Auferstehung

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Elftes Kapitel.



Nachdem die Verlesung der Anklageschrift beendet war, beriet sich der Präsident mit den Mitgliedern und wandte sich dann an Kartinkin mit einem Ausdruck, der deutlich sagte, daß man jetzt endlich alles und aufs genaueste erfahren würde.



»Bauer Simon Kartinkin«, begann er sich nach links vorbeugend.



Simon Kartinkin erhob sich. Er hielt die Hände an der Hosennaht und streckte sich mit dem ganzen Oberkörper vor, während seine Wangen nicht aufhörten, sich lautlos zu bewegen.



»Sie sind angeklagt, am 17. Januar 188 ., gemeinsam mit Jewfimia Botschkowa und Jekaterina Maslowa, aus dem Koffer des Kaufmanns Smeljkow das demselben gehörende Geld entwendet zu haben, dann Arsenik gebracht und Jekaterina Maslowa überredet zu haben, das Gift im Weine dem Kaufmann zu geben, wodurch der Tod des letzteren erfolgte. Bekennen Sie sich schuldig?« fragte der Präsident und beugte sich nach rechts vor.



»Das ist ja gar nicht möglich, denn unser Geschäft ist, die Gäste zu bedienen . . . «



»Das können Sie später sagen. Bekennen Sie sich schuldig?



»Zu Befehl, nein. Ich habe nur . . . «



»Das können Sie später sagen. Bekennen Sie sich schuldig?« wiederholte ruhig aber fest der Präsident.



»Das kann ich nicht thun, denn . . . «



Wieder sprang der Gerichtskommissar zu Simon Kartinkin heran und hieß ihn mit dumpfem Flüstern aufhören.



Der Präsident stützte den Ellbogen der Hand, in welcher er das Papier hielt, auf eine andere Stelle mit dem Ausdruck, als wäre diese Sache nun abgethan, und wandte sich an Jewfimia Botschkowa.



»Jewfimia Botschkowa, Sie sind angeklagt, am 17. Januar 188 . im Hotel »Mauritanien«, gemeinschaftlich mit Simon Kartinkin und Jekaterina Maslowa, dem Kaufmann Smeljkow aus seinem Koffer Geld und einen Ring entwendet zu haben, und nachdem Sie das Geraubte mit den andern geteilt hatten, dem Kaufmann Smeljkow zur Verbergung Ihres Verbrechens Gift gegeben zu haben, wodurch sein Tod erfolgte. Bekennen Sie sich schuldig?«



»An nichts bin ich schuld«, begann flink und sicher die Angeklagte zu sprechen. »Ich bin überhaupt nicht in seinem Zimmer gewesen. Da dieses Luder aber drin gewesen, so hat sie auch alles gemacht . . . «



»Das können Sie später sagen«, bemerkte ebenso weich und fest der Präsident. »Sie bekennen sich also nicht schuldig?«



»Nicht ich habe das Geld genommen und nicht ich habe ihn vergiftet. Ich war überhaupt nicht in dem Zimmer. War ich da drin gewesen, hätte ich sie überhaupt hinausgeschmissen.«



»Sie bekennen sich nicht schuldig?«



»Niemals!«



»Sehr schön.«



»Jekaterina Maslowa«, begann der Präsident, sich an die dritte Angeklagte wendend: Sie sind angeklagt, in das Zimmer des Hotels »Mauritanien« mit dem Schlüssel des Kaufmanns Smeljkow gekommen zu sein, dort aus dem Koffer Geld und einen Ring entwendet zu haben . . . « Der Präsident leierte es wie eine eingelernte Schulaufgabe herunter, während er sein Ohr zu dem Mitglieds links hingebeugt hielt, um dessen Bemerkung bezüglich eines nach dem Verzeichnisse der corpora, delicti fehlenden Fläschchens besser zu verstehen.



»Aus dem Koffer Geld und einen Ring entwendet zu haben«, wiederholte der Präsident, »und nachdem Sie das Geraubte geteilt hatten und dann zum zweiten Mal zusammen mit dem Kaufmann Smeljkow in das Hotel »Mauritanien« gekommen waren, Smeljkow Gift gegeben zu haben, worauf hin sein Tod erfolgte. Bekennen Sie sich schuldig?«



»Ich bin gar nicht schuldig«, begann sie rasch zu sprechen, »wie ich zuerst gesagt habe, so sage ich auch jetzt: ich habe nicht genommen, nicht genommen, nicht genommen, nichts habe ich genommen und den Ring hat er mir selbst geschenkt.«



»Sie bekennen sich nicht schuldig, zweitausend fünfhundert Rubel Geld entwendet zu haben?« fragte der Präsident.



»Ich sage, daß ich nichts genommen habe, außer den vierzig Rubel.«



»Nun, aber daß Sie dem Kaufmann Smeljkow im Wein ein Pulver eingegeben haben, bekennen Sie sich dessen schuldig?«



»Das bekenne ich. Nur dachte ich, daß es, wie man mir gesagt hatte, ein Schlafpulver sei, das nichts mache. Ich habe das nicht geglaubt und nicht gewollt. Vor Gott sag’ ich’s, ich hab’ es nicht gewollt«, sagte sie.



»Sie bekennen sich also nicht schuldig, dem Kaufmann Smeljkow Geld und einen Ring entwendet, aber Sie gestehen, ihm ein Pulver ein gegeben zu haben?«



»Das allerdings, aber ich glaubte, daß es ein Schlafpulver ist. Ich gab es nur, damit er ein schläft, das wollte ich nicht und dachte ich nicht.«



»Sehr gut«, sagte der Präsident, augenscheinlich mit den erzielten Resultaten sehr zufrieden. »Also erzählen Sie, wie die ganze Sache war«, sagte er, sich auf den Stuhlrücken lehnend und beide Hände auf den Tisch legend. »Erzählen Sie alles, wie es war. Sie können durch ein offen herziges Geständnis Ihre Lage lindern.«



Die Maslowa schwieg, den Präsidenten gradaus ansehend.



»Erzählen Sie, wie die Sache war.«



»Wie es war?« begann die Maslowa plötzlich und schnell. »Ich kam im Hotel an, man führte mich in sein Zimmer und dort war er schon sehr betrunken.« — Sie sprach das Wort er mit einem besonderen Ausdruck des Entsetzens, indem sie ihre Augen weit aufriß. — »Ich wollte wegfahren, er ließ mich nicht.«



Sie schwieg, als hätte sie plötzlich den Faden verloren, oder als wäre ihr etwas anderes eingefallen.



»Nun und dann?«



»Was denn dann? Ich blieb eine Zeitlang bei ihm und fuhr dann nach Hause.«



In diesem Augenblick erhob sich der Staatsanwaltsadjunkt zur Hälfte, indem er sich affektiert ans den einen Ellbogen stützte.



»Sie wünschen eine Frage zu stellen«, sagte der Präsident und zeigte dem Staatsanwalt auf dessen bejahende Antwort mit einer Geste, daß er fragen könne.



»Ich möchte mir die Frage gestatten, ob die Angeklagte schon früher mit Simon Kartinkin bekannt gewesen?« fragte der Staatsanwalt, ohne die Maslowa anzusehen.



Und nachdem er seine Frage gestellt hatte, preßte er die Lippen zusammen und runzelte die Stirn.



Der Präsident wiederholte die Frage. Die Maslowa starrte den Staatsanwalt erschrocken an.



»Mit Simon? Ja«, sagte sie.



»Ich möchte jetzt wissen, worin diese Bekanntschaft der Angeklagten mit Kartinkin bestand? Ob sie sich häufig sahen?«



»Worin die Bekanntschaft bestand? Er lud mich zu den Gästen ein; überhaupt keine Bekanntschaft«, antwortete die Maslowa, ihre Augen unruhig vom Staatsanwalt zum Präsidenten und zurück wendend.



»Ich möchte wissen, warum Kartinkin zu den Gästen ausschließlich die Maslowa und nicht auch andere Mädchen einlud?« fragte der Staatsanwalt und kniff die Augen zusammen mit einem leisen, mephistophelisch-listigen Lächeln.



»Ich weiß nicht. Woher soll ich das wissen«, antwortete die Maslowa, schaute sich erschrocken um und ließ den Blick für einen Moment auf Nechljudow haften. »Er lud ein, wen er wollte.«



»Hat sie mich wirklich erkannt?« dachte voll Entsetzen Nechljudow und er fühlte, wie das Blut ihm ins Gesicht schoß. Aber die Maslowa wandte, ohne ihn von den anderen zu unterscheiden, ihren Blick wieder ab und heftete ihre Augen von neuem voll Schrecken auf den Staatsanwalt.



»Die Angeklagte leugnet also, zu Kartinkin irgend welche näheren Beziehungen unterhalten zu haben? Sehr gut. Ich habe nichts mehr zu fragen.«



Und der Staatsanwalt nahm sogleich den Ellbogen vom Schreibpulte und begann etwas auf zuschreiben. In Wirklichkeit schrieb er nichts, sondern fuhr nur mit der Feder über die Buchstaben seines Zettels; aber er hatte gesehen, wie Staatsanwälte und Advokaten es machen: nach einer geschickten Frage tragen sie in ihre Rede eine Notiz ein, die den Gegner vernichten soll.



Der Präsident wandte sich nicht sogleich an die Angeklagte, weil er eben das Mitglied in der Brille befragte, ob es mit der Vorlegung der bereits im voraus aufgestellten und notierten Fragen einverstanden sei.



»Was war denn weiter?« fuhr der Präsident zu fragen fort.



»Ich kam nach Hause«, berichtete die Maslowa, jetzt schon etwas kühner den Präsidenten allein betrachtend, »und legte mich schlafen. Kaum war ich eingeschlafen, so weckte mich unser Mädchen, die Bertha. »Geh, sagte sie, Dein Kaufmann ist wieder da.« Da wollte er — sie sprach das Wort er wieder mit demselben Ausdruck des Entsetzens aus — da wollte er nach Wein schicken, hatte aber kein Geld mehr bei sich und schickte mich ins Hotel auf sein Zimmer. Er sagte mir, wo das Geld sei und wie viel ich nehmen sollte. So fuhr ich denn hin.«



Der Präsident flüsterte im Augenblicke etwas dem Mitgliede links zu und hörte daher nicht, was sie sprach. Um aber zu zeigen, daß er alles gehört habe, wiederholte er ihre letzten Worte.



»Sie fuhren hin. Nun, und . . . ?« sagte er.



»Als ich angekommen war, that ich, was er mir befohlen: ich ging auf sein Zimmer. Ich ging nicht allein ins Zimmer, sondern rief Simon Michajlowitsch und die da«, sagte sie und wies auf die Botschkowa.



»Sie lügt, ich bin überhaupt nicht drin gewesen . . . «, begann die Botschkowa, wurde aber am Fortfahren gehindert.



»In deren Gegenwart nahm ich vier Zehnrubelscheine heraus«, erzählte die Maslowa weiter, die Stirne runzelnd und ohne die Botschkowa anzusehen.



»Hm, hat die Angeklagte als sie die vierzig Rubel herausnahm, nicht vielleicht bemerkt, wieviel Geld im Ganzen da war?« fragte wieder der Staatsanwalt.



Die Maslowa zuckte zusammen, sobald sich der Staatsanwalt an sie wandte. Sie wußte nicht, wie und warum, aber sie fühlte, daß dieser Mensch ihr übelwollte.

 



»Ich habe nicht gezählt, ich sah nur, daß dort Hundertrubelscheine waren.«



»Die Angeklagte hatte die Hundertrubelscheine gesehen. — Ich habe nichts mehr.«



»Nun, Sie brachten ihm also das Geld?« fuhr der Präsident fort, einen Blick auf seine Uhr werfend.



»Jawohl.«



»Nun und dann?« fragte der Präsident.



»Dann nahm er mich wieder mit sich«, sagte die Maslowa.



»So, und wie gaben Sie ihm denn das Pulver im Wein?« fragte der Präsident.



»Wie ich es ihm gab? Ich schüttete es in den Wein und gab es ihm.«



»Wozu gaben Sie es ihm denn?«



Sie seufzte tief und schwer auf ohne zu antworten.



»Er wollte mich immer nicht weglassen«, sagte sie nach einigem Schweigen. »Ich war schon ganz abgequält. Da ging ich auf den Korridor hinaus und sagte zu Simon Michajlowitsch: »wenn er mich doch weglassen wollte, ich bin schon müde.« Und Simon Michajlowitsch sagte: »wir sind ihn auch überdrüssig. Wir wollen ihm ein Schlafpulver geben; wenn er eingeschlafen ist, kannst du gehen.« »Gut«, sagte ich. Ich dachte, daß es ein unschädliches Pulver sei. Er gab mir ein Papierchen. Ich ging wieder hinein; er lag hinter der Scheide wand und ließ sich sofort einen Kognak reichen. Ich nahm vom Tisch eine Flasche Fine Champagne, goß zwei Gläser ein, eins mir, eins ihm, schüttete in das seinige das Pulver und gab es ihm. Hätt’ ich denn gegeben, wenn ich das gewußt hätte.«



»Nun und wie kamen Sie zu dem Ring«, fragte der Präsident.



»Den Ring hat er mir selbst geschenkt.«



»Wann hat er Ihnen denselben geschenkt?«



»Als ich mit ihm in das Zimmer gekommen war, wollte ich wieder weggehen, er aber schlug mich auf den Kopf, sodaß der Kamm zerbrach. Ich wurde böse und wollte wegfahren. Er nahm den Ring vom Finger und schenkte ihn mir, damit ich bliebe«, sagte sie.



Der Staatsanwalt erhob sich von neuem und bat immer mit demselben geheuchelt-naiven Ausdruck um die Erlaubnis, noch einige Fragen vorzulegen. Nachdem er die Erlaubnis erhalten, neigte er seinen Kopf über den gestickten Kragen und fragte:



»Ich möchte wissen, wie lange die Angeklagte sich in dem Zimmer des Kaufmanns Smeljkow aufhielt?«



Die Maslowa wurde wieder von Furcht befallen und, unruhig mit den Augen vom Staatsanwalt zum Präsidenten schweifend, sagte sie schnell:



»Ich erinnere mich nicht, wie lange.«



»So, erinnert sich aber die Angeklagte vielleicht, ob sie sich nachdem sie aus dem Zimmer des Kaufmanns Smeljkow gegangen noch irgend wo anders im Hotel aufgehalten habe?«



Die Maslowa sann nach.



»In ein leeres Zimmer nebenbei bin ich hinein gegangen«, sagte sie.



»Wozu gingen Sie denn da hinein?« fragte interessiert der Staatsanwalt, sich direkt an sie wendend.



»Ich wartete auf die Droschke.«



»War auch Kartinkin mit der Angeklagten im Zimmer, oder war er nicht da?«



»Er war auch eingetreten.«



»Wozu war er denn eingetreten?«



»Da war noch Fine Champagne vom Kaufmann übrig geblieben, den tranken wir zusammen aus.«



»Ah, Sie tranken ihn zusammen aus. Sehr gut.«



»Hatte vielleicht die Angeklagte mit Simon irgend eine Unterhaltung?«



Die Maslowa zog plötzlich die Augenbrauen zusammen, wurde dunkelrot und sagte schnell:



»Was ich gesprochen habe? Ich weiß nichts mehr. Machen Sie mit mir, was Sie wollen. Ich bin unschuldig und das ist alles. Nichts habe ich gesprochen. Was gewesen ist, habe ich alles er> zählt«, sagte sie.



»Ich habe nichts weiter«, sagte der Staatsanwalt zum Präsidenten und begann, die Schultern unnatürlich aufziehend, schnell in das Koncept seiner Rede das eigene Geständnis der Angeklagten, daß sie sich mit Simon in einem leeren Zimmer aufgehalten habe, einzutragen.



Es trat Schweigen ein.



»Haben Sie nichts mehr zu sagen?«



»Ich habe alles gesagt«, sprach sie seufzend und setzte sich.



Darauf trug der Präsident etwas in sein Papier ein und erklärte nach einer ihm vom Mitgliede links flüsternd gemachten Mitteilung, daß die Sitzung auf zehn Minuten unterbrochen werde. Darauf erhob er sich eilig und ging zum Saal hinaus. Die Beratung zwischen dem Präsidenten und dem Mitglieds links, dem starken, bärtigen Herrn mit den großen gutmütigen Augen, war dadurch veranlaßt worden, daß letzterer ein leichtes Unbehagen im Magen verspürte und deswegen eine kleine Massage ausführen und Tropfen ein nehmen wollte. Dieses teilte er dem Präsidenten mit, der daraufhin die Unterbrechung der Sitzung ankündigte.



Nach den Richtern erhoben sich auch die Geschworenen, die Advokaten und Zeugen und begannen, mit dem angenehmen Gefühle, einen Teil der wichtigen Sache vollbracht zu haben, hin und her zu gehen.



Nechljudow ging in das Geschworenenzimmer und setzte sich dort ans Fenster.








Zwölftes Kapitel.



Ja, es war Katjuscha.



Die Beziehungen Nechljudows zu Katjuscha waren folgende:



Zum ersten Mal hatte er sie gesehen, als er im sechsten Universitätssemester, während er seinen Aufsatz über den Grundbesitz schrieb, den Sommer bei den Tanten zubrachte. Gewöhnlich hielt er sich den Sommer über mit Mutter und Schwester auf dem in der Nähe Moskaus gelegenen mütterlichen Gut auf. Aber in diesem Jahr hatte sich seine Schwester verheiratet und die Mutter war in ein ausländisches Bad gereist. Nechljudow jedoch mußte seinen Aufsatz schreiben und entschloß sich daher, den Sommer bei den Tanten zu verbringen. Bei ihnen in ihrer Weltabgeschiedenheit war es still und gab es keine Zerstreuungen. Die Tanten liebten ihren Neffen und Erben zärtlich, und auch er liebte sie, liebte sie wegen ihrer Altväterlichkeit und der Schlichtheit ihrer Lebensweise.



Nechljudow durchlebte diesen Sommer bei den Tanten jenen begeisterungsvollen Zustand, da der Jüngling zum ersten Mal aus eigener Erkenntnis und nicht nach fremden Anweisungen die ganze Schönheit und Wichtigkeit des Lebens und die ganze Bedeutung der Aufgaben, die dasselbe an den Menschen stellt, erfaßt. Er erkennt die Möglichkeit der unendlichen Vervollkommnung seiner eigenen sowohl als auch der ganzen Welt. Und er giebt sich diesem Streben nach Vervollkommnung voll Hoffnung und mit der tiefsten Überzeugung von der Erreichbarkeit jener eingebildeten Vollkommenheit hin.



In diesem Jahre las Nechljudow noch auf der Universität die »Soziale Statik« Spencers, und Spencers Ausführungen über den privaten Grundbesitz machten auf ihn besonders darum den größten Eindruck, weil er selbst der Sohn einer Großgrundbesitzerin war. Sein Vater war nicht reich gewesen, aber seine Mutter hatte als Mitgift gegen zehn taufend Deßjatinen Land erhalten. Damals erkannte er zum ersten Mal die ganze Ungerechtigkeit des privaten Grundbesitzes, und da er einer von jenen Menschen war, denen ein den sittlichen Forderungen gebrachtes Opfer den höchsten geistigen Genuß gewährt, so entschloß er sich, von seinem Rechte auf Grundbesitz keinen Gebrauch zu machen, und verteilte damals schon das vom Vater geerbte Land an die Bauern. Derselbe Stoff bildete auch den Gegenstand seiner wissenschaftlichen Arbeit.



Sein Leben auf dem Lande bei den Tanten verlief folgendermaßen: er stand sehr früh auf, zuweilen um 3 Uhr, und ging hinunter zum Flusse, um zu baden, manchmal noch im Morgennebel; wenn er zurückkehrte, lag noch der Tau auf dem Grase und den Blumen. Nachdem er am Morgen Kaffee getrunken hatte, pflegte er seine Arbeit vorzunehmen oder die Quellen zu derselben zu studieren, sehr oft aber auch statt dessen in Wald und Feld umherzuschweifen. Vor dem Mittag machte er irgendwo im Garten ein Schläfchen, zu Mittag belustigte und animierte er dann mit seinen Spaßen die Tanten, hernach ritt er oder fuhr im Boot und am Abend las er wieder oder saß mit den Tanten und legte Patience aus. Oft konnte er in der Nacht, besonders bei Mondschein, nur darum nicht schlafen, weil er eine zu große und aufregende Freude am Leben empfand. Und statt zu schlafen ging er dann mit seinen Träumen und Gedanken bis zum Morgengrauen im Garten umher.



So glücklich und ruhig verlebte er den ersten Monat seines Aufenthaltes bei den Tanten, ohne die schwarzäugige, schnellfüßige Katjuscha, das Pflegekind und Stubenmädchen, auch nur zu beachten.



Nechljudow, der unter dem schützenden Flügel der Mutter erzogen war, war mit 19 Jahren noch ein vollständig unschuldiger Jüngling. Das Weib erschien ihm in seinen Gedanken nur als Gattin. Alle Frauen aber, mit denen er nach seinem Begriff keine Ehe eingehen konnte, waren für ihn nicht Frauen sondern Menschen.



Es geschah, daß in diesem Sommer am Himmelfahrtstage zu den Tanten eine Nachbarin mit ihren Kindern, zwei jungen Mädchen und einem Gymnasiasten auf Besuch kam. Auch ein junger Maler aus dem Bauernstande, der bei ihr den Sommer verbrachte, war mitgekommen.



Nach dem Thee spielte man auf der abgemähten Wiese vor dem Hause Haschhasch. Auch Katjuscha beteiligte sich daran. Nachdem einige Paare gewechselt hatten, mußte Nechljudow mit Katjuscha laufen. Nechljudow hatte Katjuscha immer gern gesehen, aber daß zwischen ihm und ihr irgendwelche besonderen Beziehungen entstehen könnten, war ihm niemals in den Sinn gekommen.



»Die beiden wird man nicht so leicht fassen können«, meinte der haschende lustige Maler, der auf seinen kurzen und krummen aber starken Bauernbeinen sehr schnell lief.



»Nur wenn sie stolpern sollten.«



»Sie sollten die nicht fangen können?«



»Eins, zwei, drei!«



Es wurde drei Mal in die Hände geklatscht. Katjuscha, die kaum das Lachen verbeißen konnte, wechselte mit Nechljudow schnell den Platz, drückte mit ihrem festen, rauhen Händchen seine große Hand und stürmte vorwärts nach links, mit den gestärkten Röcken raschelnd.



Nechljudow konnte schnell laufen und, da er sich von dem Maler nicht fangen lassen wollte, stürmte er aus allen Kräften vorwärts. Als er sich umschaute, sah er, wie der Maler Katjuscha verfolgte. Aber mit ihren jungen, elastischen Beinen lief sie schnell und nahm dem Maler entweichend die Richtung nach links. Vorn stand ein Fliedergebüsch, hinter welches sonst niemand gelaufen war. Katjuscha sah sich nach Nechljudow um und gab ihm ein Zeichen, sich dort zu vereinigen. Er verstand sie und lief hinter die Sträucher. Nun war aber hinter den Sträuchern ein kleiner, mit Nesseln überwucherter Graben, den er nicht kannte: er stolperte hinein und verbrannte sich die Hände in den vom Abendtau befeuchteten Nesseln. Schnell jedoch sprang er unter Lachen auf, machte sich zu recht und lief auf den freien Platz hinaus.



Katjuscha, deren Augen wie taufrische Johannisbeeren glänzten, lief ihm mit strahlendem Lächeln entgegen. Sie kamen zusammen und faßten sich an den Händen.



»Sie haben sich wohl verbrannt«, sagte sie und ordnete mit der freien Hand den sich auf lösenden Zopf. Und schwer atmend blickte sie ihm lächelnd, von unten herauf gerade in die Augen.



»Ich wußte gar nicht, daß hier ein Graben ist«, sagte er ebenfalls lächelnd, ohne ihre Hand loszulassen.



Sie rückte zu ihm heran, und ohne zu wissen, wie es geschah, näherte er sich ihrem Gesicht. Sie zog sich nicht zurück, er aber drückte ihre Hand fester und küßte sie auf den Mund.



»Nanu!« rief sie, und mit einer schnellen Bewegung ihre Hand freimachend lief sie von ihm weg.



Als sie an den Fliederstrauch kam, brach sie sich zwei Zweige von den weißen, schon abfallen den Fliederblüten. Sie peitschte sich mit den Blüten das erhitzte Gesicht, blickte sich nach Nechljudow um und ging, mit den Händen fuchtelnd, zu den Spielenden zurück.



Von dieser Zeit an veränderten sich die Beziehungen zwischen Nechljudow und Katjuscha und nahmen jenen besonderen Charakter an, wie sie ihn zwischen einem unschuldigen Jüngling und einem ebenso unschuldigen jungen Mädchen, die sich beide zueinander hingezogen fühlen, zu haben pflegen.



Sobald Katjuscha das Zimmer betrat oder Nechljudow auch nur aus der Ferne ihre weiße Schürze sah, wurde für ihn alles wie von der Sonne beleuchtet, alles wurde interessanter, heiterer, bedeutsamer, das ganze Leben wurde freudevoller. Dasselbe empfand auch sie. Aber nicht nur die Anwesenheit oder Nähe Katjuschas übten auf Nechljudow diese Wirkung aus; von ebensolcher Wirkung war für ihn das bloße Bewußtsein, daß Katjuscha, und für sie, daß Nechljudow existierte. Erhielt Nechljudow einen unangenehmen Brief von der Mutter, oder ging es mit seiner Arbeit nicht recht vorwärts, oder wurde er von jenem grundlosen Trübsinn der Jugend befallen, — er brauchte blos daran zu denken, daß Katjuscha existierte und daß er sie sehen würde, und sogleich hob sich jede Verstimmung.

 



Katjuscha hatte im Hause viel zu thun, aber sie verstand es, mit allem schnell fertig zu werden und pflegte dann in den freien Augenblicken zu lesen. Nechljudow gab ihr Dostojewskij und Turgenew, die er selbst soeben erst gelesen hatte. Am meisten gefiel ihr »Das Stillleben« von Turgenew. Gespräche gab es zwischen ihnen nur gelegentlich, bei Begegnungen im Korridor, auf d

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