem psychiatrischen Krankenhaus geflüchtet. Sie gehen davon aus, dass er versteckt in einem Wäschekorb aus der Klinik geflohen ist.“

Meinhold verharrte einen Augenblick lang in der Tür, dann setzte sie sich.

„Und der Chef?“

„Hansen informiert ihn.“

„Und wir bilden ein Fahndungsteam?“

„Sofort, Christina, sofort“, antwortete Wendt und schluckte. Sie schwiegen einen Augenblick, während Wendt nach weiteren Worten suchte. „Mach dir keine Sorgen, Jan-Phillip. Wir werden den Kerl kriegen, bevor er das Land verlassen kann.“

„Du gehst auch davon aus, dass er darüber Bescheid weiß?“

„Natürlich, er hat sicher auch die Nachrichten gelesen. Hells – nennen wir es Flucht – nach Mallorca war lange genug in den Schlagzeilen.“

Wendt brummte unwirsch. Meinholds Nasenflügel bebten. Sie hatte für ihre Abschlussarbeit als Profiler die unglaublichen Taten von Gregor Quade, dem ‚Siegsteig-Killer‘, analysiert. Um Ron Baums Profil musste sie sich jetzt sehr schnell kümmern. Herausfinden, was er als nächstes plante.

„Bis Sebi und Lea hier sind, kümmere ich mich um unseren Flüchtling. Ich meine … du weißt schon“, sagte sie und drehte einen Zeigefinger neben ihrer Schläfe.

„Schon klar“, gab Wendt zurück.

*

Siegburg

Ron Baum duckte sich. Auf dem Waldweg raste ein Mountainbiker vorbei. Als das Geräusch verklungen war, erhob er sich und tastete den Waldboden ab. Irgendwo hier hatte er ein Versteck angelegt. Seine Hände flogen über die verwitterten Blätter, dann begann er zu graben, bis er auf einen blauen Müllsack stieß und diesen eilig aus dem Boden zog. Nachdem er seine Klinikkleidung gegen die ihm vertraute Kleidung getauscht hatte, vergrub er den Sack an derselben Stelle. Aus einem mit braunem Band wasserdicht verklebten Beutel zog er einen Ausweis, einen Führerschein und einen Reisepass. Er betrachtete das Foto auf dem Ausweis. Lächelnd. Daneben stand sein neuer Name. Diesen Namen hatte er sich in den letzten Monaten eingeprägt, ebenso wie seine neue Lebensgeschichte. Er war sicher, dass er darauf sein neues Leben aufbauen konnte. Nachdem er seinen Racheplan ausgeführt hatte. Wenn Hell endlich tot war. Alexander Geißler. So hieß er ab jetzt. Alexander Geißler würde das ausführen, was Ron Baum nicht geglückt war. Ganz sicher.

*

Bonn

„Wir müssen ihn aufhalten, bevor er Hell irgendetwas antun kann“, presste Lea Rosin betroffen hervor. Wendt stand hinter Klauk, der wie ein Häufchen Elend auf den Bericht des Krankenhauses starrte.

„Was sind das nur für grausame Amateure dort?“, fluchte Klauk los. Wütend schob er den Bericht über den Tisch, er landete vor Christina Meinhold, die das Blatt Papier mit dem Zeigefinger stoppte. Ihr bezauberndes Lächeln, das jeder, der sie kannte, an ihr liebte, war verblasst wie ein Sonnenuntergang.

 

„Lea hat Recht. Wir können nicht warten, bis er einer Polizeistreife in die Hände fällt. Wir müssen handeln. Ich kann nicht warten, bis irgendjemand unsere Arbeit erledigt. Wir sind Hells Team und unser Chef erwartet von uns, dass wir unseren Job erledigen“, flüsterte sie und ihre Worte hatten eine Schärfe, die keiner im Team jemals von ihr gehört, geschweige denn von ihr erwartet hatte.

„Und wie stellst du dir das vor?“, fragte Klauk und sah Meinhold fest in die Augen.

„Indem ich ein Profil erstelle und wir dementsprechend handeln“, erwiderte sie kühl.

„Und das ist für dich so einfach?“

„Ja, ich habe mich in den letzten Jahren mit nichts anderem befasst. In der Theorie. Und ich brenne darauf, es endlich in die Tat umzusetzen. Welche Gelegenheit ist besser, als ein Profil von einem Mann zu erstellen, den ihr verfolgt habt? Wir kennen Ron Baum, wissen, dass er ein schwerwiegendes gesundheitliches Problem hat. Wir wissen außerdem, dass er Hell töten wollte. Wir wissen, dass er ein Psycho-Problem hat, das können wir uns zunutze machen … nein, das müssen wir uns zunutze machen.“

„Psycho-Problem? Du nennst es ein Psycho-Problem? Fällt dir denn keine genauere Definition ein?“, fragte Wendt.

„Doch, Jan-Phillip, diese Definition kann ich dir sogar sehr gerne erläutern!“

„Ich höre!“

Meinhold schickte ihm einen durchdringenden Blick zu, dann fing sie an mit ihrer Erklärung. „Also, wenn ich mich richtig erinnere, dann leidet Ron Baum unter Narkolepsie und zwar unter der verschärften Variante mit Kataplexien, wie wir alle wissen. Daher muss er Tabletten nehmen. Über die Klinik erfahren wir, welche sie ihm verabreicht haben. Diese Tabletten braucht er je nach Dosierung bis zu zweimal am Tag. Wenn er keine Tabletten aus der Klinik gestohlen hat, muss er sich welche besorgen, wenn er nicht irgendwo auf der Straße einpennen will. Und aufzufallen kann er sich nicht leisten.“

„Ich muss keinem von uns erklären, was bei dieser Sache auf dem Spiel steht“, sagte Wendt. Meinhold drehte ihm den Kopf zu. Sie hatte verstanden. Ihm fehlte die Analyse.

„Wir vier sind Hells Schutzengel“, sagte jetzt Klauk und starrte vor sich hin, „also müssen wir verdammt gute Arbeit leisten.“

„Das werden wir, Sebi. Scheiße, wir werden ihn davon abhalten unserem Chef noch mehr Leid zuzufügen, als er ihm bisher schon zugefügt hat!“ Wendt bekam erneut einen Seitenblick von Meinhold zugeworfen.

„So, jetzt noch das versprochene Profil. Was ich jetzt sage, ist eine Hypothese: Baum leidet unter der Erwachsenen-Version von ADHS. Ja, das was mittlerweile jedes dritte Kind hat, weil es vielfach überfrachtet und überfordert ist. Und wenn ihr euch jetzt fragt, ob ich noch richtig ticke, dann hört erst einmal zu. Alle Symptome, die bei den Kindern auftauchen, können in einer abgemilderten Variante auch bei Erwachsenen beobachtet werden. Schwierigkeiten mit Planung und Organisation sind zum Beispiel typische ADHS-Symptome. Erwachsene erreichen daher im Berufs- und im Privatleben oft nicht die Ziele, die sie sich ursprünglich gesteckt hatten. Ron Baum war der Mann einer erfolgreichen Beamtin, jedenfalls war sie das, bevor sie an Depression erkrankte. Er hat sich im Glanz seiner Ehefrau eingerichtet, da fiel es nicht so auf, dass er nur ein kleines Licht war. ADHS bei Erwachsenen äußert sich häufig in Verhaltensweisen, die auf die Umwelt befremdend und nachlässig wirken können. Ron Baum galt als kauzig, aber ungefährlich. Bis zum Tod seiner Frau jedenfalls.“ Meinhold machte eine kurze Pause.

„Problematisch sind zum Beispiel die fehlende Ausdauer sowie Verspätungen und Unordnung. Die Unfähigkeit, sich längere Zeit auf eine Sache zu konzentrieren, hat zur Folge, dass die Betroffenen Aufgaben vergessen oder nur teilweise erledigen. Daher sind die Betroffenen häufig selbstständig, können so ihre Launen mit ins Leben einplanen, ohne dass es dem Umfeld auffällt. Können sie sich aber für ein Thema begeistern, können sie sich mit großer Ausdauer darauf fokussieren. Baum war Spezialist für Fälschungen aller Art. Das war sein Metier, da kannte er sich aus. Erwachsene mit ADHS handeln häufig impulsiv. Sie treffen Entscheidungen spontan aus dem Bauch heraus. Auch ihre Stimmung kann schnell umschlagen.“

„Das klingt für mich alles schlüssig. Warum war Baum deswegen nicht in Behandlung?“

„Eine berechtigte Frage, Sebi“, antwortete Christina Meinhold. „Ich gehe davon aus, dass er es entweder geschickt verbergen konnte oder völlig ahnungslos war. Es kann sein, dass man mit ADHS durchs Leben kommt, ohne auch nur zu wissen, dass man es hat.“

„Was ich mich jetzt allerdings frage, ist, wie kommt denn diese Erkrankung mit seinem Gemütszustand zusammen? Um es ganz gelinde auszudrücken, Baum hat doch mächtig einen neben sich gehen.“

Christina Meinhold nickte und kratzte sich hinter dem Ohr. Hier lag zugegeben die Schwachstelle ihres Profils.

„Wie ich schon gesagt habe, Erwachsene mit ADHS sind manchmal recht schwierige Zeitgenossen. Auf Kritik reagieren sie äußerst sensibel und sind schnell verletzt. Gleichzeitig sind sie nicht zurückhaltend, wenn sie anderen gegenüber richtig deftig austeilen können. Sie haben eine geringe Stress- und Frustrationstoleranz, sind oft aggressiv. Die verminderte Fähigkeit, Impulse zu steuern, wirkt sich vor allem in Kombination mit Stress negativ aus. Neue Situationen und Aufgaben sind daher eine große Herausforderung für sie. Neues erzeugt Stress, den sie aufgrund ihrer mangelnden Organisationsfähigkeit nur schlecht bewältigen können. Laufen dann die Dinge nicht wie erhofft, sind sie oft stark frustriert. Baum ist sicher komplett ausgerastet, als er von der Schwärmerei seiner Frau für Oliver Hell erfuhr. ADHS-Symptome sind häufig Gereiztheit und Jähzorn. Was uns aber mehr interessiert, ist das Auftreten weiterer psychischer Störungen im Zusammenhang mit ADHS. Symptome, wie zum Beispiel starke Ängstlichkeit oder Niedergeschlagenheit, können ein Hinweis auf eine Angststörung oder Depression sein. Ein erhöhtes Risiko für Depressionen und Ängste besteht immer, ebenso leiden sie auch häufiger unter Persönlichkeitsstörungen. Ein mit Medikamenten gut eingestellter ADHS-Patient kann aber völlig unauffällig leben. Das muss uns jetzt erst einmal reichen. Wir wissen, wen wir suchen und wenn wir den Kollegen zu viel Informationen an die Hand geben, verwirrt sie das nur.“

„Wenn ich dich richtig verstehe, dann kann es sein, dass er versucht, illegal an seine Pillen zu gelangen, damit er nicht auffällt?“

„Ja, das kann sein. Frage bitte in der Klinik nach, was er für Medikamente erhalten hat und ob sie einen Diebstahl dieses Präparats bemerkt haben“, antwortete Meinhold und Klauk griff sofort nach dem Zettel, den er zuvor so achtlos über den Tisch geschubst hatte. „Wird sofort erledigt!“

„Lernt man das alles in den Profiler-Lehrgängen?“, fragte Lea Rosin.

„Nein, ADHS ist ein Steckenpferd von mir“, antwortete Meinhold und alle außer Rosin erinnerten sich sofort an den Disput, den sie vor Jahren mit Dr. Franziska Leck hatte, als diese noch nicht Hells Partnerin war. Wendt grinste und war insgeheim froh, dass Meinhold wieder zurück im Team war. Und wenn ihn sein Gefühl nicht trog, war sie besser als jemals zuvor. Früher war es ihre Stärke, menschliche Schwächen zu erkennen und um die Ecke zu denken. Jetzt wusste sie noch mehr über diese Schwächen und wann es sich lohnte, um die Ecke zu denken. Ohne stur auf ihrem Standpunkt zu beharren. Es konnte nur besser sein als zuvor mit ihr zusammen zu arbeiten.

„Wir sind gut aufgestellt“, sagte Wendt und rang sich ein Lächeln ab.

„Das müssen wir sein“, antwortete Meinhold.

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