Krieg und Frieden

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V

»Aber wie finden Sie diese ganze letzte Krönungskomödie in Mailand?« fragte Anna Pawlowna. »Und nun ist eine neue Komödie gefolgt: die Bevölkerung von Genua und Lucca trägt Herrn Bonaparte ihre Wünsche vor. Und Herr Bonaparte sitzt auf dem Thron und erfüllt die Wünsche der Völker! Oh, das ist ein entzückendes Schauspiel! Nein, man könnte den Verstand darüber verlieren. Man möchte glauben, daß die ganze Welt den Kopf verloren hat.«

Fürst Andrei blickte der Sprechenden gerade ins Gesicht und lächelte.

»Gott gibt mir diese Krone; wehe dem, der sie antastet!« sagte er (die Worte, welche Bonaparte beim Aufsetzen der Krone gesprochen hatte). »Es heißt, er soll einen schönen Anblick dargeboten haben, als er diese Worte sprach«, fügte er hinzu und wiederholte diese Worte noch einmal auf italienisch: »Dio mi la dona, guai a chi la tocca!«

»Ich hoffe«, fuhr Anna Pawlowna fort, »daß dies endlich der Tropfen ist, der das Gefäß zum Überlaufen bringt. Die Souveräne können diesen Menschen, der alles Bestehende bedroht, nicht länger dulden.«

»Die Souveräne! Ich rede nicht von Rußland«, sagte der Vicomte in artigem, aber hoffnungslosem Ton. »Die Souveräne! Aber was haben sie für Ludwig XVI., für die Königin und für Madame Elisabeth getan? Nichts!« fuhr er, lebhafter werdend, fort. »Und glauben Sie mir, sie werden ihre Strafe dafür erleiden, daß sie die Sache der Bourbonen im Stich gelassen haben. Die Souveräne! Sie schicken Gesandte hin, um den Thronräuber zu beglückwünschen!«

Mit einem Seufzer der Geringschätzung änderte er seine Haltung. Fürst Ippolit, der den Vicomte lange durch seine Lorgnette betrachtet hatte, drehte sich plötzlich bei diesen Worten mit dem ganzen Körper zu der kleinen Fürstin um, erbat sich von ihr eine Nadel und begann, indem er mit der Nadel auf dem Tisch zeichnete, ihr das Wappen der Condés darzustellen. Er erläuterte ihr dieses Wappen mit so wichtiger Miene, als ob die Fürstin ihn darum gebeten hätte.

»Ein Schild mit schmalen, roten und blauen gezähnten Streifen, das ist das Haus Condé«, sagte er. Die Fürstin hörte lächelnd zu.

»Wenn Bonaparte noch ein Jahr auf dem französischen Thron bleibt«, fuhr der Vicomte in seiner begonnenen Darlegung mit der Miene eines Menschen fort, der auf andere nicht hört, sondern bei einem Gegenstand, der ihm besser bekannt ist als allen übrigen, nur seinen eigenen Gedankengang im Auge hat, »so wird ein nie wiedergutzumachendes Unheil angerichtet sein. Durch Intrigen, Gewalttaten, Verbannungen und Hinrichtungen wird die Gesellschaft, ich meine die gute französische Gesellschaft, für immer vernichtet sein, und dann ...«

Er zuckte die Achseln und breitete die Arme auseinander. Pierre setzte gerade an, um etwas zu sagen, da ihn das Gespräch interessierte; aber Anna Pawlowna, die ihn überwachte, ließ ihn nicht zu Wort kommen.

»Kaiser Alexander«, sagte sie in dem wehmütigen Ton, dessen sie sich stets bediente, wenn sie von der kaiserlichen Familie sprach, »hat erklärt, daß er es den Franzosen selbst anheimstelle, sich die Form ihrer Regierung zu wählen. Und ich meine, es kann gar nicht zweifelhaft sein, daß die ganze Nation sich von dem Usurpator befreien und sich ihrem legitimen König in die Arme werfen wird.« Anna Pawlowna beabsichtigte, mit diesen Worten dem Emigranten und Royalisten eine Liebenswürdigkeit zu erweisen.

»Das dürfte denn doch zweifelhaft sein«, bemerkte Fürst Andrei. »Der Herr Vicomte hat durchaus recht mit seiner Anschauung, daß die Sache sich schon zu weit entwickelt hat. Ich glaube, es wird schwer sein, zu den alten Zuständen zurückzukehren.«

»Soviel ich gehört habe«, mischte sich Pierre, seinen Versuch erneuernd, mit lebhaftem Erröten in das Gespräch, »ist fast der ganze Adel bereits auf Bonapartes Seite getreten.«

»Das sagen die Bonapartisten«, entgegnete der Vicomte, ohne Pierre anzusehen. »Es ist jetzt schwer, über die Ansichten der besseren Kreise Frankreichs ins klare zu kommen.«

»Bonaparte selbst hat das gesagt«, warf Fürst Andrei lächelnd ein. (Es war deutlich, daß ihm der Vicomte nicht gefiel, und daß seine Bemerkung, obwohl er den Vicomte dabei nicht anblickte, gegen diesen gerichtet war.)

»›Ich habe ihnen den Weg des Ruhmes gezeigt‹«, fuhr er nach kurzem Stillschweigen, wieder Worte Napoleons zitierend, fort, »›aber sie haben ihn nicht gehen wollen; ich habe ihnen meine Vorzimmer geöffnet, und sie sind in Scharen herbeigeeilt ...‹ Ich weiß nicht, bis zu welchem Grade er ein Recht hatte, so zu sprechen.«

»Gar kein Recht hatte er dazu«, entgegnete der Vicomte. »Nach der Ermordung des Herzogs haben selbst seine getreuesten Anhänger aufgehört, einen Helden in ihm zu sehen. Und wenn er wirklich für manche Leute ein Held war«, fuhr der Vicomte, zu Anna Pawlowna gewendet, fort, »so kann man doch sagen: nach der Ermordung des Herzogs gibt es im Himmel einen Märtyrer mehr und auf Erden einen Helden weniger.«

Anna Pawlowna und manche ihrer Gäste hatten noch nicht Zeit gefunden, ihre Bewunderung für diese Worte des Vicomtes durch ein Lächeln zu bezeigen, da stürzte sich schon Pierre von neuem in das Gespräch, und obgleich Anna Pawlowna ahnte, daß er etwas Unpassendes vorbringen werde, war sie doch nicht mehr imstande, ihn zurückzuhalten.

»Die Hinrichtung des Herzogs von Enghien«, sagte Pierre, »war eine politische Notwendigkeit, und ich betrachte es geradezu als ein Zeichen von Seelengröße, daß Napoleon sich nicht gescheut hat, die Verantwortung für diese Tat ganz allein auf sich zu nehmen.«

»Mein Gott!« flüsterte Anna Pawlowna ganz entsetzt.

»Sie billigen einen Mord ...? Wie, Monsieur Pierre, Sie sehen in einem Mord ein Zeichen von Seelengröße?« sagte die kleine Fürstin, indem sie ihre Handarbeit lächelnd näher an ihre Brust hielt.

»Ah! Ah!« riefen verschiedene Stimmen.

»Vorzüglich!« sagte Fürst Ippolit auf englisch und schlug sich ein paarmal mit der flachen Hand aufs Knie. Der Vicomte zuckte nur mit den Achseln.

Pierre blickte triumphierend über seine Brille weg die Zuhörer an.

»Ich spreche so«, fuhr er kühnen Mutes fort, »weil die Bourbonen vor der Revolution davongelaufen sind und das Volk der Anarchie preisgegeben haben; Napoleon war der einzige, der es verstand, die Revolution richtig zu beurteilen und sie zu besiegen, und deshalb durfte er, wo es sich um das allgemeine Wohl handelte, nicht vor dem Leben eines einzelnen haltmachen.«

»Mögen Sie nicht an den Tisch dort drüben mit herüberkommen?« sagte Anna Pawlowna. Aber Pierre fuhr, ohne ihr zu antworten, in seiner Meinungsäußerung fort.

»Nein«, sagte er, immer lebhafter werdend, »Napoleon ist ein großer Geist, weil er sich über die Revolution gestellt und ihre Auswüchse vertilgt hat, während er alles Gute, das sie gebracht hatte, beibehielt: die Gleichheit aller Bürger und die Freiheit des Wortes und der Presse; nur durch dieses Verfahren hat er die Macht erlangt.«

»Ja, wenn er die Macht, nachdem er sie erlangt hatte, nicht zum Mord mißbraucht, sondern in die Hände des legitimen Königs gelegt hätte«, entgegnete der Vicomte, »dann würde ich ihn einen großen Mann nennen.«

»Das hätte er gar nicht tun können. Das Volk hatte ihm die Macht nur zu dem Zweck gegeben, damit er es von den Bourbonen befreien möchte, und weil es in ihm einen großen Mann sah. Die Revolution ist eine große Tat gewesen«, fuhr Monsieur Pierre fort und bekundete durch die unnötige Hinzufügung dieser verwegenen, herausfordernden These seine große Jugendlichkeit und seinen Eifer, alles möglichst schnell herauszureden.

»Revolution und Königsmord eine große Tat ...! Wenn jemand so redet ... Aber wollen Sie nicht an den Tisch dort drüben mit herüberkommen?« wiederholte Anna Pawlowna ihre Aufforderung.

»Rousseaus Gesellschaftsvertrag«, sagte der Vicomte mit sanftem Lächeln.

»Ich spreche nicht vom Königsmord; ich spreche von den Ideen.«

»Jawohl, von den Ideen des Raubes, des Mordes und des Königsmordes«, unterbrach ihn wieder eine ironische Stimme.

»Das waren tadelnswerte Ausschreitungen, versteht sich. Aber nicht darin liegt die eigentliche Bedeutung der Revolution; sondern ihre Bedeutung liegt in der Anerkennung der Menschenrechte, in der Ablegung von Vorurteilen, in der Gleichstellung aller Bürger. Und alle diese Ideen hat Napoleon in ihrer ganzen Kraft beibehalten.«

»Freiheit und Gleichheit«, entgegnete der Vicomte geringschätzig, als ob er sich endlich entschlossen hätte, diesem jungen Menschen ernsthaft die ganze Torheit seines Geredes zu beweisen, »das sind hochtönende Worte, die schon längst in Verruf gekommen sind. Wer sollte nicht Freiheit und Gleichheit lieben? Schon unser Heiland hat Freiheit und Gleichheit gepredigt. Sind denn etwa die Menschen nach der Revolution glücklicher geworden? Im Gegenteil. Wir wünschten die Freiheit; aber Bonaparte hat sie vernichtet.«

Fürst Andrei sah lächelnd bald Pierre, bald den Vicomte, bald die Wirtin an. Bei Pierres exzentrischen Reden hatte Anna Pawlowna im ersten Augenblick trotz ihrer gesellschaftlichen Routine einen gewaltigen Schreck bekommen; aber als sie sah, daß bei den von Pierre ausgestoßenen gotteslästerlichen Reden der Vicomte nicht außer sich geriet, und als sie ferner sah, daß ein Vertuschen dieser Reden nicht mehr möglich war, da nahm sie ihren Mut zusammen, ergriff die Partei des Vicomtes und machte einen Angriff auf den dreisten Redner.

»Aber mein lieber Monsieur Pierre«, sagte Anna Pawlowna, »wie können Sie nur jemand für einen großen Mann erklären, der den Herzog – oder sagen wir überhaupt schlechtweg einen Menschen – ohne ordentliches Gericht schuldlos hat hinrichten lassen?«

»Ich möchte fragen«, sagte der Vicomte, »wie man den achtzehnten Brumaire auffassen soll. War das etwa kein Betrug? Das war eine Gaunerei, die mit der Handlungsweise eines großen Mannes ganz und gar keine Ähnlichkeit hat.«

 

»Und die Gefangenen in Afrika, die er ermorden ließ?« fügte die kleine Fürstin hinzu. »Das ist doch entsetzlich!« Sie zuckte mit den Schultern.

»Er ist ein Emporkömmling; da kann man nun sagen, was man will«, bemerkte Fürst Ippolit.

Monsieur Pierre wußte nicht, wem er antworten sollte, sah ringsumher alle an und lächelte. Sein Lächeln war von anderer Art als bei anderen Menschen; es war nicht eine Verschmelzung von Ernst und Heiterkeit, sondern, sobald sich bei ihm ein Lächeln einstellte, verschwand sofort, im gleichen Augenblick, das ernste und sogar etwas mürrische Gesicht vollständig, und es erschien ein anderes, kindliches, gutmütiges, sogar etwas einfältiges Gesicht, das gewissermaßen um Verzeihung bat.

Dem Vicomte, der ihn zum erstenmal sah, wurde klar, daß dieser Jakobiner durchaus nicht so fürchterlich war wie seine Reden. Alle schwiegen.

»Wie soll er es denn anfangen, allen auf einmal zu antworten?« sagte dann Fürst Andrei. »Übrigens muß man, wo es sich um Taten eines Staatsmannes handelt, unterscheiden, was er als Mensch und was er als Heerführer oder Kaiser getan hat. Das scheint mir notwendig.«

»Ja, ja, selbstverständlich!« rief Pierre schnell, erfreut über die Hilfe, die ihm plötzlich kam.

»Es läßt sich nicht leugnen«, fuhr Fürst Andrei fort, »daß Napoleon als Mensch sich bei manchen Anlässen groß gezeigt hat: auf der Brücke von Arcole, in den Lazaretten von Jaffa, wo er den Pestkranken die Hand gab; aber freilich ... andere seiner Taten sind schwer zu rechtfertigen.«

Fürst Andrei, der offenbar beabsichtigt hatte, den unangenehmen Eindruck von Pierres ungeschickten Reden zu mildern, stand auf, um wegzufahren, und gab seiner Frau ein Zeichen.

Plötzlich sprang Fürst Ippolit auf, hielt durch Zeichen mit den Armen alle zurück und bat sie, sich noch einmal hinzusetzen; dann begann er:

»Ach, heute habe ich eine reizende Geschichte aus Moskau erzählen hören; die muß ich Ihnen zum besten geben. Verzeihen Sie, Vicomte, daß ich sie auf russisch erzähle; sie würde sonst den richtigen Geschmack verlieren.« Und nun fing Fürst Ippolit an, russisch zu reden, mit einer Aussprache und Grammatik, welche an die von Franzosen erinnerte, die sich etwa ein Jahr lang in Rußland aufgehalten haben. Alle waren dageblieben; so eifrig und dringend hatte Fürst Ippolit um Aufmerksamkeit für seine Geschichte gebeten.

»In Moskau lebt eine Dame. Und sie ist sehr geizig. Sie mußte zwei Lakaien für ihre Kutsche haben. Und sehr groß gewachsene. Das war ihr Geschmack. Und sie hatte ein Dienstmädchen, die noch größer war. Da sagte sie ...«

Hier dachte Fürst Ippolit nach; augenscheinlich überlegte er mit Anstrengung, wie die Geschichte weiterging.

»Sie sagte ... ja, sie sagte: ›Mädchen, zieh Livree an und fahr mit mich aus, hinten auf das Wagen, Besuche machen.‹«

Hier prustete Fürst Ippolit los und lachte weit früher als seine Zuhörer, was einen für den Erzähler unvorteilhaften Eindruck machte. Viele lächelten jedoch, darunter die ältliche Dame und Anna Pawlowna.

»Die Dame fuhr. Auf einmal wurde ein starke Wind. Das Mädchen verlor den Hut, und die lange Haare wurden los ...«

Hier konnte er sich nicht mehr halten, begann stoßweise zu lachen und sagte zwischen diesen Lachanfällen nur noch:

»Und alle Leute merkten ...«

Damit war die Geschichte zu Ende. Obgleich nicht zu verstehen war, wozu er sie eigentlich erzählt hatte, und weshalb es unbedingt notwendig gewesen war, sie russisch zu erzählen, so waren doch Anna Pawlowna und andere dem Fürsten Ippolit dankbar für die weltmännische Liebenswürdigkeit, mit der er die unerfreulichen, schroffen Meinungsäußerungen dieses Monsieur Pierre in so hübscher Weise abgeschnitten hatte. Nach dem Vortrag dieser Anekdote zersplitterte die Unterhaltung in kleine, unbedeutende Plaudereien über den letzten Ball und über den demnächst bevorstehenden und über das Theater und darüber, wann und wo man sich wieder treffen werde.

VI

Die Gäste bedankten sich bei Anna Pawlowna für den »entzückenden Abend« und begannen sich zu entfernen.

Pierre zeigte sich recht unbeholfen. Von ungewöhnlicher Körpergröße, dick und breit gebaut, mit mächtig großen, roten Händen, verstand er, wie man sich ausdrückt, nicht, in einen Salon einzutreten, und noch weniger verstand er, einen Salon zu verlassen, das heißt, vor dem Hinausgehen etwas besonders Liebenswürdiges zu sagen. Außerdem war er augenblicklich auch noch zerstreut. Beim Aufstehen ergriff er statt seines Hutes einen Dreimaster mit Generalsplumage und hielt ihn, an den Federn zupfend, so lange in der Hand, bis der General ihn sich zurückerbat. Aber seine Zerstreutheit und seine Unkenntnis der Art, wie man einen Salon zu betreten, darin zu reden und schließlich wegzugehen hat, dies alles wurde durch den gutmütigen, einfachen, bescheidenen Ausdruck seines Gesichts wieder wettgemacht, so daß man ihm nicht böse sein konnte. Anna Pawlowna wandte sich zu ihm, nickte ihm mit christlicher Sanftmut zum Zeichen der Verzeihung für seine Hitzköpfigkeit zu und sagte:

»Ich hoffe, Sie bald wiederzusehen; aber ich hoffe auch, daß Sie Ihre Ansichten ändern werden, mein lieber Monsieur Pierre.«

Als sie dies zu ihm gesagt hatte, antwortete er keine Silbe; er verbeugte sich nur und ließ alle Anwesenden noch einmal sein Lächeln sehen, welches nichts weiter sagte als etwa nur dies: »Meinungen sind eben Meinungen; aber seht nur, was für ein gutmütiger, prächtiger Bursche ich bin.« Und Anna Pawlowna sowie alle ihre Gäste empfanden das unwillkürlich.

Fürst Andrei trat in das Vorzimmer hinaus, und während er seine Schultern dem Diener hinhielt, der ihm den Mantel umlegte, hörte er gleichgültig dem Geplauder seiner Frau mit dem Fürsten Ippolit zu, der ebenfalls in das Vorzimmer herausgekommen war. Fürst Ippolit stand bei der hübschen, schwangeren Fürstin und blickte sie starr und unverwandt durch seine Lorgnette an.

»Gehen Sie wieder hinein, Annette, Sie werden sich noch erkälten«, sagte die kleine Fürstin, sich von Anna Pawlowna verabschiedend. »Also abgemacht!« fügte sie leise hinzu.

Anna Pawlowna hatte bereits Zeit gefunden, mit Lisa über die Heirat zu sprechen, die sie zwischen Anatol und der Schwägerin der kleinen Fürstin zustande bringen wollte.

»Ich rechne auf Sie, liebe Freundin«, sagte Anna Pawlowna gleichfalls leise. »Schreiben Sie also an sie, und teilen Sie mir dann mit, wie der Vater über die Sache denkt. Auf Wiedersehen!« Damit ging sie aus dem Vorzimmer hinaus.

Fürst Ippolit trat zu der kleinen Fürstin, beugte sein Gesicht nahe zu ihr herab und begann ihr etwas beinahe im Flüsterton zu sagen.

Zwei Diener, von denen der eine der Fürstin, der andre ihm gehörte, standen mit dem Schal der Fürstin und dem Mantel Ippolits hinter ihnen, warteten, bis sie aufhören würden zu reden, und hörten dem ihnen unverständlichen französischen Gespräch mit einer Miene zu, als ob sie alles, was da geredet wurde, verständen und dies nur nicht zeigen wollten. Die Fürstin sprach, wie immer, lächelnd und hörte lachend zu.

»Ich bin sehr froh, daß ich nicht zu dem Gesandten gefahren bin«, sagte Fürst Ippolit. »Furchtbar langweilig da ... War ein sehr netter Abend hier, nicht wahr, sehr netter Abend?«

»Es heißt, der Ball werde heute dort ganz prächtig sein«, antwortete die Fürstin und zog die kleine Oberlippe mit dem Schnurrbärtchen in die Höhe. »Alle schönen Frauen aus der guten Gesellschaft werden dasein.«

»Nicht alle, da Sie nicht dasein werden; nicht alle!« sagte Fürst Ippolit vergnügt lachend. Dann nahm er dem Diener das Schaltuch ab, stieß ihn energisch bei seite und legte der Fürstin das Tuch um.

Aus Unbeholfenheit oder absichtlich (das hätte niemand entscheiden können) ließ er längere Zeit die Arme nicht wieder sinken, als der Schal bereits herumgelegt war, und umarmte gewissermaßen auf diese Art die junge Frau.

Mit einer anmutigen Bewegung machte sie sich frei, behielt aber ihre lächelnde Miene bei; dann drehte sie sich um und blickte zu ihrem Mann hin. Fürst Andrei hielt die Augen geschlossen; er schien müde und schläfrig zu sein.

»Sind Sie fertig?« fragte er seine Frau, an ihr vorbeisehend. Fürst Ippolit zog eilig seinen Mantel an, der ihm nach der neuen Mode bis an die Hacken reichte, und sich mit den Füßen in ihn verwickelnd, lief er die Stufen vor der Haustür hinab der Fürstin nach, welcher der Diener beim Einsteigen in den Wagen behilflich war.

»Auf Wiedersehen, Fürstin!« rief er und verwickelte sich dabei mit der Zunge ebenso wie mit den Beinen.

Die Fürstin faßte ihr Kleid zusammen und setzte sich in dem dunklen Wagen zurecht; ihr Mann brachte seinen Säbel in Ordnung, um auch einzusteigen; Fürst Ippolit gab sich den Anschein, als wolle er gute Dienste erweisen, war aber nur hinderlich.

»Erlauben Sie, mein Herr«, sagte Fürst Andrei auf russisch trocken und unfreundlich zu dem Fürsten Ippolit, der ihn behinderte vorbeizukommen.

»Ich erwarte dich, Pierre!« rief dann dieselbe Stimme des Fürsten Andrei in freundlichem, herzlichem Ton aus dem Wagen heraus.

Der Vorreiter setzte sich in Bewegung, und der Wagen fuhr davon. Fürst Ippolit brach in sein stoßweises Lachen aus, während er auf den Stufen vor der Haustür stand und auf den Vicomte wartete, dem er versprochen hatte, ihn nach Hause zu bringen.

»Nun, mein Teuerster«, sagte der Vicomte, nachdem er sich mit Ippolit in den Wagen gesetzt hatte, »Ihre kleine Fürstin ist ja allerliebst! Ganz allerliebst!« Er küßte seine Fingerspitzen. »Und vollständig, vollständig wie eine Französin!«

Ippolit prustete und lachte laut los.

»Und wissen Sie, Sie sind ja ein ganz gefährlicher Mensch mit Ihrer Unschuldsmiene«, fuhr der Vicomte fort. »Ich bedaure den armen Ehemann, diesen kleinen Wicht von Offizier, der sich ein Air gibt, als wäre er ein regierender Herr.«

Ippolit prustete immer noch und sagte mühsam während des Lachens:

»Und da haben Sie gesagt, die russischen Damen seien im Vergleich mit den Französinnen doch rückständig. Aber man muß die Sache nur richtig anzufassen wissen.«

Pierre, der den Wagen des Fürsten Andrei überholt hatte, ging als Freund des Hauses in das Arbeitszimmer des Fürsten Andrei, legte sich dort sofort seiner Gewohnheit nach auf das Sofa, nahm aus einem Regal das erstbeste Buch, das ihm in die Hände kam (es waren die Kommentare Cäsars), stützte sich auf den Ellbogen und begann irgendwo in der Mitte zu lesen.

»Wie hast du nur der armen Anna Pawlowna mitgespielt? Sie wird jetzt gewiß ganz krank davon sein!« sagte Fürst Andrei, ins Zimmer tretend, und rieb sich die kleinen, weißen Hände.

Pierre wälzte sich mit dem ganzen Körper herum, so daß das Sofa knarrte, wendete sein lebhaft erregtes Gesicht dem Fürsten Andrei zu, lächelte und machte eine Handbewegung, die ungefähr besagte: »Ach Gott, Anna Pawlowna!«

»Nein«, sagte er, »dieser Abbé ist wirklich ein sehr interessanter Mann; nur hat er eine falsche Auffassung der Sache, mit der er sich beschäftigt ... Möglich ist meiner Ansicht nach der ewige Friede; aber ich weiß nicht, wie ich mich ausdrücken soll ... indessen gewiß nicht durch das politische Gleichgewicht.«

Fürst Andrei schien sich für derartige abstrakte Gespräche nicht zu interessieren.

»Man darf nicht an jedem Ort alles sagen, was man denkt, mein Lieber. – Nun, wie ist's?« fragte er dann nach einem kurzen Stillschweigen. »Hast du dich nun endlich für irgendeinen Beruf entschieden? Willst du zur Gardekavallerie gehen oder Diplomat werden?«

Pierre setzte sich auf dem Sofa aufrecht hin, indem er die Beine unter den Leib schob.

»Können Sie sich das vorstellen? Ich weiß es immer noch nicht. Von diesen beiden Berufen gefällt mir der eine so wenig wie der andre.«

»Aber du mußt dich doch für irgend etwas entscheiden. Dein Vater wartet darauf.«

Pierre war in seinem zehnten Lebensjahr mit einem Abbé, der ihn erziehen sollte, ins Ausland geschickt worden, wo er dann bis zu seinem zwanzigsten Jahr gelebt hatte. Als er nach Moskau zurückgekehrt war, hatte sein Vater den Abbé entlassen und zu dem jungen Mann gesagt: »Fahr du jetzt nach Petersburg, sieh dich um und wähle. Ich bin mit allem einverstanden. Da hast du einen Brief an den Fürsten Wasili, und hier hast du Geld. Schreibe mir über alles; ich werde dir in allen Dingen behilflich sein.« Nun wählte Pierre schon drei Monate lang einen Beruf und tat nichts. Und über diese Wahl beabsichtigte Fürst Andrei jetzt mit ihm zu reden. Pierre rieb sich die Stirn.

 

»Aber er wird wohl Freimaurer sein«, sprach er; er sprach von dem Abbé, den er auf der Abendgesellschaft kennengelernt hatte.

»Das ist ja alles Torheit«, unterbrach ihn Fürst An drei wieder in seinem Gedankengang. »Laß uns doch lieber von etwas Ernstem reden! Bist du in der Gardekavalleriekaserne gewesen?«

»Nein, ich bin nicht dagewesen. Aber da ist mir etwas durch den Kopf gegangen; das wollte ich Ihnen sagen. Wir haben jetzt Krieg gegen Napoleon. Wäre das ein Krieg für die Freiheit, dann würde ich für ihn Verständnis haben und würde der erste sein, der in den Kriegsdienst träte; aber den Engländern und Österreichern gegen den größten Mann der Welt beizustehen ... das ist nicht schön.«

Fürst Andrei zuckte zu Pierres kindlichen Reden nur die Achseln. Er machte ein Gesicht, welches besagte, daß man auf solche Dummheiten eigentlich nicht antworten könne; und wirklich war es schwer, auf diese naive Äußerung etwas anderes zu erwidern als das, was Fürst Andrei zur Antwort gab:

»Wenn alle Menschen nur nach Maßgabe ihrer Überzeugungen Krieg führten, so würde es keinen Krieg geben«, sagte er.

»Das wäre ja aber wunderschön«, erwiderte Pierre.

Fürst Andrei lächelte.

»Wunderschön wäre es vielleicht; aber dahin wird es niemals kommen.«

»Nun, warum ziehen Sie denn in den Krieg?« fragte Pierre.

»Warum ich in den Krieg ziehe? Das weiß ich nicht. Ich muß eben. Außerdem ziehe ich in den Krieg ...« Er stockte. »Ich ziehe in den Krieg, weil das Leben, das ich hier führe, nicht nach meinem Geschmack ist.«

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