Die Fuge der Liebe

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Die Fuge der Liebe
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Zur Handlung

Der junge Schweizer Arzt Josch Vonstahl begibt sich auf eine Urlaubsreise nach Berlin. Er will seinen früheren Klavierlehrer und Freund, den renommierten Musikpädagogen Professor Siegfried Gottesmann besuchen. Bereits während der Bahnreise erfährt Vonstahl vom unerwarteten Tod Gottesmanns, zwei Tage vor den Feierlichkeiten zum zweihundertsten Geburtstag Schumanns. Ohne zu zögern beschliesst der Arzt, an den Feierlichkeiten teilzunehmen und reist von Berlin nach Zwickau weiter. Dort erfährt er an einem Konzert, dass der verstorbene Professor an der Tonfolge einer verschollen geglaubten Fuge Schumanns gearbeitet hat, an einer Klangschöpfung des Komponisten aus der Zeit seiner Internierung in der Irrenanstalt Endenich bei Bonn. Während des Konzerts steckt ihm eine junge Frau einen Zettel mit einer rätselhaften Notenschrift zu. Er erkennt in der Gestalt flüchtig die Enkelin des verstorbenen Musikprofessors. Zurück in Berlin informiert er sich über Schumanns Aufenthalt in der Nervenheilanstalt. Die Lektüre der Dokumente aus der damaligen Zeit und die erneute Begegnung mit der Enkelin beflügeln den Arzt, sich auf die Suche nach der Fuge zu begeben. Als er realisiert, dass nicht nur die bezaubernde Enkelin, sondern auch zwei zwielichtige Agenten eines renommierten Notenverlags und schliesslich sogar das Kriminalkommissariat Berlin Mitte hinter der Fuge her sind, befindet er sich bereits in einem Strudel verwirrender Ereignisse, die ihn in eine Welt aussergewöhnlicher Erfahrungen und schliesslich an den Rand des Wahnsinns treiben werden.

Zum Autor

J.L. de la Cuadra wurde 1948 in Bern, Schweiz, geboren. Nach einer missglückten Ausbildung zum Konzertpianisten in Paris entschied er sich als zweite Berufswahl zu einem Studium in Humanmedizin. Er doktorierte in Psychiatrie und betrieb eine internistisch-hämatologische Arztpraxis in Bern. Seine Liebe zur Musik ist ihm erhalten geblieben.

Die Fuge der Liebe

Roman

Für Cristina

Impressum

Fuge der Liebe

José Luis de la Cuadra

published by: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

Copyright: © 2014 José Luis de la Cuadra

ISBN 978-3-8442-9654-9

Teil 1

Düsseldorf, 27. Februar 1854

Es regnet in Strömen. Der Mann irrt wankenden Schrittes durch die Gassen. Er ist durchnässt. Die Regentropfen perlen über sein verzerrtes Gesicht. Der Wind bläht das lose Hemd. Eine schäbige Hose klebt wie Pappe an den stolpernden Beinen. Er trägt Hausschuhe. Sie klatschen und spritzen in den Pfützen. Unbeirrt humpelt der Mann seinem Ziel entgegen, das Gesicht entstellt. Speichelfäden rinnen über seine aufgeschwollenen Lippen. Der Ausdruck seiner Züge verrät Wahnsinn. In seinem Kopf dröhnt Lärm. Irre Klänge, quälende Gesänge, tosende Orchester. Dazwischen Engelsstimmen, die in seinem Innern eine unwiderstehliche Sehnsucht auslösen. Todessehnsucht.

Es muss sein. Welche Freude, seiner Verzweiflung zu entkommen, von seinem unerträglichen Leben erlöst zu werden! Welch ein erbauliches Gefühl, alles zurück zu lassen und den unheimlichen Stimmen zu entrinnen, die ihn verfolgen, sein Gehirn zermartern und seine Kompositionen zerstören!

Sinnestäuschungen bedrohen ihn und seine Familie, seine Kinder, seine Frau. Sie ist die Botschafterin seines Schaffens, die Frau, die ihn über die Landesgrenzen hinaus berühmt gemacht hat, eine begabte Pianistin, die seine Werke versteht. Er muss sie verlassen, trotz der Liebe, die er für sie empfindet. Oder gerade deshalb. Seine Gewaltausbrüche sind Bedrohung und Schande, und ... sie will ihn nicht mehr.

In der vorigen Nacht hat ihm ein Engel eine wundervolle Melodie überbracht, ein Thema, weich im Ton und lieblich im Klang. Es war ein entrückender Augenblick. Der sanfte Engel rührte ihn zu Tränen. Er musste die Tonfolge sofort festhalten und Variationen darüber schreiben, das Werk zur Vollkommenheit bringen.

Und dann, mitten in seinem Schaffen übermächtige Dämonen. Sie befahlen ihm, sein Leben zu beenden.

Welche Erniedrigung, welche Demütigung für den grossen Komponisten und viel bewunderten Musiker! Es ist das Ende. Sein Schädel ist übervoll, er schmerzt und droht zu bersten. Schwindelanfälle brechen seine Würde. Unerträgliches Schwirren, Durcheinander von Lärm und Wohlklang. Ueberwältigende Sehnsucht nach Erlösung. Es muss sein.

Der Wind erhebt sich zum Sturm. Der Regen trommelt wild. Heftige Donnerschläge bringen die Luft zum Beben. Es ist Nacht. Passanten blicken erstaunt auf die merkwürdige Gestalt, die zu sich selber spricht und plötzlich schreit und krächzt. Niemand erkennt den Mann. Er hält seinen linken Arm schützend vor sein schmerzverzerrtes Gesicht. Die wenigen Strassenlaternen werfen nur wenig Licht und spiegeln sich in den Pfützen. Der Mann ist geblendet, er sieht Blitze. Wo ist die Brücke, die ihn zum Ende dieses Albtraums führen wird?

Sein Schritt verlangsamt sich. Der Regen peitscht das Wasser wie Nadeln in die Augen. Durch das Blinzeln seiner Lider hindurch kann er in der Ferne knapp die Schiffsbrücke über den Rhein erkennen. Oder ist es wieder eine Sinnestäuschung? Er kennt die Wirklichkeit nicht mehr. Sein Leben scheint sich aufzulösen. Alles fliesst übereinander und ineinander. Die Melodien seiner Kompositionen vernetzen und verkeilen sich. Sie wachsen zu bedrohlichen Klangkörpern. Die Musik teilt sich in Fragmente. Er erkennt sein eigenes Schaffen nicht mehr, ist nicht mehr Herr seiner Sinne. Fremde Stimmen treiben ihn voran. Sie rauben seinen Willen und geben Befehle.

Noch letzte Woche hat er sich mit dem Verlagshaus H. und B. über den Preis seiner letzten Klavierstücke geeinigt. Sie sollen gedruckt werden. Seine liebe Frau hat die Kompositionen bereits seinen Freunden vorgetragen. Man war sich einig, dass hier etwas Neues und Einzigartiges entstanden war. Und nun? Abschied nehmen, alles zurücklassen. Ein verkrampfter Schrei entweicht seiner Kehle und löst einen kräftigen Schüttelanfall aus. Der Mann stürzt beinahe. Passanten wollen ihm helfen. Er wehrt ab. Nur weiter. Noch bis zur Brücke.

„Helft mir, Dämonen, die ihr mein Ende verlangt! Ich bin euer gehorsamer Diener. Ich bin auf dem Weg, meine Pflicht zu erfüllen.“

Wildes Rauschen vom nahenden Rhein vermischt sich mit der dröhnenden Musik in seinem Kopf. Die Erlösung naht. Der Mann steht nun vor dem Zollbeamten der Schiffsbrücke. Er hält inne.

Plötzliche Ruhe. Die Engelsmelodie bahnt sich ihren Weg. Verzückung. Das Thema, verführerisch und unwiderstehlich! Seine Frau hat es als wundervoll rührend und fromm empfunden. Sie versteht ihn, kann bis tief in seine Seele blicken und glaubt an ihn. Aber sie hat nur Zugang zum Guten. Wie kann sie wissen, was in seinem Inneren geschieht? Er kann es selbst nicht verstehen. Alle diese fremden Kräfte, die in ihn eindringen und seine heile Welt bedrohen! Immerzu fordernd, quengelnd, drängend. Er hat lange gegen sie angekämpft. Er wollte sie verbannen, wieder zurückfinden zu seinem früheren Leben. Aber sie waren übermächtig. Sie gebärdeten sich wie klebrige Kreaturen, liessen sich nicht mehr abschütteln. Sie drängten sich in seine Träume, krallten sich an sein Bewusstsein. Und wehe, er gehorchte nicht. Sofort bestraften sie ihn mit einem Schüttelanfall. Dann quoll das Böse in Form wilder Schreie aus seiner Kehle. Es muss ein Ende haben!

Der Zollbeamte fuchtelt mit den Armen. Was will er? Geld? Der Mann hat kein Geld, nicht eine Münze. Soll er für seine tödliche Mission bezahlen? Das Engelsthema drängt ihn vorwärts. Es will ihn seiner Erlösung zuführen. So soll es sein. Er winkt dem Zollbeamten mit einem weissen Taschentuch zu, wie zum Gruss, zum Abschiedsgruss, und dann betritt er die in den Wellen tanzende Schiffsbrücke.

Die Fischer, die am Rand des Rheins bei ihren Booten stehen, staunen ob dem eigenartigen Geschehen. Was will der Mann zu dieser späten Zeit auf der Schiffsbrücke? Sie wird bald geöffnet, um ein Schiff passieren zu lassen.

Der Zollbeamte steht an seinem Wachposten und fuchtelt unaufhörlich mit den Armen, als wollte er die guten Geister zu Hilfe rufen. Und überhaupt, ist das nicht ... ? Nein, das kann nicht sein! Und doch gibt es kaum einen Zweifel, dass dort der Kompositeur von der Bilkerstrasse auf der Schiffsbrücke dahintorkelt. Herrje, er springt in die reissenden Fluten!

Schnell ergreifen die Fischer einen Kahn und schieben ihn mit kräftiger Wucht in den Rhein. Gegen Wind und Wellen ankämpfend nähern sich die Männer der Stelle, wo der Mann gesprungen ist. Im Lichtschein eines Blitzes erkennen sie den Schopf des Unglücklichen, der von Wasser umspült wird. Mit ihren Armen fassen sie den Ertrinkenden und hieven ihn in den Kahn. Er wehrt sich, will nicht geborgen werden. Er flucht und schreit, beschimpft sie auf die übelste Weise. Nennt sie Teufel und Gesandte der Hölle. Er speit und spuckt, versetzt ihnen wilde Schläge.

Schon versucht er wieder, sich in die reissenden Fluten zu stürzen. Die Fischer packen zu und halten ihn fest. Er gebärdet sich wie ein Ungeheuer, wie ein wütender Krake. Sein Gesicht ist zur Fratze entstellt, der Atem stockt. Er spricht wirres Zeug. Beginnt plötzlich zu zittern. Seine Glieder versteifen sich, Schaum quillt aus seinem Mund. Nach heftigen Zuckungen tritt unerwartet eine seltsame Ruhe ein, gefolgt von Stöhnen. Der Körper erschlafft.

Der Kahn fährt ans Ufer. Die Fischer tragen den Mann an Land und legen ihn auf eine Wiese am Rand des Flusses. Eine riesige Menschenmenge hat sich inzwischen um den Brückenkopf herum gesammelt. Ein Raunen erfüllt die Nacht. Man munkelt und flüstert. Ja, es ist der geschätzte und verehrte Meister. Was ist aus ihm geworden? Man hat ihn lange nicht gesehen und es wurde berichtet, dass er seit Längerem an Hörstörungen litt, gewalttätig war, zu viel trank, seine Frau zur Verzweiflung brachte. Es soll einen riesigen Ehekrach gegeben haben.

 

Schon regt sich der Mann wieder und beginnt zu schimpfen. Die Fischer stürzen sich erneut auf ihn, stellen ihn auf die Beine und packen ihn von allen Seiten. Er darf nicht entwischen. Er gehört nach Hause zu Frau und Kinder. Sie müssen sich schrecklich sorgen und bestimmt suchen sie ihn. Welche Schande für die angesehene Familie!

Und so setzt sich der Menschenzug in Gang. Zuvorderst der verwilderte Mann, gehalten und geführt durch die Fischer, gefolgt von der teils entsetzten, teils belustigten Masse des Volkes. Die Szene hat etwas Unwirkliches an sich.

Der Regen hat aufgehört. Eine frische Brise schleicht sich durch die Gassen. Der Mond bahnt sich einen Weg durch die sich teilenden Wolken. Es herrscht eine eigenartige Ruhe. Gespenstischer Friede. Das Raunen der Stimmen und die regelmässigen Schritte des Menschentrosses belegen die Gassen Düsseldorfs mit einer sanften Rhythmik.

Der Mann hat sich beruhigt und folgt willig den Anordnungen seiner Retter. Er fügt sich in das Unausweichliche, leise zitternd. Die Scham ist ihm ins Gesicht geschrieben. Jetzt sind es Tränen, die zu Boden kullern. Tränen der Resignation und des Schmerzes. Er hat die Treue zu seiner Frau verraten. Vor dem Sprung ins Wasser hat er seinen Ehering in die tosenden Fluten geworfen. Eine schändliche Tat. Ein Akt der Vergeltung angesichts der Zurückweisungen seiner Frau. Sie würde sofort merken, dass der Ring an seinem Finger fehlt. Ein stechender Schmerz durchfährt seinen Körper. Er knickt ein und schwankt so heftig, dass seine Begleiter fürchten, er könnte wieder davonlaufen. Sie halten ihn mit aller Kraft fest.

Nein, nicht weiterhin diese Qualen durchleben! Nicht nochmals die Schande des Scheiterns. Es muss einen anderen Weg geben, um Frau und Kinder zu schützen. Die bösen Geister verlangen Gewalt von ihm. Er will das nicht. Ein schrecklicher Kampf.

Der Engel hat ihm das liebliche Thema geschenkt, als wollte er ihn beruhigen und friedlich stimmen. Er war bereits an der Reinschrift der Variationen, als ihn plötzlich diese Todessehnsucht überfiel.

Jetzt muss zu Ende geführt werden, was ihm der Engel aufgetragen hat. Er muss die Kraft seiner Musikschöpfung noch einmal spüren, das Thema weiter bearbeiten, es zur Fuge steigern. Ein krönendes Opus posthum. Eine Erinnerung an den grossen Komponisten! Ein Vermächtnis.

Ein Hauch von Glückseligkeit durchströmt ihn.

Er muss sich in eine Anstalt für Irre und Nervenkranke einweisen lassen. Dort kann er zur Ruhe kommen, seine Kompositionen zu neuem Leben erwecken. Sicher vor sich und seine Familie vor ihm. Was heute geschehen ist, ist mehr als eine Gehörsstörung, mehr als Sinnestäuschung, mehr als die unsägliche Melancholie, die ihn schon seit Jahren begleitet.

Er wird mit seinem Arzt, dem guten Dr. Haslebner sprechen und ihm vorschlagen, ihn einzuliefern. Wie oft hat er ihn schon darum gebeten! Aber seine Frau hat sich bisher dagegen gewehrt. Sie will ihn nicht loslassen, obwohl sie seiner überdrüssig ist, obwohl er ihren Ambitionen, ihrer Pianistenkarriere im Wege steht. Sie bangt um ihren Ruf. Die Ehe ist am Ende. Diesmal wollte er sich selbst richten, aber ein nächstes Mal könnte sich die Wut an ihr entladen. Das darf er nicht zulassen! Er muss in Sicherheit gebracht und weggesperrt werden. Für immer und ewig. Bis der Tod ihn befreit und sein Werk wieder in vollem Glanze erscheinen kann.

Hier steht der Mann nun vor seinem Heim. Der Volkstross ist angekommen und wartet gespannt auf die weiteren Ereignisse. Gestalten bewegen sich hinter den Jalousien der beleuchteten Zimmer. Die Türe öffnet sich und Dr. Haslebner schreitet dem Zurückgekehrten mit ernster Miene entgegen. Sorgenfalten und Entsetzen - oder ist es Mitleid? - in seinem Gesicht. Er drückt ihn an sich und führt ihn ins Haus. Retter und Meute bleiben zurück und beginnen sich wild gestikulierend zu entfernen.

Im Innern des Hauses legt Dr. Haslebner den erschöpften und durchnässten Musiker ins Bett. Ein Wärter wird neben ihm wachen. Seine Frau und seine Kinder werden nicht zu ihm gelassen, um ihn nicht weiter zu erregen. Sie sind ausgezogen und werden andernorts nächtigen. Welche Schande, welche Verachtung! Ist es die gerechte Strafe für sein Tun?

Die tiefe Nacht des Schlafes umarmt ihn.

Der Morgen beginnt friedlich. Der Mann liegt in Gedanken versunken im Bett, das Gesicht verklärt, die Augen geschlossen. Er hört die Schritte seines Wärters in der knarrenden Diele. Sie geben ihm Sicherheit, man bewacht ihn. Es wird leise geflüstert. Ein schmaler Sonnenstrahl drängt sich in die Stube und wärmt seine Stirne. In seinem Kopf erklingen süsse Klänge, dann verzerrte Melodien, wirr und ungeordnet. Erinnerungsfetzen spalten die Harmonien und durchmischen sich mit lauten Stimmen. Noten kreisen umher, entweichen in schwindelnde Höhen und senken sich in tiefe Abgründe. Rauschen bemächtigt sich seiner Ohren und steigert sich zur Unerträglichkeit. Heftige Aufregung, Angst, Verzweiflung. Dann Aufwallen von Gefühlen, Aufbäumen starker Emotionen.

Plötzlich erhebt sich ein riesiger Klangkörper und will ihn, gleich einem Strom, fortreissen. Das Engelsthema ergreift in gläserner Klarheit von ihm Besitz. Mit Tränen in den Augen und halb benommen setzt sich der Mann an die Bettkante und begibt sich zu seinem Schreibtisch. Er setzt sich vor die begonnene Reinschrift seiner Komposition und führt zu Ende, was er sich vorgenommen hat. Sein letztes Werk.

Nach der Vollendung der Notenschrift stellt sich eine unbeschreibliche Plastizität seines Bewusstseins ein. Es entsteht etwas Neues, noch nie Dagewesenes in seinem Innern. Die Engelsmusik entlockt ihm die höchsten Gefühle und eine tiefe Glückseligkeit. Nun sieht er es ganz klar: Es ist der Wahnsinn seiner Gedanken, der ihn zum Höhenflug seines Schaffens führt.

Wo steckt das Geheimnis? Ist es die Tonfolge dieses ihm vom Himmel gesandten Themas? Ist es die Spannung zwischen den Klängen? Oder ist es die Spreizung der Harmonien, die er plötzlich wahrzunehmen glaubt?

Und auf einmal liegt es auf der Hand, wohin ihn seine Verrücktheit führen wird und wo der Sinn seiner Seelenstörung verborgen ist. Seine Musik birgt eine okkulte Kraft, die sowohl zerstörerisch als auch schöpferisch wirkt. Er muss diesen gefährlichen Weg gehen und das Schöpferische über das Zerstörerische siegen lassen. Er muss die Tonfolge seines geliebten Themas zur Fuge weiterentwickeln, bis er die nötige Kraft und Macht erlangt, um die Dämonen dieser Welt zu zerstören. Und dazu braucht er die Ruhe und Geborgenheit einer Nervenanstalt. Das Irresein soll zum Triumph der Musik werden!

Der Drang zur Eile steigert sich plötzlich ins Unermessliche. Eine freudige Erregtheit überfällt den Mann. Er zeichnet die ins Reine geschriebenen Variationen mit einer Widmung an seine Frau, ruft den Wärter und bittet ihn, die Schrift möglichst rasch seiner Gattin zu überbringen. Er führt jetzt Höheres im Schilde. Er will seiner Frau wieder würdig sein. Er will ihre Liebe zurückerobern und ihr seine Liebe zurückgeben, die er ihr geraubt hat.

Der Musiker hat sich ermüdet und er legt sich hin. Er ist sich gewiss, dass sich die Dinge zum Guten entwickeln werden. Es scheint, dass nun alles geregelt ist. Ruhe und Ordnung sind eingekehrt. Herrliche Musikklänge begleiten einen erholsamen Schlaf.

Pochen, wildes Pochen, krächzende Stimmen, verzerrte Bässe wecken den Mann. Er schreckt auf, schreit wild nach dem Wärter und verlangt nach Dr. Haslebner. In wenigen Minuten steht dieser vor ihm und muss eine Schimpftirade über sich ergehen lassen. Dabei versteht er kaum ein Wort des Erregten. Endlich begreift Dr. Haslebner, worum es geht. Der Kompositeur will unbedingt in eine Irrenanstalt eingewiesen werden. Und zwar möglichst unverzüglich, ohne Rücksichtnahme auf seine Familie. Er soll seine Frau benachrichtigen.

Schweren Herzens macht sich der Arzt und Freund der Familie auf, diesen schwierigen Auftrag zu erfüllen. Er nimmt seinen Patienten nochmals in die Arme, drückt ihn heftig an sich und verlässt das Haus mit feuchten Augen.

Es ist herrliches Wetter und die Sonne scheint warm, ein richtiger Vorfrühlingstag, als Dr. Haslebner mit einer Droschke vorfährt und sich mit zögerndem Schritt der Haustüre an der Bilkerstrasse nähert. Er hält inne, als müsste er sein Vorhaben nochmals überdenken. Er hat am Vortag mit seinem Freund und allseits gerühmten Nervenarzt Doktor Ferdinand Reichherz, dem Direktor der neulich eröffneten Privatheilanstalt in der Nähe von Bonn, gesprochen und ihm die bedauerliche Verschlechterung des Geisteszustandes seines Patienten geschildert. Dr. Reichherz hat viele Arbeiten über Hirnerweichung und „Paralysie générale“ verfasst und ist der Ueberzeugung, dem Musiker helfen zu können. Er will ihn in seiner Anstalt isolieren, von allen äusseren Einflüssen abschirmen und auch die Familie von ihm fernhalten, damit sein Geist wieder zur Ruhe kommt. Er wird sich zusammen mit seinem Assistenten Dr. Ulrich Sperreisen mit aller Kraft und von Herzen für den berühmten Patienten einsetzen. Die Frau des Komponisten ist in ihrer Verzweiflung in Panik ausgebrochen, als er ihr die konkreten Schritte erklärt hat. Es war eine seiner schwierigsten Handlungen in seinem Arztsein.

Nun muss er die Türe öffnen und das Unvermeidliche zu Ende führen. In der Hand trägt er einen Blumenstrauss, den ihm die Frau des Musikers übergeben hat. Ein Liebesgruss an ihren Gatten.

Die Türe öffnet sich von innen und der Mann steht vor ihm, erhobenen Hauptes, ohne Rock und in Hausschuhen. Sein Gesichtsausdruck ist verklärt. Den Blumenstrauss nimmt er lächelnd entgegen. Dann schreitet er zur Kutsche, der Arzt hinterher.

Die Türen schliessen sich und der Kutscher treibt die Pferde in den Trab. Die Droschkenräder hinterlassen ein ächzendes Knarren und das Gefährt entschwindet im Staub. Eine graue Wolke legt sich vor die Sonne und die Stimmung verdüstert sich.

Berlin, Charlottenstrasse, 6. Juni 2010

Ein warmer Frühlingstag kündigte sich an. Die ersten Sonnenstrahlen drängten sich zwischen die Häuserreihen. Am Gendarmenmarkt strich ein leiser Wind durch die Bäume und die Vögel ermunterten sich gegenseitig in ihrem Morgenkonzert. Unweit davon, in Richtung Unter den Linden, bewegte sich im 2. Stock eines gutbürgerlichen Wohnhauses ein offenes Fenster sanft hin und her, als wollte es den neuen Tag willkommen heissen. Die anderen Fenster waren noch fest verschlossen. Es war Sonntag und die geschäftigen Bewohner Berlins genossen noch ihre verdiente Nachtruhe.

Ein Vogel hatte es sich auf dem Fenstersims des offenen Fensters bequem gemacht und blickte unruhig nach allen Seiten. Er schien den seltsamen Geruch wahrzunehmen, der dem Zimmer entwich. Und auch das leise Schluchzen, das im frühmorgendlichen Vogelgezwitscher beinahe unterging. Mit einem sanften Flügelschlag hob der Vogel ab und suchte das Weite.

Eli sass zusammengekauert in einer Ecke des Musikzimmers und weinte, den Kopf vornüber, gleich einem Häufchen Elend. Ihr Körper zitterte. Trotz ihrer 24 Jahre hätte eine aussenstehende Person die zusammengekrümmte Gestalt für ein Kind halten können. Eli war nur mit einem ausgefransten T-Shirt und einer ausgelaugten Jeans-Hose bekleidet. Die Füsse waren nackt und schmutzig. An einem Ohrläppchen hingen drei Piercings und ebenso war der linke Lippenwinkel mit einem schillernden Ring durchstossen. Wenn Eli den Kopf anhob, erkannte man ein schlankes, feines Gesicht mit tiefgründigen, grünen Augen. Der Blick wirkte verloren, in die Unendlichkeit gerichtet, als gebe es keine Grenzen.

Eli weinte um ihren Grossvater. Ohne aufzublicken sah sie ihn deutlich vor sich, wie er, bäuchlings ausgestreckt, von der Klavierbank bis über die Tasten und weit in den offenen Flügel hinein dalag. Seine Finger hatten sich tief in die Saiten des Pianofortes verkrallt, als wollten sie nach etwas greifen. Die Notenbank lag am Boden. Ein Durcheinander von Notenheften türmte sich daneben wie hingeschmissen.

Eine offene Wunde an der Schläfe des Toten war rot gefärbt und eine dünne Blutspur suchte sich einen Weg über den Resonanzboden des alten Musikinstruments. Es war eine Szene wie aus einer anderen Welt, aus einer alten, vergangenen Welt. Ein Toter, der sich nicht von seinem Klavier trennen konnte, der sich dagegen wehrte, die Welt seiner Musik zu verlassen, sich verzweifelt an die Saiten klammerte, denen er während seines Lebens Klänge entlockt hatte.

 

Es war Musikprofessor Siegfried Gottesmann von der Musikhochschule Berlin, der Erbe einer wahren Dynastie von Musikern. War es nicht ein schöner Tod für einen Pianisten, inmitten der Klänge seines Instruments zu sterben? Und doch zeichneten die groteske Haltung des Mannes und seine verkrampfte Gestik ein Bild voller Dramatik. Ein Gemälde aus den finsteren Tiefen menschlicher Existenz. Man konnte den Aufschrei der umklammerten Klaviersaiten beinahe hören. Als wollten die drahtigen Klangkörper ein Geheimnis zurückhalten.

Eli schluchzte leise vor sich hin.

„Ich habe ihn umgebracht. Wie konnte es geschehen? Was ist in mich gefahren? Diese Wut. Ja, er hat mich gequält. Mit seiner Geheimnistuerei. Mit seiner Besserwisserei. Mit seinem Anspruch, über mich zu bestimmen und zu richten. Diese Erniedrigungen. Ich bin eine erwachsene Frau, promovierte Kunsthistorikerin. Er hatte kein Recht, mich wie ein Mündel zu behandeln, auch wenn er mich grossgezogen hat.

Ist es meine Schuld, dass sich meine Mutter aus Verzweiflung das Leben genommen hat? Dass sie die Paranoia ihres Mannes nicht mehr verkraften konnte? Auch sie hast du, Grossvater, erniedrigt, weil du mit ihrer Heirat nicht einverstanden warst. Du warst schuld an der Familientragödie, die mich zur Waise gemacht hat als mein wahnsinniger Vater in der Irrenanstalt starb.

Ich entschuldige mich für alle Quengeleien und all den Aerger. Ich weiss, dass ich eine Versagerin bin, zu einer wahren Beziehung nicht fähig. Ein Luder ohne Gewissen und Perspektiven. Unmusikalisch, wie du sagtest. Trotz eines Ahnenstamms voller glänzender Starmusiker, so wie du! Deshalb hast du mich derart geknechtet, dass ich ausreissen musste und immer wieder in der Gosse gelandet bin. Und doch bin ich stets zu dir zurückgekehrt, habe für dich gesorgt.

Ich habe dich bewundert und geliebt. Stundenlang bin ich in der Küche gesessen und habe deinem Klavierspiel gelauscht, mich in deine Klänge hineinzufühlen versucht. Ich habe mich in deiner Musik verloren. Oft glaubte ich mich in einer anderen Welt, fühlte diese andere Seite in mir, die heile Seite. Oh, diese wunderschöne, tiefsinnige Welt, die mir deine Tonschöpfungen bedeutet haben! Wie oft haben sie mich vor dem sicheren Absturz bewahrt! Vor dem Abgleiten in die tiefsten Schichten meines zerstörerischen Wesens. Du hast das nie wahrnehmen wollen und mich immer wieder zurückgestossen. Nur deine Musik hast du gehört. Es gab nur dieses Eine in deiner Welt. Deshalb hat dich auch deine Frau verlassen. Nur ich bin dir treu geblieben und habe deinen Verletzungen standgehalten. Welche Kraft musste ich aufbringen, um meine inneren Gegensätze zu versöhnen! Die heile Gefühlswelt der Musik gegen die zerstörerischen Triebe meiner Schattenwelt.

Nun sitze ich hier und muss meine Tat rechtfertigen. Ein einziges Mal wollte ich mich selbst sein. Ein einziges Mal wollte ich dir sagen, dass ich ein Mensch bin. Dass du mich respektieren, mich an deinem Leben teilnehmen lassen musst. Ich habe sonst niemanden auf dieser Welt. Du warst immer meine Welt. Es gibt keine andere. Nur mein Alter Ego, vor dem ich mich dermassen fürchte, vor dem ich immerzu flüchten muss, welches mich bedrängt und mich in archaische Tiefen zieht.

Deine Musik, die du deinem Instrument zu entlocken wusstest, haben mich oft vor dem Absturz bewahrt. Warum wolltest du nichts begreifen? Warum musste ich so laut werden, bis ich meiner selbst nicht mehr Herr war? Warum hast du zugelassen, dass ich die Kontrolle verloren habe? Wie konnte es geschehen, dass ich dich soweit getrieben habe, bis du bäuchlings über dein Instrument gestürzt bist? Mein Freund, welche Hand hat dich gerichtet“?

Es klingelte an der Türe. Doktor Edmund Jachertz wusste, dass die Wohnung nie verschlossen war. Durch das Klingeln kündigte er jeweils seinen ärztlichen Besuch an, der ihn einmal pro Woche zu seinem Freund und Patienten führte. Der Musiker war schon lange herzkrank. Ein schwieriger, eigenwilliger Patient, der seine Medikamente selten so einnahm, wie er sie ihm verschrieben hatte. Seine Gesundheit interessierte den Komponisten und Lehrer überhaupt nicht. Er hatte seine eigenen Ideen über Sinn und Unsinn des menschlichen Lebens. Für ihn gab es nur die eine Passion, die seine Existenz erträglich machte: seine tägliche Arbeit am Klavier.

Meistens hörte der Professor die Türklingel nicht, ging sie doch in seinen brillanten Läufen unter. Wenn er in seine Musik vertieft war konnte ihn kein Erdbeben vom Spielen abhalten. Einmal hatte der Patient ihm erklärt, dass sein Flügel ein ganz spezielles Instrument sei, ohne näher darauf einzugehen. Und wirklich, ein vergleichbares Pianoforte hatte der Arzt noch nie gesehen.

Heute war es ganz still. Dies wunderte Dr. Jackertz nicht, hatte er den Patienten doch bereits gestern besucht. Es war eine Notfallvisite gewesen. Professor Gottesmann hatte einen erstmaligen Angina pectoris Anfall und er musste dem herzkranken Musiker, der sonst eher unter Herzasthma litt, dringend zur Hospitalisation raten. Es hatte ihn nicht erstaunt, dass der eigenwillige Meister dies sofort ablehnte. Dies war auch der Grund, weshalb er ihn sogar an einem Sonntagmorgen besuchte.

Er hatte sich Vorwürfe gemacht und schlecht geschlafen. Er hätte mehr insistieren oder einfach die Ambulanz bestellen sollen. Die Situation war gefährlich. Seine Ausbildung als Arzt hatte ihn immer gelehrt, dass ein erstmaliger Angina pectoris Anfall zu einem Herzinfarkt führen konnte. Deshalb beschlich ihn nun ein ungutes Gefühl.

Nach seiner Weigerung, sich einweisen zu lassen, hatte er ihm eingeschärft, sich ruhig zu verhalten und viel zu liegen. Und die Enkelin Elisabeth Schrag hatte ihm versprochen, bei ihrem Grossvater über Nacht zu bleiben. Er wusste zwar, dass die beiden immer wieder heftig aneinander gerieten, hatte aber doch der sanften und fürsorglichen Seite der Enkelin vertraut. Er mochte sie. Sie hatte etwas Faszinierendes an sich, ohne dass er sich erklären konnte, was es war. Etwas Volatiles und zugleich Tiefgründiges. Wenn man in ihre grünen Augen sah, glaubte man, darin zu versinken oder die Ewigkeit zu erblicken.

Mit seinen 67 Jahren durfte er sich solche Ueberlegungen erlauben. Erstaunt war er, dass die junge Frau immer noch die Nähe zu ihrem Grossvater suchte und nie in Begleitung eines jungen Herrn gesehen wurde. Wohl spielte ihre schwierige Jugend eine Rolle.

„Eli, was um Himmels Willen ...“. Dr. Jachertz’ Augen weiteten sich, als er auf die Gestalt am Boden starrte. Sie schien zu schlafen. Ihre Hände waren zu einem Krampf erstarrt und zwischen ihren blassen Fingern hielt sie ein Stück Papier fest umklammert. Sie atmete unregelmässig, und jedesmal beim Ausatmen quälte sich ein ächzendes Geräusch aus ihren Lungen. Dr. Jachertz ärztliches Gehör registrierte ein Bronchialasthma.

„Eli, wach auf! Was ist los?“ Er schubste sie leicht. Ein tiefer Seufzer entwich. Dann schlug Eli die Augen auf, nur einen kurzen Augenblick, um sie sogleich wieder zu schliessen. Der Arzt erkannte für einen kurzen Augenblick das Entsetzen in ihren Augen. Und plötzlich nahm er den seltsamen Geruch war, der sich vom anderen Ende des Musikzimmers her ausbreitete. Ein ihm bekannter Geruch. Wie ein Blitz traf ihn die Vorahnung. Er hatte es befürchtet.

Er stürzte zum Flügel und sah seinen Freund in den Saiten seines Instruments verkrallt liegend. Er war tot. Mitten in seiner Lieblingstätigkeit aus dem Leben gerissen! Der Arzt bemerkte die klaffende Wunde an der Schläfe, offenbar durch Aufprall des Kopfes am Flügelrahmen verursacht. Er berührte die Stirne seines Patienten. Sie war kalt. Die Augen am seitlich abgedrehten Kopf waren weit aufgerissen, wie von Panik erfüllt. Dr. Jachertz versuchte, die weissblau verfärbten Finger von den Saiten zu lösen. Unmöglich, vollständige Leichenstarre! Man würde warten müssen, bis die Zersetzung des Muskelkrampfes einsetzte. Der Tod musste wenige Stunden zuvor eingetreten sein, erst nachdem der Musiker mit dem Kopf aufgeschlagen war, da sich eine Blutstrasse auf dem Resonanzboden abzeichnete. Es schien dem Arzt klar: terminales Kammerflimmern nach fatalem Herzinfarkt.

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