Jules Verne
Der Archipel in Flammen
Jules Verne
Der Archipel in Flammen
(L’Archipel en feu)
Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2020
Illustrationen: Léon Benett
Übersetzung: Unbekannt, Jürgen Schulze
EV: A. Hartleben’ Verlag, 1887
1. Auflage, ISBN 978-3-962817-78-7
null-papier.de/695
null-papier.de/katalog
Inhaltsverzeichnis
Jules Verne – Leben und Werk
Erstes Kapitel – Ein Schiff in Sicht
Zweites Kapitel – Auge in Auge
Drittes Kapitel – Griechen gegen Türken
Viertes Kapitel – Das traurige Haus eines Reichen
Fünftes Kapitel – Die messenische Küste
Sechstes Kapitel – Auf die Piraten des Archipels
Siebtes Kapitel – Eine Überraschung
Achtes Kapitel – Um zwanzig Millionen
Neuntes Kapitel – Der Archipel in Flammen
Zehntes Kapitel – Beim Kreuzen im Archipel
Elftes Kapitel – Signale ohne Antwort
Zwölftes Kapitel – Eine Versteigerung in Scarpanto
Dreizehntes Kapitel – An Bord der »Syphanta«
Vierzehntes Kapitel – Sacratif
Fünfzehntes Kapitel – Die Lösung des Dramas
Ein Nachwort
Danke, dass Sie dieses E-Book aus meinem Verlag erworben haben.
Jules Verne gehört zu den Autoren, die jeder schon einmal gelesen hat. Eine Behauptung, die man nicht über viele Schriftsteller aufstellen kann. Die Geschichten von Verne sind unterhaltend, lehrreich und immer sehr atmosphärisch.
In unregelmäßiger Folge wird mein Verlag die Werke von Verne veröffentlichen – die bekannten wie die unbekannten. Immer in der überarbeiteten Erstübersetzung, um den (sprachlichen) Charme der Zeit beizubehalten.
Korrigiert und kommentiert werden Orts- und Personennamen oder offensichtlich falsche Angaben. Sie finden die Erläuterungen in Fußnoten.
Ich habe es mir auch nicht nehmen lassen, die ursprünglichen Namen zu verwenden: Aus dem Johann wird so wieder der ursprüngliche Jean, aus Ludwig wieder Louis und aus Marianne wieder Marie. Ich denke, das tut den Geschichten nur gut.
Sollten Sie Hilfe benötigen oder eine Frage haben, schreiben Sie mir.
Ihr
Jürgen Schulze
Reise um die Erde in 80 Tagen
Michael Strogoff - Der Kurier des Zaren
Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer
Schwarz-Indien – Oder: Die Stadt unter der Erde
Die fünfhundert Millionen der Begum
Die Abenteuer des Kapitän Hatteras
Beinahe wäre Klein-Jules als Schiffsjunge nach Indien gefahren, hätte eine Laufbahn als Seemann eingeschlagen und später unterhaltsames Seemannsgarn gesponnen, das vermutlich nie die Druckerpresse erreicht hätte.
Jules Verne
Verliebt in die abenteuerliche Literatur
Glücklicherweise für uns Leser hindert man ihn daran: Der Elfjährige wird von Bord geholt und verlebt weiterhin eine behütete Kindheit vor bürgerlichem Hintergrund. Geboren am 8. Februar 1828 in Nantes, wächst Jules-Gabriel Verne in gut situierten Verhältnissen auf. Als ältester von fünf Sprösslingen soll er die väterliche Anwaltspraxis übernehmen, weshalb er ab 1846 in Paris Jura studiert.
Viel spannender findet er schon zu dieser Zeit allerdings die Literatur. Verne freundet sich sowohl mit Alexandre Dumas als auch mit seinem gleichnamigen Sohn an. Gemeinsam mit Vater Dumas verfasst er Opernlibretti und erste dramatische Werke. Nach dem Abschluss seines Studiums beschließt er, nicht nach Nantes zurückzukehren, sondern sich völlig der Dramatik zu widmen.
Zwar schreibt er nicht ganz erfolglos – drei seiner Erzählungen erscheinen in einer literarischen Zeitschrift. Doch zum Leben reicht es nicht, weshalb der junge Autor 1852 den Posten eines Intendanz-Sekretärs am Théâtre lyrique annimmt. Immerhin wird diese Arbeit zuverlässig vergütet und Verne darf sich als Dramatiker betätigen. In seiner Freizeit verfasst er weiterhin Erzählungen, wobei ihn abenteuerliche Reisen am meisten interessieren.
Als er 1857 eine Witwe heiratet, die zwei Töchter in die Ehe mitbringt, muss sich der Literat nach einer besser bezahlten Einkommensquelle umsehen. Während der nächsten zwei Jahre schlägt er sich als Börsenmakler durch, wobei er genug Zeit findet, längere Schiffsreisen zu unternehmen, bevor 1861 sein Sohn Michel geboren wird.
Verliebt ins literarische Abenteuer
Letztlich ist es einer besonderen Begegnung im Jahr 1862 geschuldet, dass alles, was der Autor bisher »geistig angesammelt« hat, in seinen künftigen Romanen kulminieren darf: Der Jugendbuch-Verleger Pierre-Jules Hetzel veröffentlicht Vernes utopischen Reiseroman »Fünf Wochen im Ballon«. Dieses von ihm ohnehin bevorzugte Sujet wird den Schriftsteller nie wieder loslassen – die abenteuerlichen Reisen, auf welcher Route auch immer sie absolviert werden. Hetzel verlegt Vernes noch heute beliebteste Schriften: 1864 »Reise zum Mittelpunkt der Erde«, im folgenden Jahr »Von der Erde zum Mond«, 1869 »Reise um den Mond« und »Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer«. Mit »Reise um die Erde in 80 Tagen« erscheint 1872 Jules Vernes erfolgreichster Roman überhaupt.
Die Zusammenarbeit mit Hetzel, der gleichzeitig als sein Mentor fungiert, sorgt in den späten 1860er Jahren dafür, dass der höchst produktive Schriftsteller seiner Familie einigen Wohlstand bieten und sich selbst »jugendtraumhafte« Reisewünsche erfüllen kann. Sein Verleger stellt ihn namhaften Wissenschaftlern vor – in Kombination mit den erwähnten Reisen entsteht auf diese Weise ein ungeheurer Fundus der Inspiration: Jules Vernes Zettelkasten enthält angeblich 25.000 Notizen!
Zwar ist er seit »Reise um den Mond« gleichermaßen wohlhabend und geachtet; er engagiert sich seit den späten 1880er Jahren sogar als Stadtrat in Amiens, wohin er 1871 mit seiner Familie übergesiedelt war. Der »Ritterschlag« aber bleibt aus: In der Académie française möchte man den Jugendbuchautor nicht haben, er gilt als nicht seriös genug.
Den Zenit seines Schaffens hat der Literat bereits überschritten, als er 1888 bleibende Verletzungen durch den Schusswaffen-Angriff eines geistesgestörten Verwandten davonträgt. Dennoch arbeitet der Autor ununterbrochen weiter. Als Jules Verne im März 1905 stirbt, hinterlässt er ein gewaltiges Gesamtwerk: 54 zu Lebzeiten erschienene Romane, weitere elf Manuskripte bearbeitet sein Sohn Michel nach dem Tod des Vaters. Ergänzt wird Vernes Œuvre durch Erzählungen, Bühnenstücke und geografische Veröffentlichungen.
Geliebt und missachtet
Jenes zwiespältige Verhältnis, das sich bereits in der Ablehnung der Akademiemitglieder äußert, kennzeichnet die akademische Rezeption bis heute: Jules Verne ist eben »nur ein Jugendbuchautor«. Weniger befangene Rezipienten freilich schreiben ihm eine ganz andere Bedeutung zu, die dem Visionär und leidenschaftlichen Erzähler besser gerecht wird.
Wenngleich der alternde Literat zum Ende seines Schaffens durchaus nicht mehr in gläubiger Technikbegeisterung aufgeht, bleiben uns doch genau jene Werke in liebevoller Erinnerung, in denen technische und menschliche Großtaten die Handlung bestimmen: »Reise um die Erde in 80 Tagen« oder »Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer« beispielsweise. Wer als Kind von Nemo und seiner Nautilus liest, wird unweigerlich gefangen von diesem technischen Wunderwerk und dessen Kapitän. Vernes Romane gehören zu jenen Jugendbüchern, die man als Erwachsener gerne nochmals zur Hand nimmt – und man staunt erneut, erinnert sich, lässt sich wiederum einfangen und fragt sich, warum man eigentlich so selten Verne liest…
So wie der Autor sich selbst durch Reisen und Wissenschaft inspirieren lässt, dienen seine Werke seit jeher der Inspiration seiner Leserschaft. Wie präsent dieser exzellente Unterhalter in den Köpfen seiner Leser bleibt, belegen Benennungen in See- und Raumfahrt: Das erste Atom-U-Boot der Geschichte ist die amerikanische USS Nautilus. Ein Raumtransporter der Europäischen Raumfahrtagentur heißt »Jules Verne«, ein Asteroid und ein Mondkrater tragen ebenfalls den Namen des Schriftstellers. Die »Jules Verne Trophy« wird seit 1990 für die schnellste Weltumsegelung verliehen, was dem begeisterten Jachtbesitzer Verne gewiss gefallen hätte.
Der kommerzielle Literaturbetrieb sowie die Filmwirtschaft betrachten den französischen Vater der Science-Fiction-Literatur ebenfalls mit Wohlwollen: Unzählige Neuauflagen der Romanklassiker, Hörbücher und Verfilmungen der rasanten, stets mitreißenden Handlungen sprechen Bände. Mittlerweile gelten die ältesten Verfilmungen selbst als kulturelle Meilensteine, die keineswegs nur ein junges Publikum erfreuen.
Jules Vernes Bedeutung für die Literatur
Der Einfluss Vernes auf nachfolgende Science-Fiction-Autoren ist gar nicht hoch genug einzuschätzen: Aus heutiger Sicht ist er einer der Vorreiter der utopischen Literatur Europas, der noch vor H. G. Wells (»Krieg der Welten«) und Kurd Laßwitz (»Auf zwei Planeten«) das neue Genre begründet. Seinerzeit gibt es diesen Begriff noch nicht, weshalb Hetzel die Romane seines Erfolgsschriftstellers als »Außergewöhnliche Reisen« vermarktet
Der Franzose sieht, anders als Wells und ähnlich wie Laßwitz, im technischen Fortschritt das künftige Wohl der Menschheit begründet. Trotzdem ist Jules Verne vor allem Erzähler: Er will weder warnen wie Wells noch belehren wie Laßwitz, sondern in erster Linie unterhalten. Im Vergleich zum spröden Realismus eines Wells wirken seine Romane für moderne Leser ausufernd, vielleicht sogar geschwätzig. Dennoch sind sie leichter zugänglich als das stilistisch ähnliche Schaffen des Deutschen Laßwitz, weil sie Utopie und Technikbegeisterung nicht zum Zweck ihres Inhalts machen, sondern lediglich zu dessen Träger: Schließlich ist es einfach aufregend, in einem Ballon eine Weltreise anzutreten oder Kapitän Nemo in sein geheimes Reich zu folgen.
Titelseite der französischen Originalausgabe
Am 28. Oktober 1827 gegen fünf Uhr abends bemühte sich ein kleines levantinisches Fahrzeug, noch vor Einbruch der Nacht den Hafen von Vitylo, am Eingang des Golfs von Coron, zu erreichen.
Dieser Hafen, das Oetylos Homers, liegt an einer der tiefen Einbuchtungen, welche aus dem Ionischen und Ägäischen Meere das Platanenblatt ausschneiden, mit dem man das südliche Griechenland so trefflich verglichen hat. Dieses Blatt nimmt der alte Peloponnes, das Messene der Griechen unserer Tage, ein. Die erste dieser Ausbuchtungen bildet im Westen der Golf von Coron, der sich zwischen Messene und Laconia öffnet. Die zweite, der Golf von Marathon, der die Küste des ernsten Laconia tief einschneidet. Die dritte, der Golf von Nauplia, dessen Gewässer Laconia und Argolis scheiden.
Zu dem ersten der drei Golfe gehört der Hafen von Vitylo. An der Ostküste, im Hintergrunde einer unregelmäßigen Bai liegend, reicht er bis an die letzten Ausläufer des Taygetos heran, dessen Bergkämme das Skelett des Hinterlandes bilden. Die Sicherheit seines Ankergrundes, der bequeme Verlauf der Einfahrtsstraßen und die ihn umgebenden Höhen machen ihn zu einem der besten Zufluchtshäfen dieser von allen Winden der südlichen Meere unausgesetzt gepeitschten Küste.
Das Fahrzeug, welches bei ziemlich frischer Nordnordwestbrise sehr dicht am Winde segelte, konnte von den Hafendämmen Vitylos nicht erkannt werden, da dasselbe noch eine Entfernung von sechs bis sieben Meilen von demselben trennte. Da das Wetter aber ausgezeichnet klar war, hob sich doch der Rand seiner oberen Segel deutlich von dem leuchtenden Hintergrund des äußersten Horizonts ab.
Was aber von unten nicht sichtbar war, konnte doch von oben, das heißt von dem Gipfel der Höhenzüge, gesehen werden, welche das Dorf umgrenzen. Vitylo ist in Gestalt eines Amphitheaters auf abschüssigen Felsen erbaut, welche die alte Akropolis von Kelapha verteidigt. Darüber erheben sich noch einige alte, zerfallene Türme von jüngerem Ursprung als jene merkwürdigen Überreste eines Tempels der Seraphis, desse Säulen und Capitäle von ionischer Ordnung noch heute die Kirche von Vitylo zieren. Neben jenen Türmen stehen auch noch zwei oder drei kleine, wenig besuchte Kapellen, in welchen fromme Mönche den Kirchendienst versehen.
Es ist hier von Wichtigkeit, auf die Bezeichnung »den Kirchendienst versehen« und selbst auf die Qualifikation eines Mönches, welche diese Geistlichen der messenischen Küste sich zulegen, zu achten. Einer derselben, der soeben seine Kapelle verließ, wird sogleich dem Leser näher vor Augen treten.
Zu jener Zeit war die Religion in Griechenland noch ein eigentümliches Gemisch von heidnischen Sagen und christlichen Glaubenssätzen. Viele Gläubige betrachteten die Gottheiten des Altertums noch gewissermaßen als Heilige der neuen Religion. In der Tat, wie das Henry Belle schildert, vermengen sie die Halbgötter mit den Heiligen, die Kobolde der bezaubernden Täler mit den Engeln des Paradieses und rufen ebenso die Sirenen und Furien an, wie sie noch Brotopfer darbringen. Diese Umstände haben gewisse merkwürdige Gebräuche eingeführt, welche andere zum Lachen reizen, während die Geistlichkeit große Mühe hat, dieses wenig orthodoxe Chaos zu entwirren.
Während des ersten Viertels dieses Jahrhunderts – es ist einige fünfzig Jahre her und die Zeit, mit welcher unsere Erzählung beginnt – war der Clerus der griechischen Halbinsel noch unwissender, und die sorglos dahinlebenden, naiven, zutraulichen Mönche, »gute Kinder«, schienen sehr wenig geeignet, die von Natur abergläubische Bevölkerung auf rechte Wege zu leiten.
Und wenn diese niederen Kirchendiener nur allein unwissend gewesen wären! In gewissen Gegenden Griechenlands aber, vorzüglich in den wilden Distrikten von Magne, scheuten die armen Teufel, von Natur und aus Not schon Bettler und gierig auf die paar Drachmen, welche mitleidige Reisende ihnen zuwarfen, ohne alle Beschäftigung, außer etwa der, den Gläubigen das gefälschte Bildnis eines Heiligen zum Kusse darzureichen oder eine ewige Lampe in irgendeiner Grotte zu unterhalten, dazu verstimmt über den geringen Ertrag ihrer Pfründen, der Beerdigungen und der Taufen, nicht davor zurück, die Auflauerer – und was für Auflauerer – im Solde der Bewohner des Küstengebietes zu spielen.
Die Seeleute von Vitylo, welche am Hafen umherlungerten wie dei Lazzaronis, welche gleich mehrere Stunden Ruhe brauchen, um sich von der Arbeit während einiger Minuten zu erholen, erhoben sich doch rasch, als sie einen ihrer Mönche, die Arme heftig bewegend, schnellen Schrittes nach dem Dorfe hinabsteigen sahen.
»Was gibt’s denn, Vater, was ist denn los?«
Es war das ein Mann von fünfzig bis fünfundfünfzig Jahren, der nicht nur dick, sondern fett war von jenem Fette, das der Müßiggang erzeugt, und dessen schlaue Physiognomie1 nur sehr mittelmäßiges Vertrauen einzuflößen vermochte.
»Was gibt es denn, Vater, was ist denn los?« fragte einer der Seeleute, der ihm entgegenging.
Der Vityliner sprach mit so näselndem Ton, dass man Nason hätte für einen Vorfahren der Hellenen halten können, und dazu jene maniatische Mundart, in der sich das Türkische mit dem Italienischen mischte, als rühre dasselbe aus der Zeit des Turmbaues von Babel her.
»Haben die Soldaten Ibrahims etwa die Höhen des Taygetos besetzt?« fragte ein anderer Seemann mit sehr sorgloser Geste, welche eben nicht viel Patriotismus verriet.
»Wenns nicht gar Franzosen sind, mit denen wir es zu tun haben«, erwiderte der erste Sprecher.
»Na, die sind einander wert!« bemerkte ein dritter.
Diese Äußerung bewies, dass der Kampf, welcher damals gerade am heftigsten wütete, die Bewohner des untersten Peloponnes nur sehr wenig berührte, sehr verschieden von den Maniaten des Nordens, welche sich im Unabhängigkeitskriege so rühmlich hervortaten.
Der dicke Geistliche vermochte aber weder dem einen, noch dem anderen Antwort zu geben. Er war von dem Herabklettern über die steilen Abhänge noch ganz außer Atem. Seine asthmatische Brust keuchte. Er wollte sprechen, konnte es aber nicht. Einer seiner Ahnen im alten Hellas, der Soldat von Marathon, hatte doch wenigstens, noch ehe er starb, den Sieg des Miltiades verkünden können. Doch es handelte sich hier weder um Miltiades noch um den Kampf der Athener gegen die Perser. Es waren kaum Griechen, diese verwilderten Bewohner der untersten Spitze von Magne.
»So sprich doch, Vater, sprich doch!« rief der alte Seemann, namens Gozzo, der sich ungeduldiger als die anderen gebärdete, als hätte er schon erraten, was der Mönch verkünden wollte.
Endlich hatte dieser sich wieder etwas beruhigt. Da streckte er die Hand nach dem Horizont aus und rief:
»Ein Schiff in Sicht!«
Auf diese Meldung hin sprangen die Tagediebe alle auf, klatschten in die Hände und stürmten nach einem Felsen, der den Hafen überragte. Von hier aus konnten sie das Meer in weitem Umkreis sehen.
Ein Fremdling hätte glauben können, dass diese Bewegung nur hervorgebracht würde durch das Interesse, welches jedes von der See herkommende Fahrzeug naturgemäß Seeleuten einflößen muss, denen so etwas ja besonders angeht. Das wäre aber eine falsche Annahme gewesen oder war es vielmehr; wenn dies ein Interesse dieser Leute aufzustacheln vermochte, war das doch ein solches ganz spezieller Art.
In der Tat ist Magne, jetzt wo wir diese Erzählung niederschreiben – nicht zurzeit, als die darin geschilderten Vorfälle sich ereigneten – noch immer ein von Griechenland halb abgesonderter Landstrich, ein unabhängiges Königreich, geschaffen durch den Beschluss der europäischen Großmächte, welche 1829 den Vertrag von Adrianopel unterzeichneten. Die Maniaten, oder mindestens diejenigen derselben, welche auf den verlängerten Landausläufern zwischen den Golfen wohnen, sind noch halbe Barbaren geblieben, welche sich mehr um ihre persönliche Freiheit, als um die des Landes bekümmern. Diese äußerste Zunge des unteren Moreas ist von jeher auch kaum zur Botmäßigkeit zu bringen gewesen. Weder die türkischen Janitscharen, noch die griechischen Gensdarmen haben sie zu bezwingen vermocht. Streitsüchtig und rachbegierig, oft in Familienzwistigkeiten verwickelt, welche nur durch Blut ausgetragen werden können, Räuber von Geburt und doch gastfreundlich, Mörder, wenn der Raub einen Mord bedingt, nennen sich deshalb die rohen Bergvölker nicht weniger die direkten Nachkommen der Spartaner; aber eingeschlossen in die Verzweigungen des Taygetos, in dem man zu tausenden jene kleinen Befestigungen oder »Pyrgos«, welche kaum zu erklimmen sind, findet, spielen sie gar zu gern die zweifelhafte Rolle jener Wegelagerer des Mittelalters, die ihre Feudalrechte mit Dolch und Pistole übten.
Wenn die Maniaten zur Stunde auch noch halb wild sind, so mag man sich vorstellen, was dieselben vor nun fünfzig Jahren sein mochten. Ehe die Kreuzfahrten der Dampfschiffe ihren Raubzügen zur See ein Ziel setzten, traten sie während des ersten Viertels dieses Jahrhunderts als die verwegensten Seeräuber auf, welche die Handelsfahrzeuge in allen Stapelplätzen des Morgenlandes nur zu fürchten hatten.
Gerade der Hafen von Vitylo erschien durch seine Lage am Ende des Peloponnes, am Eingang zweier Meere, durch die Nähe der den Seeräubern wohlbekannten Insel Cerigotto, höchst geeignet, sich allen Übeltätern zu öffnen, welche den Archipel und die benachbarten Gegenden des Mittelmeeres unsicher machten. Der Zentralpunkt der Bewohnerschaft dieses Teils von Magne hieß speziell das Land von Kakovonni, und die Kakovonnioten, welche zu beiden Seiten der Landspitze siedelten, welche mit dem Kap Matapan2 ausläuft, hatten es bequem, ihre Untaten auszuführen. Auf dem Meer überfielen sie die Schiffe; an das Land lockten sie dieselben durch falsche Signale. Überall plünderten und verbrannten sie dieselben. Ob deren Besatzung nun eine türkische, maltesische, ägyptische oder selbst eine griechische war, das kümmerte sie nicht; sie wurde ohne Erbarmen niedergemetzelt oder nach den Barbareskenstaaten3 in die Sklaverei verkauft. Gab es einmal eine Zeit lang nichts zu tun, und wurden die Küstenfahrer in der Bucht von Cerigo oder dem Kap Gallo seltener, so stiegen öffentliche Gebete auf zu dem Gott der Stürme, damit dieser sich herabließe, ein Schiff von großem Tonnengehalt und mit reicher Ladung in ihre Hand zu geben. Die Mönche schlugen es auch nicht ab, diese Gebete zum Nutzen ihrer Gläubigen zu zelebrieren.
Jetzt hatte es seit mehreren Wochen nichts zu plündern gegeben. Kein Schiff war an der Küste von Magne angelaufen. Deshalb verursachte es einen wirklichen Ausbruch der Freude, als der Mönch jene von asthmatischem Keuchen unterbrochenen Worte ausgerufen hatte:
»Ein Schiff in Sicht!«
Sofort erschallten die dumpfen Schläge des Simanders, einer Art Glocke aus Holz mit eisernem Klöppel, welche in den Provinzen in Gebrauch ist, wo die Türken die Verwendung von metallenen Glocken nicht zuließen. Die klanglosen Schläge genügten jedoch, die habgierige Bevölkerung zusammenzurufen, Männer, Frauen, Kinder, herrenlose furchtbare Hunde, alle begierig zu plündern und wenn nötig zu morden.
Inzwischen verhandelten die auf dem Felsen vereinigten Vityliner mit großer Lebhaftigkeit. Welcher Art Fahrzeug war es, das der Mönch ihnen anmeldete? Mit der nordnordwestlichen Brise, die beim Einbruch der Nacht noch auffrischte, glitt das Schiff mit Backbordhalsen schnell dahin. Es schien möglich, dass es beim Lavieren das Kap Matapan ziemlich streifte. Seinem Kurs nach schien es aus der Gegend von Kreta zu kommen. Schon begann sein Rumpf sich zu zeigen über dem weißen Kielwasser, das es hinter sich ließ; seine Segel alle bildeten jedoch für das Auge eine unkenntliche Masse. Es war also schwierig zu sagen, welcher Klasse das Fahrzeug angehören möge, was auch die verschiedensten, von einer Minute zur anderen sich widersprechenden Äußerungen veranlasste.
»Es ist eine Schebeke«, erklärte einer der Seeleute, »ich sehe ihre viereckigen Segel am Fockmast!«
»Nein«, erwiderte ein anderer, »es ist eine Pinke! Man sieht ja den erhöhten Achter und starkgekrümmten Vordersteven!«
»Schebeke oder Pinke! Wer könnte dieselben auf eine solche Entfernung unterscheiden?«
»Sollte es nicht vielmehr eine Polake mit viereckigen Segeln sein«, bemerkte ein anderer Seemann, der aus den halbgeschlossenen Händen sich eine Art Fernrohr gemacht hatte.
»Gott helfe uns!« antwortete der alte Gozzo. »Polake, Schebeke oder Pinke, jedenfalls sinds drei Maste, und drei Maste sind allemal besser als zwei, wenn sichs darum handelt, hier bei uns mit einer tüchtigen Ladung Wein aus Candia oder mit Stoffen aus Smyrna zu landen!«
Nach dieser weisen Bemerkung blickten alle mit noch größerer Aufmerksamkeit hinaus.
Das Schiff näherte sich und schien allmählich zu wachsen; weil es aber so dicht am Winde fuhr, konnte man es nicht von der Seite sehen. Es wäre also schwierig gewesen, zu sagen, ob es zwei oder drei Maste führte, das heißt, ob sein Tonnengehalt ein größerer oder ein geringerer sein werde.
»Oh, das Unglück verfolgt uns, und der Teufel hat sein Spiel!« rief Gozzo, indem er noch einen Fluch hinzusetzte, mit dem er alle Sätze zu verstärken pflegte. »Das Ding ist weiter nichts als eine Feluke …«
»Oder gar nur eine Speronare!« rief der Mönch nicht weniger enttäuscht als seine Zuhörer.
Dass diese beiden Bemerkungen mit nicht sehr wohlwollenden Rufen aufgenommen wurden, braucht wohl kaum versichert zu werden. Aber welcher Art das Fahrzeug auch war, so konnte man doch schon beurteilen, dass es höchstens hundert bis hundertfünfzig Tonnen messen konnte. Freilich kam es ja nicht auf die Menge der Ladung an, wenn diese sonst eine wertvolle war. Man trifft einfache Feluken oder selbst Speronaren, welche eine Fracht an kostbaren Weinen, feinen Ölen oder teuren Geweben führen. In solchen Fällen verlohnt es sich schon der Mühe, sie zu plündern, denn sie geben oft reiche Beute für geringe Mühe. Zu verzweifeln war also noch nicht. Dazu entdeckten die älteren Leute der Bande, dass das Schiff ein gewisses elegantes Äußeres hatte, welches, langjähriger Erfahrung nach, immerhin zu seinen Gunsten sprach.
Schon begann die Sonne hinter dem Horizont im Westen des ionischen Meeres zu verschwinden; die Oktoberdämmerung musste jedoch noch eine Stunde lang hinreichendes Licht verbreiten, um das Schiff vor Einbruch völliger Dunkelheit zu erkennen. Nachdem dasselbe das Kap Matapan umsegelt, wendete es sich um zwei Viertel, um besser in den Golf einlaufen zu können, und zeigte sich damit den Beobachtern in bequemer Stellung. Gleich nachdem dies geschehen, entfuhr auch schon den Lippen des alten Gozzo das Wort »Sacoleve«!
»Eine Sacoleve!« wiederholten seine Genossen, welche ihrem Unmut durch rohe Flüche Luft machten.
Über den Gegenstand wurde indessen nicht weiter gesprochen, weil Zweifel über denselben nicht obwalten konnten. Das Fahrzeug, welches dem Golfe von Coron zusteuerte, war sicherlich eine Sacoleve. Übrigens taten die Leute aus Vitylo sehr unrecht, gleich über Unglück zu schreien. Es ist gar nicht selten, dass man gerade auf diesen Sacoleven sehr kostbare Ladungen antrifft.
Man bezeichnet mit diesem Namen übrigens ein levantinisches Fahrzeug von mittlerem Tonnengehalt, dessen Verdeck einen gedrückten Bogen bildet, indem es sich nach hinten zu ein wenig erhebt. Auf seinen schlanken Masten trägt es mannigfaches Segelwerk. Der stark nach vorn geneigte, in der Mitte stehende Großmast hat gewöhnlich ein lateinisches Segel, ein Rot-, ein Mars-und ein Topsegel. Zwei Klüversegel vorn, zwei sehr spitze an den beiden Hintermasten vervollständigen seine Takelage,4 die ihm einen auffallenden Anblick verleiht. Die lebhaften Farben des Rumpfes, die Ausbiegung des Vorderstevens, die Verschiedenheit der Maste, die fantastische Gestalt seiner Segel selbst stempeln es zu einem der merkwürdigsten Muster jener schlanken Fahrzeuge, welche man zu hunderten in den engen Wasserstraßen des Archipels manövrieren sieht. Es gewährte einen wirklich schönen Anblick, das leichte Fahrzeug sich bäumen und mit der Welle wieder aufrichten zu sehen, wenn es sich mit weißem Schaum bekränzte oder mühelos fast hüpfte, gleich einem ungeheuren Vogel, dessen Flügel das Meer streiften und dessen Gefieder in den letzten Strahlen der Abendsonne schimmerte.
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