Der Finder

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Michael Schreckenberg

Der Finder

Endzeit-Thriller

INHALTSVERZEICHNIS

Cover

Titel

Impressum

Danksagung

Prolog: Die leere

Erster Teil: nach dem Ende

Zwischenspiel: Winter

Das Ende des Weges

Epilog: am Anfang

Über den Autor

Weitere Romantipps

Impressum

© 2010 Michael Schreckenberg

Alle Nutzungsrechte dieser Ausgabe bei

Gardez! Verlag

Michael Itschert

Richthofenstraße 14

42899 Remscheid

www.gardez.de

JUHR Verlag

Waldweg 34a

51688 Wipperfürth

www.juhrverlag.de

Lektorat

Daniel Juhr

Satz

Daniel Juhr

Titelreinzeichnung

Reprosatz Neumann GmbH, Remscheid, www.reprosatz.de

2. Auflage 2013

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2015

Alle Hauptfiguren und Handlungen sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind rein zufällig.

Titelfotografie:

AALEXX Buchproduktion, Großburgwedel. Printed in Germany.

Das Werk ist vollumfänglich geschützt. Jede Verwertung wie zum Beispiel die Verbreitung, der auszugsweise Nachdruck, die fotomechanische Verarbeitung sowie die Verarbeitung und Speicherung in elektronischen Systemen bedarf der vorherigen Genehmigung durch die Verlage.

ISBN: 978-3-94262-523-4

Wer einen Roman verfasst, muss der Geschichte lauschen und sie niederschreiben. Und er braucht Freunde, Verbündete und Kritiker, um die Geschichte zu pflegen und zu ihren Lesern zu bringen. Ich bin meinen Freunden, Verbündeten und Kritikern zu tiefem Dank verpflichtet.

Danke:

Claudia

Stefan

Elke

Peter

Steffi

Sarah

Daniel

und Muriel für die Hilfe beim Titel

Ich gehöre zu der Sorte Autoren, die beim Schreiben einen Soundtrack braucht. Ohne die Musik wäre die Geschichte nicht die, die sie ist. Den Soundtrack zu diesem Buch lieferten vor allem:

16 Horsepower

Bad Behaviour

Black Sabbath

Calexico

Guano Apes

Leonard Cohen

Nick Cave and the Bad Seeds

The Boozehounds

The Stranglers

XTC

PROLOG: DIE LEERE

Where is Mona?

She’s long gone

Where is Mary?

She’s taken her along

But they haven’t put their mittens on

And there’s fifteen feet of pure white snow

(Nick Cave, Fifteen feet of pure white snow)

Als die Leere mich schließlich überkam, dachte ich, ich würde wahnsinnig. Jetzt doch – erst jetzt. Ich hatte lange ausgehalten, immerhin. Aber dann hatte ich die Schlösser gesehen, und auf ihre Weise waren die Schlösser schlimmer gewesen als alles andere. Sie hatten der Leere Namen gegeben.

Bis dahin war es ein vergleichsweise normaler Tag gewesen, ein guter sogar. Ich hatte im Bergischen Land, gar nicht so weit von unserem Hof entfernt, eine Spur gefunden und folgte ihr jetzt seit ein paar Tagen. Die letzte Nacht hatte ich in einer Kirche verbracht, ich war vor dem Morgengrauen aufgestanden, hatte das Pferd gesattelt, meinen Hund gerufen und mich auf den Weg zum Fluss gemacht. Ich wollte ihn auf einer der großen Brücken überqueren und auf der anderen Seite weiter suchen. Ich war abgesessen und hatte mein Pferd auf die Brücke geführt. Es war später Herbst, fast schon Winter, und der Wind über dem Fluss stach mir ins Gesicht. Aber der lange Mantel hielt mich warm. Alles lief gut, und ich war zuversichtlich. Die Leere war da, aber ich kannte sie ja. Ich hatte mich daran gewöhnt.

Dachte ich.

Und dann sah ich die Schlösser. Menschen hatten sie an den Zaun gehängt, Liebespaare hatten ihre Namen oder Initialen darauf geschrieben und die Schlüssel in den Rhein geworfen. Ewige Liebe …

Ich stand vor dem Zaun und starrte die Schlösser an. So viele Schlösser. So viele Menschen. Ich taumelte weg vom Zaun, blind, prallte gegen das Brückengeländer und schaffte es gerade noch, mich festzuhalten, bevor ein plötzlicher Brechreiz mich zusammenklappte. Ich übergab mich nicht.

Statt dessen begann ich zu schreien. Die Leere! Sie war um mich, hinter mir, in Leverkusen, Hilden, Wuppertal, überall. Und vor mir lag die Silhouette der größten Stadt weit und breit, der Dom, der Bahnhof, der Fernsehturm, Groß St. Martin, Straßen, Häuser … Und es war alles leer. Ich befand mich mitten auf der Hohenzollernbrücke, und kein Zug war hier, und kein Schiff auf dem Rhein und kein Auto auf den Straßen und kein Mensch weit und breit, und es würde auch keiner kommen. Nur ich. Und mein Pferd. Und mein Hund. Ich schrie! Und schrie!

Kein Mensch hörte mich. Und die Leere kroch in mich, sie breitete sich aus und begann mich zu fressen. Und es war natürlich Esther, die sie aufhielt. Meine Liebe. Denn es gab noch Menschen. Hinter mir, jenseits des Rheins, einige Tagesmärsche entfernt, gab es einen Hof, und dort lebten Menschen. Ein kleiner, übriggebliebener Rest. Und vielleicht auch vor mir. Ein weiterer Rest. Denn ich hatte eine Spur gefunden. Und der musste ich nun folgen.

Aber die Leere war so groß und so mächtig und ich fürchtete mich vor der Stille der Stadt. Vor dem, was einmal eine Stadt gewesen war, noch vor Kurzem, als dort eine Million Menschen gelebt hatte. Denn es hatte diese Menschen gegeben, und es war noch gar nicht lange her, da war die Welt voller Menschen gewesen.

In einer warmen Nacht im Frühsommer, wenige Monate bevor die Leere mich auf der Hohenzollernbrücke auf die Knie warf, da war alles noch so gewesen, wie immer, auf diesem Planeten mit seinen sechs Milliarden Bewohnern. Und meine Freunde und ich, wir hatten in dieser Nacht gefeiert …

ERSTER TEIL: NACH DEM ENDE

I see a bad moon rising

I see trouble on the way

I see earthquakes and lightnin’

I see a bad time today

(John Fogerty, Bad Moon Rising)

You’re one microscopic cog

in his catastrophic plan

designed and directed

by his Red Right Hand

(Nick Cave, Red Right Hand)

1

Ich stolperte aus dem Wagen auf die Straße, warf die Tür hinter mir zu, fingerte nach dem Schlüssel und rettete mich in die Dunkelheit des Hausflurs. Dunkel. Gut. Nur kein Licht. Kühl war es hier. Gut. Ich öffnete die Augen vorsichtig weiter als einen Spalt, stellte fest, dass nichts Schlimmes passierte und öffnete sie ganz. Dunkel. Gut. Immerhin hell genug, ein wenig zu sehen. Ich hob meinen Arm in Augenhöhe und starrte eine Weile auf meine Armbanduhr, bis ich verstand. Zehn Uhr. Besser nach oben. Besser nochmal ins Bett. Ich dachte kurz an den Schlafsack und das ganze Zeug. Im Auto. Draußen. Schlecht. Ich zog mich zwei Treppen hoch bis vor meine Wohnungstür. Wieder Schlüssel. Ich schleppte mich durch die Tür, warf sie hinter mir zu, stellte fest, dass die Jalousien vor allen Fenstern halb runtergezogen waren, stolperte durch den Flur ins Schlafzimmer, zog mir dabei die Schuhe von den Füßen, kickte sie in die Gegend und fiel ins Bett. Noch ein letztes Mal durchzuckte mich ein Rest von Energie, ich schaffte es, den Gürtel aufzumachen und mir die Jeans vom Körper zu schütteln, dann lag ich einfach schlaff und bewegungslos da, starrte an die Decke und genoss die fast vollständige Abwesenheit von Licht. Ruhe. Kühle. Dunkelheit. Gut. Draußen raste ein brüllend heller Tag im heißesten Frühsommer seit Jahren dem Mittag entgegen. Oh mein Gott. Was für eine Party.

Was für eine Frau.

Esther.

Meine Augen fielen zu, und ich wollte schlafen. Es ging nicht. Bilder von gestern Abend im Kopf. Die Party im alten Bunker. Zehn Jahre Abi. Natürlich war ich hingegangen. Was ist aus dem geworden, wen hat die geheiratet, was machen die heute … es war egal. Es war völlig egal, wer Arzt geworden war, wer Banker, wer Bildhauer, wer immer noch studierte. Natürlich sprachen wir darüber. „Nein, toll, dass du auch da bist, was machst du denn so …“ Nach zwei Stunden waren trotzdem wieder alle die Alten. Ich habe zum ersten Mal seit etwa acht Jahren wieder Karikaturen auf Bierdeckel gezeichnet. Ich zeichne fast gar nicht mehr, schon gar keine Karikaturen (weil ich keine Karikaturen kann, ich habe das mit etwa zwanzig eingesehen). Ich fotografiere. Ich bin Fotograf und seit etwa zwei Jahren der neue Name für Friedhöfe, Kathedralen und ähnlich heimelige Orte. Ich zeichne nicht mehr? Ich habe fast die gesamte Gesellschaft schlecht karikiert und sie haben gejohlt und gejubelt. Sie wollten sogar noch die alten Lehrerportraits. „Mach doch nochmal den …, kannst du den noch?“ Natürlich konnte ich sie noch, abgesehen davon, dass ich sie nie gekonnt hatte. Ich karikierte sie alle, und sie liebten mich dafür, wie sie Carmen dafür liebten, dass sie immer noch Gitarre spielte (sie hatte das wirklich gekonnt) und Jan dafür, dass er wieder den dämlichen Clown gab, den er neun Jahre lang gegeben hatte. Im wirklichen Leben war er inzwischen Oberleutnant. Vor wenigen Monaten war er noch in Afghanistan gewesen.

 

„He, du hast Esther noch nicht gemalt. Mal mal Esther!“

Esther? Esther wer? Esther Brandt. Ganz entfernt sagte der Name mir was. Ich schaute suchend von meinen Bierdeckeln auf … und sie fängt mich mit ihren Augen.

Ich starre sie so lange an, dass sie unsicher wird und ihr erwartungsvolles Mädchenlächeln (wir waren ja alle plötzlich und wunderbar zehn Jahre jünger geworden) sich verzieht.

„Ist was?“

Ich fange mich und schüttele den Kopf. „Nee, warte mal.“

Bierdeckel, Bleistift, zwei, drei Striche, nein, neuer Bierdeckel, Striche, nein, dritter Bierdeckel, nein, Bierdeckel wird geknickt und in die Ecke geschmissen, ich stehe auf und zucke mit den Schultern.

„Geht nicht. Ich kann nicht malen.“

„Quatsch, du malst toll.“ Sie lächelt wieder, aber immer noch unsicher. Ich bin nicht mehr neunzehn, ich bin wieder neunundzwanzig und alles in mir schreit nach meinen Kameras, das heißt, alles, was nicht nach ihr schreit. „Du bist zu schön.“

Jetzt lacht sie wieder richtig. Sie meint, ich scherze. Thank God for little favours. Wo sind eigentlich die anderen? Ich sehe mich um, und sie sind natürlich alle noch da und starren mich an. Inmitten ihrer Party ist plötzlich ein Geist aufgetaucht. Und für mich sind sie mit einem Mal Gespenster aus der Vergangenheit. Mich gruselt und ich drehe mich wortlos um, gehe die Treppe runter nach draußen, lehne mich an die kühle Betonwand und atme durch. Wie schön ruhig die Sommernacht ist. Wie angenehm kühl und rau die Wand des alten Bunkers. Ein Auto fährt vorbei, die Musik, die durchs Treppenhaus nach unten kommt, stört kaum. Ich atme noch einmal durch, schaue in die Sterne und fummele die Bensons aus meiner Brusttasche. Zigarette an, zwei Züge, schmeckt köstlich. Was ist eigentlich passiert?

Schritte auf der Treppe. Oh, bitte, bitte, bitte. Ja, sie ist es. Kommt um die Ecke, sieht mich und lächelt wieder unsicher. Wunderschöne Augen, wunderschöne Haare, wunderschöner Körper, wunderschöne Frau.

„Was war denn?“

Ich schüttele den Kopf. „Nichts, wirklich. Ich kann nur nicht malen.“

„Natürlich kannst du das. Du hast alle gemalt. Fast alle.“

„Ja, ja.“ Jetzt ist es an mir, unsicher zu werden. „Aber eigentlich kann ich es nicht.“

„Wieso?“

„Esther, bitte …“, ich fuchtele mit den Armen herum, meine Zigarette fliegt in hohem Bogen durch die Luft. Ich schaue ihr verständnislos nach. Sie lacht, und ich gewinne einen Rest meiner Fassung wieder. „Nein, ich kann es eigentlich wirklich nicht. Guck dir die Sachen doch mal an. Ich meine, mal eben Jans Nase, gut und schön, aber dich … Das wäre ein Verbrechen.“

Sie lacht wieder und diesmal versteht sie mich und freut sich wirklich.

„Danke.“

„Bitte.“

Wir stehen eine Weile nur rum und gewöhnen uns aneinander. Sie taucht ganz auf und ist bei mir, in der wirklichen Welt.

„Du bist jetzt Fotograf, oder?“

„Ja.“

Sie nickt. „Und was fotografierst du? Ich meine, Werbung oder Mode oder sowas?“

„Nein, hauptsächlich Gebäude. Und Friedhöfe.“

„Friedhöfe?“

„Ja.“

„Wofür fotografiert man Friedhöfe?“

„Für Agenturen. Ich kann ganz gut so Stimmungen fotografieren. Gruselige Atmosphäre. Solche Sachen sind gefragter, als man denkt. Und ich habe schon zwei Bildbände gemacht.“ Oh Himmel, ich fange an anzugeben. Sie merkt es aber nicht und lacht wieder.

„Bildbände über Friedhöfe?“

„Ja, der zweite. Der erste war mit Kirchen.“

„Kirchen?“ Sie grinst.

„Ja.“ Ich fange auch an, es lustig zu finden. Warum?

„Und die verkaufen sich?“

„Wie bescheuert.“ Jetzt grinse ich.

„Bist du so gut?“

„Ich bin in Mode. Aber ich kann schon auch ganz gut fotografieren. Ich kann nur nicht malen.“

Sie überlegt einen Augenblick. „Nee, kannst du wirklich nicht.“

Jetzt lachen wir beide, und in diesem Moment ist alles perfekt. Gehen wir gemeinsam durch die nächtliche Stadt spazieren, und ich nehme beiläufig ihre Hand? Nein. Ich zünde mir eine zweite Zigarette an, biete ihr auch eine an, sie schüttelt den Kopf und wir starren beide eine Weile in die Gegend. Dann schmeiße ich die Kippe auf den Boden, trete sie aus und frage, ob wir wieder hochgehen sollen. Sie nickt, und wir tauchen wieder in die Party. Wir werden beide angesprochen, verlieren uns, ich fange an zu trinken. Und höre nicht mehr damit auf. Gegen fünf beginnen alle, ihre Schlafsäcke auszurollen, ich auch. Ich fühle mich ungeheuer wohlig und schwer und krieche hinein. Dann entdecke ich, dass sie direkt neben mir liegt. Sie schaut mich an, zwinkert und wünscht mir eine gute Nacht. Ich versuche zu antworten und schlafe stattdessen ein.

Am Morgen (nein, Vormittag) um halb zehn war es brüllend hell, und ich wachte auf. Sie war weg. Ich rollte meinen Schlafsack ein, sprach ein paar Worte, schüttelte ein paar Hände, klopfte auf ein paar Schultern und war draußen. Fand meinen Wagen. Warf mein Zeug auf den Beifahrersitz, klemmte mich hinters Steuer und fuhr mit etwa dreihundert Promille Restalkohol nach Hause. Das war’s. Ende der Geschichte.

Ich lag auf meinem Bett und versuchte zu schlafen. Ging nicht. Wegen Esther. Ich setzte mich auf den Bettrand, zog Zigaretten aus der Nachttischschublade, zündete mir eine an und versuchte nachzudenken. Es konnte eigentlich nicht schwer sein, ihre Telefonnummer rauszukriegen, oder? Es sei denn, sie hieß jetzt anders. Weil sie zum Beispiel verheiratet war. Wer hatte die Party organisiert? Denk nach! Wer hat die Einladung unterschrieben? Kerstin, Matthias, David. Die mussten es ja wissen. Und was, wenn sie jetzt am Arsch der Welt wohnte, Australien zum Beispiel oder München? Nun, ich war freier Fotograf, oder? Von wo aus ich meine Bilder schickte, war wirklich egal. Ich stand auf, ging ins Bad, warf die Kippe ins Klo und pinkelte hinterher. Ein Mundvoll kaltes Wasser, ausspucken und zurück ins Bett. Matthias anrufen. Morgen. Sofort. Ich schlief ein.

Ich wachte auf, tastete nach meinem Wecker, fand ihn, hielt ihn mir vors Gesicht und öffnete die Augen. Viertel nach vier. Ich fühlte mich wach und gut. Im Zimmer war es immer noch grau, weil ich den Sommer wirksam ausgesperrt hatte. Ich ging ins Bad und zog mir mit einem gewissen Ekel die verschwitzten Klamotten vom Körper. Dann putzte ich mir die Zähne und duschte ausgiebig. Ich fand in meinem Schrank eine Unterhose, ein T-Shirt und eine lange Sporthose, zog alles an und griff mir ein paar Landkarten und meinen Laptop. Auf dem Esstisch wartete eine Flasche Cola auf mich. Ich breitete die Karten aus. Friedhöfe suchen. Es klingelte. Ich hatte keine Lust auf Leute und ließ es klingeln. Etwa achtmal. Dann fluchte ich, ging zur Tür und drückte den Summer. Ein paar Sekunden später stand sie vor mir. Haare, Augen, Top, geblümter Rock, Beine und sagte: „Hallo.“

Ich sagte nichts. Ich konnte nicht. Nicht mit dem Mund. Aber während ich schwieg, führten unsere Augen eine fröhliche Unterhaltung. Ich nahm sie bei der Hand und zog sie rein. Sie küsste mich, und während mein Kopf noch versuchte zu registrieren, was eigentlich gerade passierte, hatten meine Hände längst begriffen, was unsere Augen beschlossen hatten, freuten sich unbändig und versuchten, überall gleichzeitig zu sein, Po, Beine, Bauch, Brüste, Haare, Gesicht, alles. Ich war, glaube ich, zeitweise im Besitz von mehr Zungen, Lippen, und Händen als mir zustanden, dafür hatte ich kein Gehirn und keine Sprache, aber wen störte das? Ich weiß nicht wie und warum, aber wir schafften es irgendwie in mein Bett, und sie nahm mich so weich und leicht auf, als gehörte ich nur dorthin und nirgendwo sonst. Wir kamen schnell und fast gleichzeitig und nichts explodierte in meinem Kopf, mein Kopf explodierte einfach selbst.

Wir lagen teilweise neben-, teilweise übereinander und japsten. Dann bekamen wir beide einen Lachkrampf und ich nahm sie in den Arm und küsste sie, und das war fast das Schönste. Dann rangen wir wieder ein wenig nach Luft. Mein Gehirn und meine Sprache kamen vorbei, fragten schüchtern nach, und ich ließ sie gnädig wieder ein.

„Schön, dass du vorbeikommst“, sagte ich.

„Ja, nicht wahr?“ Sie schaute mich an, schmunzelte mit dem Mund, sprühte mit den Augen vor Lachen und ich liebte sie. Gestern hatte ich mich verliebt, eben hatte ich den Sex meines Lebens gehabt, jetzt liebte ich sie.

„Ich hatte überlegt, ob du wohl verheiratet bist oder in Australien wohnst“, sagte ich. „Ich wollte Matthias anrufen und fragen, aber ich bin eingeschlafen.“

„Ich war schneller. Ich habe David gefragt, bevor ich gegangen bin. Ich bin nicht verheiratet und wohne in Quettingen.“ Sie kicherte.

„Warum bist du vorbeigekommen?“

„Ich wollte früh weg nach der Party und habe dann ehrlich befürchtet, dass du dich an nichts mehr erinnerst. Du warst dermaßen besoffen.“

Sie schob sich auf mich und küsste mich auf den Mund. Ich spielte ein wenig mit ihren Haaren und genoss das Gefühl ihrer Haut auf meiner Haut.

„Und warum bist du also vorbeigekommen?“

„Habe ich doch gesagt, weil du so beso …“

„Das meine ich nicht.“

Sie schaute mich nachdenklich und ein wenig misstrauisch an und ich verfluchte mich.

„Weil ich mich in dich verliebt habe, das weißt du doch.“

Ich prüfte meine Erinnerung und fand nichts Entsprechendes.

„Nein, wusste ich nicht. Ich wusste nur, dass ich mich in dich verliebt hatte.“

Sie lachte, alles war wieder gut. „Das wusste ich auch.“

Aha, so offensichtlich war es also gewesen. „Wieso?“

„Ich wusste es, als du deine Kippe durch die Gegend geschossen hast. Das war klasse.“ Sie lachte wieder, aber so lieb, dass mir Bilder von Ewigkeit durch den Kopf schwammen. Sie hatte mich voll erwischt, entwaffnet und annektiert. Ich hakte gedankenverloren ihren Rock auf, den wir beim Kleiderentfernen irgendwie übersehen hatten, warf ihn weg und streichelte ihren Po und das Stück Rücken darüber. Sie floss um mich. Diesmal dauerte es sehr, sehr lange.

Später lagen wir nebeneinander und tranken abwechselnd aus der Colaflasche. Esther hatte sie geholt, während ich auf dem Klo war, und meine Karten gesehen.

„Willst du verreisen?“

„Nein. Ich suche neue Friedhöfe.“

„Ach ja, die Friedhöfe. Ich habe mir ja einen berühmten Fotografen geangelt.“

In meinem Kopf führte ich einen wilden Freudentanz auf. Sie hatte geangelt gesagt.

„Ja, Deutschlands neuen Stern am Gruselfotografenhimmel. Nicht, dass es da allzu viele Sterne gäbe.“

Sie schaute mich mit schräg gelegtem Kopf an. „Verdienst du viel?“

„Führen wir Verhandlungen über einen Ehevertrag?“

„Nein, ich bin nur neugierig. Habe ich jetzt einen reichen Liebhaber?“

„Hast du dich in der Wohnung mal umgesehen?“

„Kaum. Der Inhalt hat mich mehr interessiert.“

„Du würdest enttäuscht sein.“

„Na, vielleicht hast du ja alles in dein Haus auf den Bahamas gesteckt.“

„Ich kann davon leben und nicht schlecht. Das ist alles.“

„Ist egal. Du musst nicht reich sein. Du bist ja dafür im Bett wie ein …, nee, egal.“

„Ich kann mich auch nicht beklagen.“

„Wir sind schon toll.“

Jetzt hatte sie wir gesagt. Ich genoss es eine Weile still, dann begann sich in mir Neugierde zu regen.

„Und was machst du jetzt so?“

„Ich habe einen Hostessenservice.“

Ich prustete eine Ladung Cola über die Bettdecke.

„Was?!“

„Messehostessen, Mann!“ Hatte ich sie beleidigt?

„Klar. Nur, weil du … ich meine, wie du angezogen warst …“ Ich stammelte noch ein paar Dämlichkeiten und hielt dann meinen Mund. Sie schaute mich mitleidig an.

 

„Meinst du, ich laufe deshalb jetzt mein Leben lang im Kostümchen rum oder was?“

„Entschuldige, ich bin ein Idiot.“

„Du bist gerade noch zu ertragen.“ Sie hatte mir schon wieder verziehen und küsste mich. Ich konnte mein Glück kaum fassen.

„Wie kommt man zu sowas?“, wollte ich wissen.

„Wie kommt man dazu, Friedhöfe zu fotografieren?“

„Ich habe zuerst gefragt.“

„Okay. Ich war erst Krankenschwester und habe dann Medizin studiert. Das Studium habe ich mir unter anderem als Hostess finanziert. Irgendwann haben ein paar Kunden angefangen, mich direkt zu buchen, nicht mehr über die Agentur. Und ich habe gemerkt, dass ich dazu entschieden mehr Talent habe als zur Medizinstudentin, habe abgebrochen und mich mit zwei Freundinnen selbstständig gemacht. Meine Kunden blieben bei mir, wir haben ein paar Mädchen und Jungs unter Vertrag genommen, die anderswo unzufrieden waren, voilà. Inzwischen gehe ich fast gar nicht mehr auf Messen, ich mache den ganzen Kundenkontakt.“

„Und, bist du denn reich?“

Sie grinste. „Ich kann davon leben und nicht schlecht. Aber wir haben natürlich noch Schulden am Arsch.“

Ich fühlte vorsichtshalber: „Nein, da ist nichts.“

„Blödmann. Und, warum fotografierst du Friedhöfe?“

„Ein Freund von mir, Sven, schreibt Kurzgeschichten. Horror, Grusel, so’n Kram. Und weil ich nun mal Fotograf bin, hat er mich gebeten, sie zu illustrieren. Ich habe alte Häuser fotografiert, Wasserspeier, Grabsteine, alles auf unheimlich. Hat Spaß gemacht. Wir haben das Zeug an Verlage geschickt, irgendwer hat irgendwem die Fotos gezeigt und ich war im Geschäft. Nie wieder Hochzeiten. Ich hatte einfach Glück.“

„Du musst auch gut sein, sonst klappt sowas nicht.“

„Hm.“

„Und dein Freund? Haben sie seine Geschichten auch gekauft?“

„Nein.“

„Ist er noch dein Freund?“

„Ja.“

„Du hast echt Glück.“

Ich wühlte ein wenig in alten Erinnerungen.

„Ich konnte mich gestern fast nicht an deinen Namen erinnern. Ich habe dich in der Schule kaum wahrgenommen.“

„Ich dich schon. Ich fand dich langweilig.“

„Wieso?“

„Weiß nicht. Ich fand dich eben öde.“

„Aha.“

„Tut mir leid.“ Sie drehte sich zu mir und begann, von meinem Hals abwärts zu wandern. Etwa auf Höhe meiner Brust murmelte sie: „Außerdem habe ich mich, glaube ich, geirrt.“

Wieder etwas später stand ich am Fenster, rauchte und schaute hinaus. Ich dachte, sie schlafe. Ich hatte die Jalousie hochgezogen und genoss die Nachtbrise. Es musste etwa vierundzwanzig Stunden her sein, dass ich es nicht geschafft hatte, sie zu zeichnen. Nachts mag ich den Sommer fast so sehr, wie ich ihn tagsüber verabscheue.

„Es ist so ruhig“, sagte ich zu niemandem.

„Ach ja, darüber wollte ich mit dir noch reden, als ich angekommen bin“, kam es schlaftrunken vom Bett.

Ich lächelte aus dem Fenster. „Ich hatte nicht den Eindruck, dass du reden wolltest.“

„Wollte ich dann auch nicht mehr.“

Dann sagte sie wieder lange nichts, ich schaute hinaus und dachte wieder, sie sei eingeschlafen.

„Ich liebe dich, Daniel.“

„Ich liebe dich auch, Esther“, hörte ich mich sagen und erschrak. Und dann merkte ich, dass die Antwort kein alberner Reflex gewesen war. Es stimmte. Ich begriff nicht, warum, ich kannte das gar nicht, so schnell, so zweifelsfrei – aber es stimmte. Ich war glücklich.

Ich legte mich wieder ins Bett, betrachtete eine Zeitlang ihren Rücken und streichelte sie.

„Worüber wolltest du mit mir reden?“

Aber sie schlief schon.

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