Stumme Schreie

Текст
Автор:
0
Отзывы
Читать фрагмент
Отметить прочитанной
Как читать книгу после покупки
Шрифт:Меньше АаБольше Аа

Im Sinkflug (Alik & Nure)


Ukraine

II.Kasuistik 1: Im Sinkflug (Alik & Nure) – Ukraine

„Das gebeugte Knie und die hingehaltenen Hände sind die beiden Urgebärden des freien Menschen!“

Alfred Delp 6

Über Kiew erhob sich ein strahlender, eisiger Februarmorgen. Die Maschine aus München befand sich im Sinkflug, der Himmel bescherte keine Wolke, die Sicht auf die Stadt blieb tadellos.

Alik saß an einem Fenster einer Maschine aus Deutschland und sah voller Verzweiflung auf die näher rückenden Gebäude, neben ihm seine Ehefrau Nure, auf der anderen Seite des Ganges die zwei Kinder. In wenigen Minuten wird die Maschine auf der Landebahn aufsetzen, die Familie wird nach neun Jahren wieder ukrainischen Boden unter ihren Füßen verspüren. In Kiew wird sie niemand erwarten, niemand abholen und niemand wird die vierköpfige Familie in seine Arme schließen. Alik blickt in diesen für ihn und seine Ehefrau fürchterlichen Augenblicken der völligen Ungewissheit in eine für ihn dunkle Zukunft. Die Familie befindet sich nicht freiwillig in dieser Maschine. Es handelt sich um einen Abschiebeflug aus Deutschland, in diesem Winter.

Hinter Alik und seiner Familie liegen neun Jahre Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland, Jahre der Hoffnung, der Ablehnung, des Kampfes, der Verzweiflung, der Auflehnung, wiederum der Hoffnung und schließlich der Resignation.

Bis zur endgültigen Landung und dem Ausstieg bleiben ihm noch wenige Minuten eines mehrstündigen Zwischenlebens, eines Lebens zwischen Deutschland und der Ukraine, die letztlich sämtliche Hoffnungen, Träume und Pläne zunichte machen werden …

Die Ehe zwischen Alik und Nure entspringt einer jahrelangen Jugendliebe. Beide entstammen sie mit ihren Herkunftsfamilien dem Volk der Kurden und gehören der Glaubensgemeinschaft der Jesiden an. Diese Glaubensgemeinschaft kennt verschiedene Kasten, Alik gehört der Kaste der Muriden an, Nure jedoch einer anderen Kaste. Eine Heirat zwischen verschiedenen Kasten ist nach den Vorschriften der Jesiden nicht zulässig. Die Liebe war stärker, geheiratet haben sie im Jahr 2011 dennoch. Er ist zu diesem Zeitpunkt 19, Nure 18 Jahre alt.

Nachdem Alik den Wehrdienst aus gesundheitlichen Gründen nicht ableisten musste, fand er – noch ohne abgeschlossene Berufsausbildung – Arbeit als Schreiner, in der Nähe von Slaviansk, denn die Probleme in ihren Heimatdörfern waren im Grunde vorgezeichnet. Konkrete Übergriffe gab es nicht, aber Drohungen wegen der unerlaubten Eheschließung.

Alik wird später – im Jahr 2014 erst – dem ihn untersuchenden Psychiater berichten, dass er als junger Ehemann die Angst kennengelernt habe. Seit der Eheschließung habe sich die beständige Angst wie eine Geschwulst in seinen Körper gefressen. Die junge Ehe ist schon bedroht, bevor sie überhaupt erst begonnen hat. Das Heimatdorf der Ehefrau haben sie zwischenzeitlich verlassen. Zurück lässt Alik seine Eltern, einen noch minderjährigen Bruder und mehrere Verwandte mütterlicherseits.

Nure erklärt später in der ärztlichen Sprechstunde, dass mögliche Übergriffe ihrer Familie stets im Raum gestanden hätten. Es sei durchaus nichts Ungewöhnliches, dass Frauen in einer aus religiösen Gründen unerlaubt geschlossenen Ehe von Mitgliedern ihrer eigenen Familie oder aber von Mitgliedern der jesidischen Gemeinde getötet würden.

Die erste Zeit des Zusammenlebens funktioniert leidlich. Auch in der Nähe von Slaviansk ist die Bedrohung noch greifbar. Dennoch schauen beide in die Zukunft, gründen eine Familie. 2013 wird der älteste Sohn Timur geboren. Bis zum Frühjahr 2014 kann sich die junge Familie über Wasser halten. Weitere Kinder sind geplant. Zu diesem Zeitpunkt nimmt der einigermaßen stabile Verlauf des Lebens ein jähes Ende.

In der Ostukraine herrscht seit dem Frühjahr 2014 in den Oblasten Donezk und Luhansk ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt, in dem schwer bewaffnete prorussiche Separatisten gegen die offiziellen ukrainischen Sicherheitskräfte kämpfen. Die Separatisten haben sich in Teilen der beiden Oblaste in den nicht anerkannten „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk konstituiert7.

Nach den Angaben der United Nations Human Rights Monitoring Mission in Ukraine (HRMMU) gab es seit Beginn des Konfliktes von Mitte April 2014 bis zum 15.11.2015 im Konfliktgebiet der Ostukraine mindestens 29.830 zivile und militärische Opfer (9098 Tote und 20.732 Verletzte).

Von diesen Entwicklungen ahnen Alik und Nure zu diesem Zeitpunkt noch wenig, wohl aber von der ihnen im Frühjahr 2014 zuteil werdenden Bedrohung – sie verändert von jetzt auf gleich ihren gesamten Lebensentwurf.

An einem Dienstagmorgen befindet sich Alik in seinem Haus, kurz vor Aufnahme seines Arbeitsweges zur Schreinerei, als er auf der zum Anwesen führenden Straße Schüsse vernimmt, kurz darauf auch Einschläge an der Front des Hauses. Als er, noch eben geistesgegenwärtig, auf die Straße späht, sieht er fünf vermummte und bewaffnete Männer auf die Haustür zukommen. Auf Kommando öffnet er, die Männer geben ihre Identität nicht preis, fordern ihn jedoch auf, mit ihnen zu kommen und sich militärisch zu engagieren. Er verweist auf seine Untauglichkeit, gibt an, keinerlei militärische Grundausbildung erfahren zu haben. Das sei unerheblich, teilt man ihm mit, die Ukraine benötige Männer, die für die neuen Republiken kämpften. Angstbesetzt kann er kaum reden, die Stille wird unaushaltbar. Die Bewaffneten verlassen das Grundstück.

Nure, die zu diesem Zeitpunkt nicht im Hause weilt, berichtet er zunächst nichts von dem Vorfall, will sie von Belastungen und weiteren Ängsten fernhalten. Fortan leidet Alik unter erheblichen Ein- und Durchschlafstörungen, erleidet Zitteranfälle der Arme und Hände, Schweißausbrüche und Angstattacken, fürchtet erneut um sein Leben.

Zwei Tage später wiederholt sich die annähernd gleiche Prozedur, die Vermummten kündigen an, ab jetzt regelmäßig erscheinen zu wollen. Beim zweiten Mal tragen die Männer Uniformen, die er nicht kennt und nicht identifizieren kann. Nunmehr weiht Alik Nure in die Vorgänge ein. Das Paar verbringt Tage und Nächte der Angst, Alik will und kann seine Arbeitsstelle nicht verlieren. Nure ist wieder schwanger.

Das Szenario wird bedrohlicher. Alik teilt den in regelmäßigen Abständen vorsprechenden Soldaten mit, dass er als Jeside nicht kämpfen wird. Daraufhin wird er das erste Mal geschlagen. Weitere Schläge werden folgen. Nachdem die Männer einmal seine Frau unsanft zur Seite stoßen und ihren schwangeren Zustand missachten, dann auch das Kleinkind Timur bedrohen, fällt die folgenschwere Entscheidung.

Da sich die Hoffnung auf ein Ende der Bedrängnis nicht erfüllt, beschließen beide im Mai 2014 ihre Ausreise. Innerhalb der Ukraine wollen sie nicht bleiben. Sie kennen die Berichte ihrer Verwandten, dass Jesiden auch in anderen Teilen der Ukraine benachteiligt würden, von Ausgrenzung und Abwertungen, von Arbeitslosigkeit und Inakzeptanz bedroht.

Noch im Mai 2014 begeben sie sich in die Hauptstadt der Ukraine und finanzieren sich mit dem letzten zurückgelegten Ersparten und einem von der Familie von Alik genährten Geldbetrag den Flug nach Deutschland.

Nach ihrer Ankunft in Deutschland werden sie der Erstaufnahmeeinrichtung zugewiesen. Erstmals leben sie auf engem Raum mit Angehörigen zahlreicher Nationen. Die Räumlichkeiten sind beengend, Konflikte sind vorprogrammiert, alles scheint zu zerfließen, die Hoffnung, das Leben, die Zukunft. Alik verliert die Kontrolle, den Boden unter den Füßen, wird von Angstattacken überrollt. Erste medizinische Hilfe muss in Anspruch genommen werden.

Schließlich werden sie umverteilt, in eine Gemeinschaftsunterkunft mit weiteren 600 Asylsuchenden, es gibt Häuser für Männer, Frauen und Familien. Die Familie stellt einen Asylantrag.

Vorerst am Zielort, erfährt Alik von den Möglichkeiten der ärztlichen Versorgung in der Unterkunft. Er meldet sich zur psychiatrischen Sprechstunde, der Psychiater kommt 14-tägig zu festen Sprechstundenzeiten in die Einrichtung.

Endlich kann er sich öffnen, kann mit dem Arzt vertrauensvoll reden, über seine Ängste, seine Schlafstörungen, seine Zitteranfälle, seine Gewichtsabnahme, seine sich kontinuierlich entwickelnde Depression. Nure begleitet ihn manchmal zu den Sprechstunden, wenn sie das Kind versorgt weiß.

Das wöchentliche Gespräch in der Medizinischen Abteilung wird nun für Alik ein lebensspendender Begleiter. Oft wiederholt sich der gleiche Ablauf. Wird er nach seinem psychischen Befinden befragt, kann er die ersten Minuten stets nur angeben:

„Ich habe solche Angst … bitte, Herr Doktor, ich habe solche Angst … bitte, ich habe solche Angst!“

Die verordneten Psychopharmaka helfen nur bedingt, auch die zusätzliche Bedarfsmedikation stabilisiert nur annähernd. Entscheidend bleiben die Gespräche, Alik spricht über die Zukunftsängste und die Hoffnungslosigkeit, die Perspektivlosigkeit und immer wieder über die alles zersetzende Angst.

Die Verhältnisse in der Unterkunft werden unerträglich, die Familie sieht sich auch ethnischen Konfliktszenarien ausgesetzt. Rangeleien und Beschimpfungen treten auf, Alik gerät an die Grenzen seiner Stabilität.

Auf Empfehlung des behandelnden Psychiaters darf die Familie schließlich im Jahr 2015 – kurz nach der Geburt der Tochter Alicia – die Unterkunft verlassen und im Einverständnis mit der Asylbehörde in eine winzige, vom Helferteam der Gemeinschaftsunterkunft vermittelte Wohnung umziehen. Der erste Schritt in Richtung einer doch noch lebenswerten Zukunft scheint geschafft. Alik wird eine Arbeit als Hilfskraft in einer Schreinerei vermittelt. Die wöchentlichen Gespräche bei dem Psychiater kann er mittlerweile auf 14 Tage entzerren. Dann kommt es zu einer langsamen, jedoch spürbaren Verbesserung des psychischen Zustandes, Angstattacken treten nur noch selten auf. Der behandelnde Psychiater dokumentiert eine deutliche Stabilisierung.

 

Im Jahr 2016 setzt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge diesem hoffnungsgeprägten Bild ein jähes Ende. Mit Bescheid der Asylbehörde wird der Familie die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, die Anträge auf Asylanerkennung werden abgelehnt, auch der subsidiäre Schutzstatus wird nicht zuerkannt. Alik wird aufgefordert, mit seiner Familie die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen.

Die Ohnmacht ist zurückgekehrt, der Kampf beginnt erneut – zunächst in der Seele von Alik. Von Angstattacken und Zitteranfällen gepeinigt, verliert er endgültig den Boden unter den Füßen. Die Ängste steigern sich bis zur Unerträglichkeit. Alik kämpft sich durch Alpträume, in der Nacht ist er davon überzeugt, sogleich von Uniformierten abgeholt zu werden, die Fantasien werden grenzenlos. Er schreit, zittert, weint und bekommt Herzrhythmusstörungen. Der behandelnde Psychiater weist ihn schließlich zur stationären Behandlung in eine psychiatrische Klinik ein. Dort wird 14 Tage behandelt, dann medikamentös eingestellt. Nachdem die Ärzte ihm bescheinigen, nicht suizidal und fremdgefährdend zu sein, wird er entlassen. Alik fühlt sich noch wie betäubt. Er kehrt in die Wohnung zurück.

Mittlerweile hat der von ihm beauftragte Rechtsanwalt Beschwerde gegen den Bescheid der Asylbehörde eingelegt. Der Psychiater erstellt eine gutachterliche Stellungnahme, legt die überdauernde psychische Störung von Alik dar, geht auf die Zusammenhänge seiner Ängste ein, beschreibt den Krankheitsverlauf und spricht sich aus ärztlicher Sicht für ein Abschiebeverbot aus.

Nun folgt eine mehrmonatige Odyssee, geprägt von einem Leben zwischen den Welten, Unsicherheiten, Hoffnungen, enttäuschten Szenarien und wieder erneuten Hoffnungen. Die psychische Stabilität kehrt nicht zurück.

Mehrere Bescheide folgen aufeinander, von Verwaltungsgerichten, vom Verwaltungsgerichtshof, von behördlichen Stellen.

Die Familie gibt nicht auf, der Rechtsanwalt bleibt bemüht, bleibt aktiv. Der behandelnde Psychiater setzt seine ärztlichen Interventionen fort. Die weiteren Monate sind geprägt von schier unaushaltbaren Zuständen der Ungewissheit. Mittlerweile bildet auch Nure eine anhaltende Depression aus, kann zeitweise die Kinder kaum noch versorgen.

Das Jahr 2019 bleibt ein Jahr der stetigen Auseinandersetzungen mit den Asylbehörden, dem Einreichen ärztlicher Atteste und Gutachten, Gerichtsterminen und dem Kampf gegen die Ängste, die alle zu verschlingen drohen. Selbst die Reisefähigkeit wird Alik von ärztlicher Seite abgesprochen.

Im Februar 2020 ereilt die Medizinische Abteilung ein verzweifelter Anruf. Es meldet sich Alik, welcher mitteilt, er sei mit seiner Frau und den Kindern von den Behörden abgeholt worden, aus der Wohnung herausgeholt worden und befinde sich nunmehr auf dem Weg zum Flughafen. Es gebe keine Hoffnung mehr, man werde jetzt abgeschoben, er sende einen Hilferuf, er wolle nicht mehr leben, alles sei sinnlos geworden. Dann legt er auf. Wenig später meldet sich Nure, weint, schreit und berichtet den gleichen Sachverhalt, sie sendet einen Hilferuf. Dann bricht der Kontakt ab …

Ursprünglich hatte die Asylbehörde bereits im Jahr 2016 festgestellt, dass bei Alik, Nure und den beiden Kindern keine Abschiebungsverbote vorlägen. Eine Abschiebung gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG sei dann unzulässig, wenn sich dies aus der Anwendung der Konvention vom 04. November 1950 zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten ergebe. In Betracht komme dabei in erster Linie eine Verletzung des Art. 3 EMRK8 und damit die Prüfung, ob im Fall einer Abschiebung der Betroffene tatsächlich Gefahr liefe, einer dieser absoluten Schutznorm widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden.

Dem Antragsteller Alik drohe in der Ukraine keine durch einen staatlichen oder nichtstaatlichen Akteur verursachte Folter oder relevante unmenschliche oder erniedrigende Behandlung. Die Abschiebung – trotz schlechter humanitärer Verhältnisse – könne demnach nur in sehr außergewöhnlichen Einzelfällen als unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu bewerten sein. Die gegenwärtigen humanitären Bedingungen in der Ukraine führten jedoch nicht zu der Annahme, dass bei Abschiebung der Antragsteller eine Verletzung des Art. 3 EMRK8 vorliege. Die hierfür vom EGMR8 geforderten hohen Anforderungen an den Gefahrenmaßstab seien nicht erfüllt. Auch unter Berücksichtigung der individuellen Umstände der Antragsteller sei die Wahrscheinlichkeit einer Verletzung des Art. 3 EMRK durch die Abschiebung nicht beachtlich. Es drohe den Antragstellern auch keine individuelle Gefahr für Leib oder Leben, die zur Feststellung eines Abschiebeverbotes nach § 60 Abs. 7 AufenthG führe.

Bei strahlendem Sonnenschein im kalten Februar 2020 berührt die Maschine aus Deutschland gerade die Landebahn des Flughafens von Kiew …

III.Plattform – Seelentröstung

„Der Weg entsteht unter deinen Füßen …

Luise Reddemann 9

Ich schreibe diese Zeilen zwischen März 2020 und Januar 2021, während der durch die COVID-19-Pandemie ausgelösten Krise, in Deutschland, in Europa, weltweit.

Derzeit gilt unsere beständige Sorge den Möglichkeiten zur Eindämmung der schwankenden Infektionskurven. Wir suchen fieberhaft und mit Nachdruck nach einem Impfstoff. In unserem Land stand das öffentliche Leben wiederholt weitgehend still, wir wissen nicht, wie lange uns diese Situation der Ungewissheit in ihren Bann schlägt. Wir leben auch nach epidemiologischen, hygienischen und weiteren vorgegebenen Grundregeln, um das Virus nicht selbst zu verbreiten und um uns selbst und Dritte zu schützen. Unsere Bewunderung, unsere Anerkennung und unsere Beifallskundgebungen gelten in diesen Tagen den bis an die Grenzen beanspruchten und darüber hinaus belasteten Angehörigen der medizinischen Berufe in Ambulanzen, Krankenhäusern und vor allem auf den Intensivstationen. Für uns in Deutschland und Europa lebende Bürgerinnen und Bürger scheint es nahezu selbstverständlich, in Krisenzeiten auf ein gut ausgerüstetes und aufgestelltes Gesundheitssystem zurückgreifen zu können, welches in der Lage ist, rasch, akut und zielführend einzugreifen, zu therapieren und Menschenleben zu erhalten.

Ich selbst bin Arzt, genauer Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Seit 25 Jahren widme ich mich hauptsächlich psychisch belasteten und psychisch schwer erkrankten Menschen, die im Zusammenhang mit ihrer psychischen Störung erst verhaltensauffällig und dann später straffällig werden. Ich vertrete ihre psychiatrische Ebene bei Gericht, beurteile ihre Schuldfähigkeit und befasse mich in diesem Zusammenhang mit prognostischen Gesichtspunkten und den Fragen, wie man schwere, überdauernde psychische Störungen so behandeln kann, dass bei meinen Patienten auch die daraus resultierende Gefährlichkeit für die Allgemeinheit abnimmt und sie schließlich wieder in die Gesellschaft integriert werden können. Dabei nimmt die Reintegration für mich einen sehr hohen Stellenwert ein.

Diese Tätigkeit füllte mein ärztliches Handeln und mein ärztliches Berufsleben bis zum Jahr 2014 überwiegend vollständig aus, bis eine weltweite andere Krise – die schon lange vor dem Auftreten der COVID-19-Pandemie in unsere gesellschaftlichen Strukturen buchstäblich eingewandert war – uns seit spätestens diesem Zeitpunkt im Rahmen politischer Konfliktherde und ihren eskalierenden desaströsen Auswirkungen wiederholt und anhaltend beschäftigt und seit dem Jahr 2011 auch in Europa zunehmend in den gesellschaftlichen Fokus geriet: DIE FLÜCHTLINGSKRISE.

In Anbetracht der uns in Europa seit dem Beginn der 10er-Jahre unseres Jahrtausends beschäftigenden Fragen und Probleme, die ein zunehmend dichter werdender Flüchtlingsstrom aufwarf, fasste ich im November des Jahres 2014 einen ärztlichen Entschluss:

Ich beschloss, über meine Praxistätigkeit hinaus wöchentlich – auf ehrenamtlicher Basis – in einer örtlichen Gemeinschaftsunterkunft für Migranten eine psychiatrische Sprechstunde anzubieten, um die akutpsychiatrische Versorgung von geflüchteten und entwurzelten Patienten sicherstellen zu können. Was im November 2014 als gewöhnliche psychiatrische Sprechstunde begann, weitete sich sehr rasch zu einer Sozialpsychiatrischen Migrationsambulanz aus, welche ich mittlerweile, gemeinsam mit Koordinatoren, Fachkrankenschwestern des Missionärztlichen Instituts und weiteren ehrenamtlich tätigen ÄrztInnen und Helfern organisiere und umsetze.

Die Sehnsucht vieler in unser Land geflüchteter Menschen nach psychotherapeutischer und psychiatrischer Begleitung sowie nach Zuwendung und haltgebenden Strukturen ist gegenwärtig gewaltig. In den zurückliegenden sechs Jahren behandelte und betreute unser psychiatrisches Team über 500 Migranten aus über 30 Ländern. Die meisten Patienten kamen aus Armenien, Afghanistan, Albanien, Algerien, Bosnien-Herzegowina, China, Eritrea, Georgien, Irak, Iran, Kosovo, Marokko, Mazedonien, Montenegro, Nigeria, Pakistan, Russische Föderation, Serbien, Somalia, Syrien, Tunesien sowie aus der Türkei.

Häufig sind unsere Patienten traumatisierte Kriegs- und Folteropfer, aber auch Geflüchtete aus unerträglichen humanen, hygienischen und existenziellen Verhältnissen ihrer Herkunftsländer.

Entwurzelung, Gewalteinwirkung, Verlust der nächsten Angehörigen, Vertreibung, Versklavung, Folter und Hunger belasten die menschliche Seele schwer. Viele Patienten sind anhaltend depressiv, andere vergraben sich in ihrer Angst, wiederum andere sind auf Dauer psychisch erheblich traumatisiert oder leiden unter chronischen psychosomatischen Beschwerden.

Neben den chronischen depressiven und Angststörungen sehen wir im Behandlungsteam vor allem immer wieder die nachfolgend beschriebenen drei psychischen Hauptstörungsbilder bei geflüchteten und traumatisierten Menschen:

Die akute Belastungsreaktion10 beschreibt eine vorübergehende Störung, die sich bei einem psychisch nicht manifest gestörten Menschen als Reaktion auf eine außergewöhnliche physische oder psychische Belastung entwickelt und die im Allgemeinen innerhalb von Stunden oder Tagen abklingt. Die zur Verfügung stehenden Bewältigungsmechanismen (Copingstrategien) spielen bei dem Auftreten und dem Schweregrad des Störungsbildes eine große Rolle. Die Symptomatik zeigt typischerweise ein gemischtes und wechselndes Bild, beginnend mit einer Art von „Betäubung“, mit einer gewissen Bewusstseinseinengung und eingeschränkten Aufmerksamkeit, einer Unfähigkeit, Reize zu verarbeiten und mit Desorientiertheit. Diesem Zustand folgt häufig ein Sichzurückziehen oder aber ein Unruhezustand mit Überaktivität und Fluchtreaktion. Häufige Symptome sind panische Angst, Schwitzen und Erröten.

Die Posttraumatische Belastungsstörung10 entsteht als eine verzögerte oder protrahierte Reaktion auf ein belastendes Ereignis mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde. Typische Merkmale sind das wiederholte Erleben des Traumas in sich aufdrängenden Erinnerungen, Albträume vor dem Hintergrund eines andauernden Gefühls von Betäubtsein und emotionaler Stumpfheit, Gleichgültigkeit, Teilnahmslosigkeit, Freudlosigkeit sowie Vermeidung von Aktivitäten und Situationen, die Erinnerungen an das Trauma wachrufen können.

Bei den Anpassungsstörungen10 handelt es sich um Zustände von subjektiver Bedrängnis und emotionaler Beeinträchtigung, die im Allgemeinen soziale Funktionen und Leistungen behindern und während des Anpassungsprozesses nach einer entscheidenden Lebensveränderung oder nach belastenden Lebensereignissen (Emigration, Flucht, Trennungserlebnisse, Verlusterlebnisse) auftreten. Die Symptome sind sehr unterschiedlich und umfassen depressive Stimmung, Angst, Sorge und das Gefühl, mit den alltäglichen Gegebenheiten nicht zurechtzukommen. Störungen des Sozialverhaltens können insbesondere bei Jugendlichen ein zusätzliches Symptom sein.

 

Was uns mit steter Regelmäßigkeit tief beeindruckt, sind der Durchhaltewillen und die Hoffnung der hilfesuchenden Migranten – trotz aller zuvor entwürdigender, unmenschlicher, entwurzelnder und traumatisierender Erlebnisse und Schicksale. Für die meisten Patienten ist Aufgeben keine Alternative. Sehr oft hören wir: „Gegen echte Trauer und Verzweiflung hilft nur Durchhalten und Weitermachen!“

Zu berücksichtigen bleibt dabei auch der Umstand, dass immer mehr Migranten mit abgelehnten Asylanträgen zu kämpfen haben, oft trotz einer nachgewiesenen und ausführlich gutachterlich dokumentierten schweren psychischen Erkrankung.

Was macht nun die Resilienz dieser Menschen aus? Hoffnung!

Hoffnung ist die Quelle für jedes weitere Durchhaltevermögen, im Sinne des Durchtragens sämtlicher Aspekte, an die man glaubt, für die man eingetreten ist, wofür man letztlich verfolgt wurde, sei es der eigene persönliche Glaube, eine persönliche Überzeugung, oder aber der innere und äußere Kampf für eine humanere Gesellschaft.

Das therapeutische Geheimnis liegt letztlich auch darin, den Patienten zu vermitteln, sich von den negativen Gefühlen und Symptomen nicht auf Dauer beherrschen zu lassen. Die Erinnerungen an die Traumata bleiben oft jahrelang bestehen, nicht wenige fragen sich immer wieder „Warum ich?“, jedoch lassen sich Demütigung, Angst, Entrechtung und ohnmächtige Wut und Zorn mit therapeutischer Hilfe überwinden. Entscheidend ist auch die Sicherung einer empathischen Beziehungsstruktur: Wer die Freude vergeblich sucht, in der Depression oder in der Angst, zieht sich dauerhaft zurück, wer über Beziehungen verfügt, findet auch wieder Quellen der Freude und Hoffnung, oft sehr langsam und kleinschrittig, aber kontinuierlich.

Viele, die selbst erheblich seelisch verletzt sind, verletzen wiederum andere, auch die eigene Familie, weil sie sich in ihrer Entwurzelung niemandem und nirgendwo mehr zugehörig fühlen können. Hier gilt es, in der Aufbauarbeit nicht nachzulassen, immer wieder begleiten, verstehen, bestärken, Quellen der Freude zu schaffen.

Entscheidend für das Gelingen der therapeutischen Begleitung, die in vielen Fällen jahrelang andauert, bleibt jedoch die Hoffnung der Betroffenen selbst. Einen derartigen Willen zum Durchhalten, zum Neuanfang und zur Neugründung einer Existenz wie bei unseren Geflüchteten habe ich in den zurückliegenden 25 Jahren meiner ärztlich-psychiatrischen Tätigkeit bei keiner anderen Patientengruppe gefunden.

Mein psychiatrisches Team sowie die Mitarbeiter der Sektion Mirgrantenmedizin und ich verneigen uns mit Hochachtung sehr tief vor dem (Über-)Lebensmut unserer Patienten, die uns eine tägliche Lebens- und Glaubensschule bleiben werden.

Bevor es jedoch soweit ist, bevor es soweit sein kann und darf, dass Hoffnung und Resilienz die Oberhand in einem oft jahrelangen Kampf gewinnen, gehen viele Betroffene durch das Tal der Retraumatisierung, durch Situationen, die den traumatisierenden Ursprung wiederbeleben, aktivieren und den oder die Betroffene(n) zurückversetzen. Die Bilder des Traumas werden häufig erneut lebendig, sodann eben nur in anderen Umgebungen, beispielsweise auf der Fluchtroute, in der Gemeinschaftsunterkunft, auf der Asylbehörde oder am Arbeitsplatz.

Aktivierung der Ressourcen und der Hoffnung auf ein Weiterleben setzt immer voraus, dass Bezugspersonen gefunden wurden, Vertrauen aufgebaut werden konnte, fachspezifische Hilfe angeboten und in Anspruch genommen werden konnte. Der Gipfelbesteigung geht die Durchschreitung des Tals der Tränen voraus.

Der Weg entsteht unter ihren Füßen …!

Купите 3 книги одновременно и выберите четвёртую в подарок!

Чтобы воспользоваться акцией, добавьте нужные книги в корзину. Сделать это можно на странице каждой книги, либо в общем списке:

  1. Нажмите на многоточие
    рядом с книгой
  2. Выберите пункт
    «Добавить в корзину»