Stumme Schreie

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IV.Intermezzo – Perspektivenwechsel

„Die Entmystifizierung beginnt.

Du merkst,

dass Du keine Luft mehr bekommst und sich Deine Augen mit Tränen füllen, während jener Satz in Deinem Gehirn hämmert, (den niemand je öffentlich ausgesprochen hat): „Du bist ein N-icht-s, N-icht-s, N-icht-s …“

G. Kapllani 5

Wer die – dem internationalen Journalismus und den einzelnen Presseorganen zu entnehmenden – Informationen und Situationsschilderungen aufmerksam liest, wird feststellen, dass die nationalen und internationalen Berichterstattungen häufig von statistischen Kennwerten und Daten gespeist werden. Dieser Umstand ist zunächst nicht weiter zu beanstanden, benötigen wir doch diese Parameter, um uns über das Ausmaß der jeweiligen Flüchtlingsbewegungen mit ihren Realitäten und Unwägbarkeiten auseinanderzusetzen.

Natürlich ist es unabdingbar zu wissen, wie viele Menschen in einem Flüchtlingslager leben, um wie viele Personen das Lager bereits überfüllt bewohnt wird, wie viele Millionen sich derzeit im Rahmen der Migrationsbewegungen auf und um den Globus bewegen und wie viele Bewohner eine Gemeinschaftsunterkunft an einem bestimmten Ort hat. Dazu gehören selbstverständlich auch die – eigentlich vermeidbaren – Zahlen der regelmäßig im Mittelmeer und anderen Gewässern Ertrinkenden.

Dennoch übernimmt im Rahmen solcher Formen der Berichterstattung die – wenn man es so nennen will – Kameraführung eine weit von dem einzelnen Betroffenen entfernte Perspektive, die sich immer weiter davon wegbewegt, je nachdem, ob man der Statistik oder aber dem konkreten Geschehen die entsprechende Gewichtung beizumessen pflegt. Die sogenannte „Vogelperspektive“ beleuchtet – statistisch betrachtet – das ganze Ausmaß der Migrationsprozesse, kann aber, das liegt in der Natur ihres Fokus, damit dem Einzelfall nicht mehr gerecht werden.

Insofern sei an dieser Stelle dazu eingeladen, den Fokus auf das Schicksal und die Situationsentwicklung ganz konkreter Einzelperspektiven zu lenken. In diesem Moment zeigt sich die Realität, die eigentliche Welt in ihren untrüglichen Dimensionen, verbunden mit zahlreichen Hürden, Problemfeldern und, wiederum bemühen wir diesen Begriff, mit Grenzen, die aus der Sicht des Einzelnen oft undurchdringlich wirken und sich nicht selten auch als unbezwingbar herausstellen.

Die seelische Substanz, die diese negativ konnotierten Resonanzen in der Regel aufrechterhält, ist die in nahezu jedem Flüchtling grundgelegte Angst auf sämtlichen Erfahrungsebenen. Dieses anhaltende Gefühl, die Kontrolle über die Situation und das Leben verlieren zu können, ist dabei aus der Perspektive der mit den Betroffenen Befassten oft nicht hinreichend zu bemerken bzw. in einem angemessenen Maße zu erspüren.

Es ist eine Sache, aus der Perspektive einer medizinischen Abteilung zu berichten, die sich breitflächig um die interdisziplinäre ärztliche und pflegerische Versorgung von Migranten kümmert, Untersuchungen vornimmt, Diagnosen stellt, Medikamente verordnet und den weiteren Krankheitsverlauf dokumentiert.

Eine weitere Erzählperspektive ist die von ehrenamtlichen Helfern, die Zuwendung signalisieren, Kontakte vermitteln, Nähe spenden, Betreuungsangebote organisieren, Sprachvermittlungskurse ermöglichen und einfach Hilfe anbieten.

Mitunter – weit davon abweichend – steht jedoch der einzelne Betroffene im Fokus ihn umgebender Systeme, behördlicher Strukturen und ehrenamtlich in die Wege geleiteter Hilfs- und Betreuungsangebote.

Der Migrant selbst, angekommen im Zielland, wird registriert und umverteilt, zugeteilt, aufgeteilt, rationiert, beurteilt und interviewt.

Registriert und dokumentiert werden die Lebens- und Fluchtgeschichte, sie werden geglaubt oder angezweifelt, hinterfragt oder abgelehnt. Dabei berichten die Betroffenen lediglich ganz konkret, was ihnen auf dem Weg in den Zielstaat widerfuhr, häufig geprägt von Verfolgung, Gewalt, Inhaftierung, lebensbedrohlichen Momenten, Verlusten von Familienangehörigen, Lebensmittelknappheit und weiteren zahlreichen Entbehrungen.

Nahezu jede und jeder, auf der Flucht mit Situationen konfrontiert, die traumatisierend einwirkten, sieht sich mit dem oft kaum lösbaren Problem konfrontiert, diese Erlebnisse im Erstinterview in der Aufnahmeeinrichtung wieder schildern zu müssen. Denn oft stellt sich ihnen die Angst einfach in den Weg.

Gerade in diesen Situationen holt den Flüchtling die furchtbare Situation wieder ein. Kann er im selben Moment, jetzt, gegenwärtig, in diesem Augenblick überhaupt davon sprechen? Wird ihm nicht wieder, wie schon so oft, gerade jetzt, wo alles Gesagte zählt und über Akzeptanz oder Ablehnung seines Flüchtlingsberichtes entscheiden wird, die Stimme vor Angst versagen?

Jene Angst, mit welcher er schon seit Monaten zu kämpfen hat, die ihn nachts immer wieder aufsucht, die er gegenüber seinen Familienmitgliedern verschweigt, die es ihm verunmöglicht, dem dokumentierenden und kurz und knapp nachfragenden Beamten der Asylbehörde Rede und Antwort zu stehen?

Ahmad aus Afghanistan berichtete beispielsweise später in der ärztlichen Sprechstunde, „wie auf Knopfdruck“ habe alles gehen müssen. Er habe keine Zeit gehabt, Gefühle sprechen zu lassen, alles zu rekapitulieren, die richtige Formulierung zu finden. Wer wisse schon, was er da auf dem Weg von Afghanistan nach Deutschland erlebt habe, wer könne das wirklich beurteilen. Man sei stets nur an harten Fakten interessiert. Die kleinsten Unregelmäßigkeiten im Fluchtbericht würden angezweifelt und damit seine gesamte Glaubwürdigkeit.

Der Flüchtling und seine Angst. Mit ihr bleibt er häufig alleine zurück, immun gegenüber den Familienmitgliedern, den ihn umgebenden Migranten, den ehrenamtlichen Helfern, den Ärzten.

Treffend berichtete Ahmad weiter von seinen Gefühlsabdrücken, die ihn über Monate aus der Bahn warfen:

„Angst kann nur ganz persönlich und existenziell erlebt werden. Niemand kann sie so verspüren wie Du selbst. Angst hat viele Facetten, wird bedrohlich und reißt Dich aus allen Bezügen.

Angst nimmt Dir die Hoffnung, zieht Dir den Boden unter den Füßen weg, zieht Dich in ein Loch.

Es beginnt oft mit einem dumpfen Gefühl, gefolgt von dem Gefühl, die Kontrolle zu verlieren, Du zitterst, erst an den Händen, dann an den Armen, dann am ganzen Körper, Du schläfst kaum und bekommst Alpträume …“

Nur der Blick auf den Einzelfall, die Hinwendung zum Einzelschicksal vermag uns das tatsächliche Ausmaß der seelischen Zustände von Geflüchteten vermitteln, die einst auszogen, um Grenzen zu überwinden und irgendwo anzukommen, einfach um der Angst zu weichen.

Der Perspektivenwechsel führt zur Entmystifizierung des Einzelfalles …!

Folter (Moussa)


Syrien

V.Kasuistik 2: Folter (Moussa) – Syrien

„Man muss etwas riskieren …, Menschlichkeit ohne Kompromisse …!“

Rupert Neudeck, 2015 1

Die blühenden Haine der Kindheit liegen noch sehnsuchtsvoll im Gedächtnis. Die Kindheit verlief geborgen. In Raqua, in Syrien, wird Moussa im Mai 1998 als ältester Sohn geboren. Der 25-jährige Vater arbeitet für ein Fuhrunternehmen, die 20-jährige Mutter, die bis dahin keinen Beruf erlernte, plant eine große Familie. Sechs weitere Geschwister werden folgen, das jüngste Kind wird 2015 geboren werden.

Heute leben die Familienmitglieder verstreut in Griechenland, Kroatien, Österreich und Deutschland.

Im Jahr 1998, Ende des Jahrtausends, sind die Verhältnisse in Syrien noch in Ordnung, zumindest weitestgehend. Bis zu seinem sechsten Lebensjahr wächst Moussa wohlbehütet auf, erlebt in Fürsorge und Wandel die Vergrößerung seiner Familie. Die ersten Schuljahre verlaufen unkompliziert, das Lernen fällt ihm leicht, Freunde gibt es reichlich, die Welt und das Leben fühlen sich stimmig und abgerundet an. Eine unbeschwerte Jugend kündigt sich an.

Erste Herausforderungen folgen. Freundschaften werden geschlossen, Jugendbanden bilden sich, erproben sich in der aufkeimenden Männlichkeit, Rivalen werden besiegt oder man fügt sich der Konkurrenz. Moussa ist jetzt 13 Jahre alt.

Die Jugendlichen, welche sich die letzten Tage wiederholt im Dorf aufhalten, fallen dem Jungen auf. Er wird angesprochen, denkt sich nichts, auch die Freunde werden kontaktiert. Man geht zur Tagesordnung über.

Dann kommt der Tag, der Moussas Leben von Grund auf verändern wird. Später berichtet er dem psychiatrischen Gutachter in der Justizvollzugsanstalt vor seinem Gerichtsverfahren, ab diesem Zeitpunkt sei seine Seele „stückweise gebrochen“ worden.

Doch der Reihe nach. An diesem Morgen im Jahr 2012 geht Moussa in den nahegelegenen Supermarkt des Dorfes. Nach dem Einkauf, noch auf dem anliegenden Parkplatz, treten die jungen Männer an ihn heran. Einige erkennt er noch, es sind die gleichen Personen, die ihn im Dorf angesprochen haben.

Sie sprechen ihn kaum an, bedrängen ihn, machen sich einen Spaß aus seiner Angst. Zu Hause berichtet er nichts von dem Vorfall, er schämt sich und ängstigt sich zugleich. Die Eltern haben andere Sorgen.

Wenige Tage später ereignet sich das gleiche Szenerio, Moussa hofft, sie würden nicht mehr in Erscheinung treten, aber er irrt sich.

 

Sie bedrängen ihn erneut, in diesem Fall geht es nicht glimpflich aus. Sie nehmen ihn mit, zwingen ihn in ein Auto, er sieht nichts mehr. An einem ihm unbekannten Ort halten sie an, er erkennt eine verfallene Lagerhalle. Sie setzen ihn auf einen Stuhl, binden ihn fest. Jetzt erkennt er die Gruppe besser, es sind Männer, zwischen zehn und 15 an der Zahl. Einige schätzt er auf 20 bis 25 Jahre, einige sind älter, manche wohl auch über 40 Jahre alt. Sie fixieren seinen Arm, stauen ihm die Venen und applizieren ihm eine Spritze unbekannten Inhaltes. Die Substanz wirkt rasch, eine Benommenheit bemächtigt sich seiner, er wird schläfrig, verliert aber nicht das Bewusstsein.

Dann schlagen sie ihn, auf Arme, Beine und gegen die Schultern, dann auch ins Gesicht. Immer wieder hört er die Worte:

„Wenn Du nicht mitmachst, vergewaltigen wir Deine jüngere Schwester!“

Er fügt sich. Dann vergewaltigen sie ihn, drohen ihm, vergewaltigen ihn wieder.

Seine Seele bricht, aber sie zerbricht nicht. Moussa bewahrt sich den Überlebenswillen und den innersten Kern seines Seins.

Zu einem späteren Zeitpunkt, kurz vor seiner Flucht, wird Moussa dann erkennen, dass die Tätergruppe ihm wohl wiederholt Schmerzmittel, Beruhigungsmittel und auch Drogen verabreicht haben müsse. Er hört auch von anderen Betroffenen, dass diese in vergleichbaren Fällen Opium, Cannabis und Heroin appliziert bekommen hätten, auch möglicherweise andere Drogen. Durch die zahlreichen Applikationen sei höchstwahrscheinlich die Basis für die spätere Drogenabhängigkeit entstanden, so argumentiert er gegenüber dem Gutachter später in der Justizvollzugsanstalt. Diese Zusammenhänge benennt er erst in Deutschland, als es schon zu spät ist.

Das grausame Prozedere wiederholt sich. Mehrfach, über Wochen, wird er abgeholt, festgebunden, gefoltert, freigelassen, unter stets aufrechterhaltenen Drohungen. Er kann nicht reden, kann sich niemandem in der Familie mitteilen, Moussa verstummt.

Schließlich fliegt die Gruppe auf, Freunde der Eltern kommen hinter die Strukturen der von der Gruppierung „Islamischer Staat“ (IS) angeheuerten Männer. Vorerst ist das Grauen zu Ende. Aber nur auf eine Weise.

Nunmehr wird Moussa von Vorwürfen überhäuft. Der Vater schimpft, droht ihm, wertet ihn ab, demütigt ihn. Der Vater lässt ihn unaufhörlich wissen, dass Moussa ihn entehrt habe. Er habe nun einen missbrauchten Sohn, wie er das habe zulassen können, wieso er sich nicht an ihn gewandt habe? Es sei eine Schande für die Familie.

Der Vater zeigt den Sachverhalt an, bei der zuständigen Polizeibehörde, die auch die politische Richtung des Landes unterstützt. Man merkt sich die Familie, ihren Namen, ihre Struktur.

Dann ändern sich die politischen Verhältnisse. Der IS nähert sich Raqua, es kommt zur feindlichen Übernahme. Nachdem sich auch die örtlichen und kommunalen Verhältnisse den neuen Machthabern angepasst haben, läuft auch die Polizeibehörde über. Jetzt herrschen andere Strukturen. Die Polizeibeamten, welche damals die Anzeige der Familie aufnahmen, erinnern sich an den Vorfall.

Nur ein Jahr nach dem Ende der ersten Tortur setzt sich der Alptraum in Moussas Leben fort. Die Männer des IS suchen regelmäßig die Dörfer auf. Man kommt auch in sein Elternhaus, führt Gespräche, sieht sich um. Man wird auf ihn aufmerksam.

Eines Morgens erscheinen die Männer des IS erneut, diesmal vermummt. Unter Androhung von Waffengewalt holen sie ihn aus dem Haus und nehmen ihn mit. Den Ort, an den er jetzt gebracht wird, kennt er bereits. Diesmal vergewaltigen sie ihn nicht, sie agieren jetzt über andere Wege, die sind weitaus folgenreicher. Sie werfen ihm schließlich vor, er sei ein Ungläubiger, habe den Propheten beleidigt. Dann werfen sie ihm eine Kapuze über und verschleppen ihn in das jüngst eröffnete IS-Gefängnis der Region.

Weitere 80 Tage verbringt Moussa in einer Zelle mit neun anderen Gefangenen. Nunmehr erscheinen die Peiniger täglich und schlagen ihn und die anderen Häftlinge mit Gummischläuchen, auch wenn Moussa stets beteuert, die ihm vorgeworfenen Verfehlungen nie begangen zu haben.

Der Höhepunkt der Tortur wird noch folgen. Mehrere Männer holen ihn aus der Zelle, stellen sich vor ihm auf, nachdem sie ihm eine Augenbinde umgebunden haben. Das Geräusch einer durchladenden Feuerwaffe wird Moussa ab diesem Zeitpunkt nie mehr vergessen. Einer der Männer hantiert mehrfach mit der Waffe, hält sie ihm an den Kopf und drückt mehrfach ab. Dabei habe er immer wieder sagen müssen, dass er den Propheten nicht beleidigt habe. Später erinnert sich Moussa nicht mehr an die Anzahl der einzelnen Durchgänge.

Und dann ist die Tortur plötzlich zu Ende, sie lassen ihn frei und jagen ihn davon. Da befindet sich Syrien bereits mitten im Bürgerkrieg.

Zurückgekehrt in das häusliche Milieu, folgt nun der dritte Teil der seelischen Folter. Die Bombenangriffe haben auch Raqua erreicht. Jahre später berichtet Moussa dem Gutachter, die Bomber der Allianz des Präsidenten von Syrien hätten zu diesem Zeitpunkt tagsüber und auch über Nacht Angriffe geflogen, er habe schätzungsweise vor seiner Flucht über 70 Angriffe erlebt, aber eher und wahrscheinlicher seien es doch mindestens 100 Angriffe gewesen, er habe nicht mehr zählen können.

Der Kontakt mit dem Tod wird alltäglich. Fliegerangriffe auf der einen Seite, Selbstjustiz durch den IS auf der anderen Seite. Öffentliche Enthauptungen gehören jetzt zum Alltag. Auch Moussa wird gezwungen, den Szenarien beizuwohnen.

An seinem 17. Geburtstag kann er dann vorübergehend durchatmen. Ein Onkel der Familie bietet ihm Obhut und eine Arbeitsstelle auf seinem Hof an. Er könne dort eine Ausbildung zum Traktormechaniker beginnen. Der Onkel erkennt die schwierige Situation und die bedrängte Stellung des Jungen in der Familie. Er holt ihn aus diesen Strukturen heraus und ermöglicht ihm einen Neuanfang. Jedoch nur kurzzeitig, denn die Milizen vor Ort erreichen nach wenigen Wochen auch dieses Gehöft. Wieder hört er die Drohungen, sieht die Männer, fängt an zu zittern, schreit und verbirgt sich im Haus, später außerhalb des Hofes.

Nachdem die Schikanen der Milizen nicht enden, trifft die gesamte Familie nun den Entschluss, Syrien zu verlassen.

Man entwirft zeitnah Pläne, Argumente werden abgewogen, überhastet werden Entscheidungen getroffen, die Flucht steht bevor.

In der Nacht überqueren sie die syrische Grenze, alles verläuft ohne Zwischenfälle. In den Morgenstunden kommen sie in der Türkei an. Sie sind nicht die einzigen, die dort ihre Anliegen vertreten wollen. Nach weiteren drei Wochen auf türkischem Gebiet steht fest, dass sie dort ihr Glück nicht finden werden. Seilschaften, die sich mittlerweile bildeten, offenbaren, dass man mit einem Führer, so auch die andere Bezeichnung für Schleuser, ein Boot bekommen könne, griechische Inseln seien erreichbar. Auch diese Überfahrt gelingt, sogleich sondiert man weitere Möglichkeiten, gelangt auf das Festland, mit dem Landbus nach Athen.

In Athen treffen die Familienmitglieder die Entscheidung, soweit eben möglich, nach Westeuropa weiterreisen zu wollen. Als sie – wiederum in den Nachtstunden – die weitere Route antreten, ahnen sie nur unscharf, dass ihnen weitere Unannehmlichkeiten drohen. Diese folgen sodann in Bulgarien. Dort werden sie getrennt, die Beamten kontrollieren sie, sperren sie über Nacht in verschiedene Zellen. Wiederum wird Moussa von den alten Bildern eingeholt. Nicht genug dessen, auch die Folter tritt wieder in Moussas Leben.

Des Nachts betreten vermummte Beamte die Zelle, schlagen die Insassen mit Stöcken, peinigen sie, schreien sie an und formulieren Drohungen. Auch Moussa wird geschlagen. Sogleich zieht er sich in sich selbst zurück, geht an einen anderen, inneren Ort. Während der Schläge schützt er sich, auch vor sich selbst. Die Seele bekommt neue Risse, Moussa kapselt sich ab, geht in die innere Migration, die auf ihn niedergehenden Schläge fühlt er nur mehr äußerlich, das Innerste darf nicht zu Schaden kommen, irgendwann wird man aufhören, ihn zu schlagen.

Bevor sie ihn ziehen lassen, nehmen sie noch seine Fingerabdrücke. Er weiß, was das bedeutet.

Dennoch, die Route muss beendet werden. Die Familie findet er nicht mehr, Erkundigungen bleiben zwecklos, man jagt ihn mit anderen Gleichgesinnten davon, der Weg ist vorgezeichnet. Er muss ihn weitergehen.

Anfang des Jahres 2019 gelangt Moussa, nach einer endlos scheinenden Odyssee, über Bulgarien, Kroatien und Österreich nach Deutschland. Geschlagen wurde er nicht mehr, aber Einsamkeit, Erschöpfung und Entbehrungen, Zweckgemeinschaften mit anderen Weggefährten prägen ihn auf lange Zeit.

Die Aufnahmeeinrichtung verschluckt ihn, er ist jetzt registrierter Flüchtling. Neue Kontakte entstehen, Behördengänge und Ansprechpersonen wechseln einander ab. Er erfährt, dass Betreuungspersonen zur Verfügung stehen, bleibt empfänglich für neue Strukturen. Eine anhaltende Betäubung legt sich über ihn, dumpf und teilnahmslos verbringt er die ersten Wochen. Die Zukunft, so wie erträumt, in zahlreichen Facetten ausgemalt, sie bleibt unsichtbar. Hoffnung wird zum Fremdwort.

Moussa gliedert sich ein, läuft mit, wartet ab, versteigt sich in seltsam anmutenden Tagträumen.

Die bleierne Last der Vergangenheit will nicht weichen, die Ungewissheit lauert dunkel im Hintergrund. Lebensfreude will nicht mehr aufkommen.

Die Betreuer werden auf ihn aufmerksam, er lässt sich kaum auflockern. Man empfiehlt ihm eine Vorstellung beim Arzt, der Psychiater komme wöchentlich in die Einrichtung. Moussa zweifelt, Ängste beschleichen ihn, die Sinnhaftigkeit erschließt sich ihm nicht.

Dann sucht der dennoch die Sprechstunde auf, berichtet seine Geschichte, blickt anhaltend zu Boden, nur unscharf registriert er die Realität. Ob er medikamentöse Unterstützung benötige? Er weiß es nicht, stimmt den Empfehlungen des Arztes zu, verspricht wiederzukommen und zieht sich in sich zurück.

Am Abend lärmen die Zimmernachbarn, Moussa findet keinen Schlaf. Er gesellt sich zu den Migranten des gleichen Hausflurs. Marihuana kreist in der Runde, dann ist es an ihm zuzustimmen oder abzulehnen. Er nimmt an, raucht mit, und plötzlich kommt sie doch noch über ihn, die große Ruhe, nach der er sich seit Wochen, eigentlich seit Monaten, sehnt. Er raucht mehrere Stunden und fällt dann in einen tiefen Schlaf.

Am nächsten Abend die gleiche Prozedur, die gleiche Runde, man trifft sich. Migranten aus den Maghreb-Staaten, von der Elfenbeinküste, aus der Ukraine, Syrien, Irak und Bosnien. Grenzen spielen plötzlich keine Rolle mehr. Die Droge verbindet, beruhigt, gibt Hoffnung – vorerst.

Nach weiteren Monaten hat sich die äußere Situation für Moussa kaum verändert. Moussas Innenleben bleibt kontrollierbar, die Seele revoltiert nicht mehr, der Cannabiskonsum gehört zu den Höhepunkten des Tages. Dass er nunmehr täglich konsumiert, seit jenem Abend auf gleichem Flur nicht mehr ohne die Drogen einschlafen kann, registriert er nicht. Termine nimmt er nicht mehr wahr, er lässt sich treiben.

Die Mitkonsumenten nehmen ihn mit in das angrenzende Stadtgebiet. Der Alkoholkonsum kommt schleichend hinzu. Man unternimmt nächtliche Streifzüge, organisiert die Sicherstellung der Konsummengen. Noch läuft alles in kontrollierten Bahnen.

Die Ruhe erweist sich als trügerisch, die zunehmende psychische Abhängigkeit von den Substanzen fordert ihren Tribut. Längst geht es nicht mehr allein um Cannabis. Auch Stimulantien wie Amphetamin und auch Kokain werden interessant. Längst gibt es kein Zurück mehr.

Am darauffolgenden Wochenende ist es soweit – mit der ganzen Wucht ihrer Möglichkeiten schlägt die Realität erneut zu. Auf dem Weg durch die Innenstadt, begleitet von den Gruppenmitgliedern, kommt es zum Konflikt. Moussa hat vorher reichlich konsumiert, läuft eigentlich nur noch mit, will zurück in die Unterkunft. Wer da wen letztlich angreift, provoziert und herausfordert, bleibt ihm unklar. Erste Schläge werden ausgeteilt, er wehrt sich, gegen wen, registriert er nicht mehr. Dann geht alles sehr schnell, der Gruppenkonflikt eskaliert. Plötzlich steht die Polizei auf dem Platz, die Gruppen werden getrennt, es gibt Festnahmen. Moussa ist auch dabei. Er befindet sich noch im Rauscherleben, kaum orientiert, wehrt sich noch gegen die Polizisten, lässt sich dann abführen, wird fixiert. Die Nacht verbringt er in der Ausnüchterungszelle. Dann führt man ihm dem Haftrichter vor.

Dieses Szenario kommt ihm bekannt vor, die Vergangenheit hat ihn erneut eingeholt. Der Haftrichter spricht von schwerer Körperverletzung. Er kennt sich nicht aus, weiß nichts zu berichten, lässt alles über sich ergehen, will einen Rechtsanwalt kontaktieren.

 

Die Untersuchungshaft scheint, im Vergleich mit den bisher erlittenen Haftbedingungen, den Entführungen, der Folter in Syrien und den Schlägen in Bulgarien, noch einigermaßen erträglich. Man arrangiert sich. Moussa entwickelt psychische Entzugserscheinungen. Ohne Droge kann er nicht mehr schlafen. Er weiß, was in solchen Situationen zu tun ist. Er zieht sich zurück, geht wiederum in die innere Migration, diesmal gänzlich. Die Mitgefangenen sorgen sich, melden die Sachlage, Moussa wird psychiatrisch untersucht. Er findet sich schließlich in der psychiatrischen Abteilung der Justizvollzugsanstalt wieder. Wiederum erzählt er seine Geschichte, wird medikamentös behandelt. Der Psychiater, später auch der Gutachter, sagen etwas von Trauma oder Traumatisierung. Ob er Therapie machen wolle? Er kann es sich vorstellen, äußert sich halbherzig. Er fügt sich. Nach drei Wochen kehrt er in seine Zelle zurück.

Vier Monate später findet die Hauptverhandlung seines Verfahrens vor dem Amtsgericht statt. Der Verteidiger hat ihn zuvor aufgesucht, erklärt, wie es laufen wird, was wohl an Strafe zu erwarten ist. Moussa ist wegen gefährlicher Körperverletzung angeklagt. Er erinnert sich nicht, kann den ihm angelasteten Tatbeitrag nicht realisieren. Da ist er schon wieder in seiner inneren seelischen Migration, dem Rückzug, der alles aushalten lässt. Der Prozess läuft an ihm vorbei. Dann ist es soweit. Er wird zu zwei Jahren Haft ohne Bewährung verurteilt.

Der Leidensweg setzt sich fort. Dann ereilt ihn die Nachricht, dass die Asylbehörde ausländerrechtliche Maßnahmen erwogen hat. Moussa reagiert fragend. Der Anwalt erklärt, dass er nun als Straftäter geführt werde. Das könne Auswirkungen auf seinen Aufenthaltsstatus haben.

Das Ergebnis einer langen Odyssee, geprägt von Bedrohungen, Entführung, Folter, Bombardierung, Traumatisierung, Flucht, Entwurzelung, Kontaktabbrüchen, fremden Kulturen, Drogenkonsum, Traumafolgestörungen, Bandentum und Straffälligkeit …

Moussa, ein Folteropfer aus Syrien …, Moussa ist jetzt Straftäter …!

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