Carmen im Kopfhörer

Текст
Автор:
0
Отзывы
Читать фрагмент
Отметить прочитанной
Как читать книгу после покупки
Carmen im Kopfhörer
Шрифт:Меньше АаБольше Аа

Impressum

Carmen im Kopfhörer

Jochen Sommer

Copyright: © 2013 Jochen Sommer

published by: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

ISBN 978-3-8442-5985-8

Klüger als Gauguin

Mit dem Haare kämmen beendete Rainer seine morgendliche Wascherei und ging in die Küche. In zwölf Minuten musste er das Haus verlassen, in seinen Wagen steigen und zur Arbeit fahren. Dort erwartete ihn die tägliche Routine, am Nachmittag Beate. Bis zum nächsten Morgen. Dann wieder die Arbeit, jahrelang, bis zur Pensionierung. Dann nur noch Beate.

Mein Gott, dachte Rainer erschrocken, dann nur noch Beate! So ungeschminkt hatte er sich das bisher nie überlegt. Zur Pensionierung waren es noch achtzehn Jahre. Sein Vater war sehr alt geworden, sein Großvater ebenso. Und diese langen Jahre also nur sie. Gauguin müsste man sein, einfach weglaufen, die Frau verlassen, auf eine Südseeinsel fliehen und malen.

Malen konnte er leider nicht.

Trotzdem. Irgendeine Möglichkeit musste es geben, dem zu entfliehen. Mord, zum Beispiel, würde auffallen. Eine Scheidung war noch schwieriger, weil Beate da mitzureden hatte. Spurlos verschwinden war unmöglich. Das Einwohnermeldeamt, die Lohnsteuerkarte, die Rentenversicherung, alles konnte nachgeforscht werden.

Rainer fuhr den Wagen in die Tiefgarage seiner Behörde und grübelte im Aufzug weiter. Scheidung war eben doch die einzige Möglichkeit. Drei Jahre Trennung genügten ja schon. Drei Jahre! Welcher Idiot sich bloß diese endlose Frist ausgedacht hatte. Drei Tage könnte er gerade noch durchstehen und am vierten Tag vor Beates siegesgewohnter Stimme kapitulieren. Er hatte sich nie gegen sie behaupten können.

Bei Arbeitsschluss war Rainer noch keine Lösung eingefallen. Missmutig stieg er die Treppen des alten Mietshauses zum dritten Stock empor, öffnete weit die hohen Fenster auf dem Treppenabsatz, der zwischen den einzelnen Stockwerken lag. Der muffige Geruch besserte sich dadurch nicht.

Vielleicht lag der auch an Beate, dachte Rainer gehässig, als er nach dem Öffnen der Korridortür seine Frau sah, die sich, einen Packen feuchter Wäsche auf dem Arm, durch die Badezimmertür zwängte. Wie immer trug sie eine unförmige Kittelschürze über ihrem kräftigen Körper, wie immer sah er unterhalb der Schürze bunte Leggins.

Asyl? War das vielleicht kein Grund, in einem fernen Staat um Asyl zu bitten? Andere bekamen es aus viel banaleren Gründen. Nur, weil die angeblich ihre Meinung nicht frei äußern konnten. Konnte er es etwa?

Schlechtgelaunt stellte Rainer seine Aktentasche neben die Garderobe, sagte „n´Abend, Schatz“ und konnte, der Wäsche wegen, den Begrüßungskuss vermeiden. „Na“, fragte er freundlich, „gab´s was?“

Natürlich gab´s was. Jeden Tag gab´s was. Frau Immels vom ersten Stock hatte nicht gekehrt. Im Treppenhaus hatte es nach Angebranntem gerochen und Herr Breitmüller von gegenüber so herablassend gegrüßt. Und Herr Wittmann, der Lebensmittelhändler, wollte aufgeben.

Wer wollte das nicht, dachte Rainer verzweifelt und drehte den Fernseher an. Kinderstunde. Er drehte ihn wieder ab.

„Hörst du mir überhaupt zu?“, empörte sich Beate gerade.

Nein, dachte Rainer und sagte: „Ja, Schatz, Herr Wittmann will aufgeben.“ Er hatte sich angewöhnt, bei solchen Fragen den letzten Satz zu wiederholen. Beate war zufrieden und redete weiter. Redete, bis Rainer Kaffee gekocht hatte und sie schlucken musste. Das Fernsehprogramm erlöste ihn schließlich. Sport. Eine Sendung über Judo.

„Interessiert dich das?“, fragte Beate erstaunt.

„Judo? Natürlich. Hab´ ich ja selbst mal gemacht!“, sagte Rainer nachdrücklich. Im dritten Schuljahr, dachte er und starrte konzentriert auf den Bildschirm. Irgendjemand erzählte irgendwas über diesen Sport. „Im Judo“, erläuterte der gerade, „verwendet der Schwächere die Kräfte des Gegners gegen diesen selbst.“

Plötzlich war Rainer wirklich interessiert und langsam - im Verlauf der Sendung - formte sich unscharf ein Plan. Judo, ganz klar. Die Stärkere, unbestreitbar, war Beate. Ihre Stärken waren Willenskraft und Durchsetzungsvermögen und gnadenlose Konsequenz. Wie jeder Diktator konnte sie keinen Entschluss rückgängig machen. ‚Lieber gehe ich zugrunde’ pflegte sie dann zu sagen. Na also.

„Schatz!“, sagte Rainer glücklich und hob mit einer leichten Verbeugung seine Kaffeetasse. Beate wunderte sich.

Die Morgenwäsche hatte Rainer schon lange nicht mehr so vergnügt erledigt wie am darauffolgenden Tag. Er schabte sich sorgfältig die Bartstoppeln vom Hals, überprüfte seine sanfte Haut wie der männliche Mann in der Fernsehreklame und schaute durchs Küchenfenster nach dem Wetter. Wolken zwar, doch zuweilen zeigte sich die Sonne.

Den Arbeitstag verbrachte er wohlgelaunt, holte danach sein Auto aus der Tiefgarage und fuhr ins Grüne. Eine geschlagene Stunde spazierte er zwischen Bäumen umher, deren Namen er nicht kannte, schaute im Gras Käfern und Insekten zu und gedachte der Hippies, die seit Jahrzehnten aus der Mode gekommen waren.

Der muffige Geruch im Treppenhaus störte ihn heute nicht, auch nicht Beate, die uninteressiert fragte, warum er so spät dran sei. „Der Wagen sprang nicht an“, antwortete Rainer kurz, bereitete Kaffee und schaltete den Fernseher ein.

Am nächsten Nachmittag sprang der Wagen wieder nicht an, zwei Tage später auch nicht.

Am Freitag schließlich hatte Rainer drei Stunden Verspätung, weil er den Wagen zur Reparatur gebracht hatte. Die Bäume, Gräser und Käfer langweilten ihn allmählich – er war nicht sonderlich naturverbunden –, und er überlegte, wo er die Stunden nach Feierabend in der nächsten Woche verbringen sollte.

Ohne Misstrauen meinte Beate, es sei auch höchste Zeit gewesen, den Anlasser endlich reparieren zu lassen.

Misstrauisch wurde sie auch am Montag nicht, als Rainer zwei Stunden zu spät kam, weil er Akten aufzuarbeiten hatte. Nur stutzig. Und noch stutziger, als die Akten auch am Dienstag und Mittwoch aufgearbeitet werden mussten.

Als Rainer am nächsten Morgen aus dem Bad kam, war Beate bereits aufgestanden und fragte beiläufig, ob Rainer heute auch Akten aufarbeiten müsse.

„Wahrscheinlich, Schatz“, bedauerte Rainer.

Und wann er denn, voraussichtlich, zurückkäme, damit sie, Beate, rechtzeitig das Abendessen aufsetzen könne.

„Ich weiß es nicht genau“, sagte Rainer ausweichend.

„Das Einfachste wäre es dann“, lächelte Beate, „wenn ich dich gegen fünf Uhr im Büro anrufe.“

„Ich glaube nicht, dass dann die Telefonzentrale noch besetzt ist“, sträubte sich Rainer.

„Ich habe deine Durchwahl“, beruhigte ihn Beate.

„Wir arbeiten einen Stock tiefer im Zimmer eines Kollegen“, sagte Rainer, „und dessen Durchwahl kenne ich nicht. Ich muss jetzt los“.

Hastig verließ er die Wohnung.

Den Spätnachmittag verbrachte er im Bahnhofsrestaurant und trank einige Glas Bier.

Beim Begrüßungskuss roch Beate den Alkohol sofort. „Der Abteilungsleiter hat uns eine Flasche Sekt spendiert, wegen der vielen Überstunden“, log Rainer.

Wie lange denn dieses ‚Akten aufarbeiten’ – Beate setzte die Worte hörbar in Anführungsstriche – noch dauern würde?

„Ich weiß es selbst nicht, Schatz“, nuschelte Rainer, während er das Abendessen in sich hineinschaufelte. Beates Misstrauen war offensichtlich, und Rainer beschloss, es wohldosiert zu steigern.

In den nächsten Wochen häuften sich seine Termine: Die Geburtstagsfeiern, die er bisher gemieden hatte, die Einweihung von Frau Gwisdons neuer Wohnung, Herrn Müllers Ein- und Herrn Meiers Ausstand, überall war er dabei. Ohne Beate natürlich. Die saß zu Hause und überlegt, was sich wohl tatsächlich hinter Rainers gesellschaftlichen Interessen verbarg. Vielleicht eine der netten Kolleginnen?

Sehr verdächtig fand sie zudem die Blumen, die er ihr gelegentlich mitbrachte und die freundliche Beachtung, die er ihr plötzlich schenkte. Nach all den ermüdenden, ereignislosen Ehejahren konnte es nur eine vernünftige Erklärung geben: Schlechtes Gewissen.

Vom Kaufhaus in der Stadtmitte war es nicht weit zu Rainers Behörde, und Beate verschob ihre Einkäufe auf den Nachmittag, um bei Büroschluss die Auffahrt der Tiefgarage beobachten zu können. Und tatsächlich verließ Rainer an den Tagen, an denen er mal wieder ‚Akten aufarbeitete’, pünktlich seinen Arbeitsplatz. Er log recht überzeugend, wenn er anschließend seinen Ärger wegen der vielen Überstunden vorbrachte.

Sollte wirklich eine andere Frau, überlegte Beate ungläubig, Gefallen an diesem farblosen Mann gefunden haben? Nun ja, sie selbst war ja auch nicht überkritisch gewesen, als es ums Heiraten ging. Und etwas Anderes konnte jene Frau nicht wollen. Für ein romantisches, leidenschaftliches Abenteuer hätte sie Rainer, ausgerechnet, nicht erwählt.

Es war also ernst. Rainer zurückgewinnen – darum ging es nicht. Allein in der Wohnung oder vor dem Fernsehgerät, darum ging es.

Am nächsten Vormittag telefonierte Beate mit ihrer Mutter und lud sich zum Mittagessen ein. Ihren Vater schickten sie anschließend in den Vorgarten zum Heckenschneiden. Beate erzählte von Rainers unbewiesener Untreue, sprach über die Prinzipien, die sie, die Mutter, ihr anerzogen hatte und die ärgerliche Konsequenz, die sie deshalb ziehen müsste: Rainer zu verlassen. Es wurde ein langes Gespräch, und Beate kam gerade noch rechtzeitig vor Rainer nach Hause.

Gauguin, dachte Rainer, war er nicht. Er war klüger. Er lief nicht einfach weg, sondern ließ sich elegant fortschicken. Das war viel schwieriger. Er spürte, dass Beate seine Ausreden nicht mehr glaubte, dass sie einen Entschluss gefasst hatte, der für ihn die Freiheit bedeutete. Jetzt musste er ihr nur noch einen konkreten Anlass geben.

 

Ins Bahnhofsrestaurant fuhr er an diesem Nachmittag nicht. Wie am Anfang ließ er seinen Wagen am Waldesrand stehen, spazierte zwischen unbekannten Bäumen umher und suchte nach dem Anlass. Weder die Käfer noch vereinzelte Eichhörnchen inspirierten ihn, und als er zum Wagen zurückkam, erwartete ihn Beate. Eine erleichterte Beate, die das Taxi, mit dem sie Rainers Wagen gefolgt war, zurückgeschickt hatte und froh war, dass Rainers Lügen diese harmlose Erklärung gefunden hatten.

Die Konsequenzen, die sie sonst hätte ziehen müssen, zog sie nicht.

Beethoven im Erdgeschoss

Im weiten Bogen rollte die Kugel über das Parkett, lief einige Meter am Rand der Bahn entlang und fiel kraftlos in die seitliche Führungsrinne. Die Punktzahl – null – hatte der Schriftführer bereits eingetragen, als Rainer zögernd vorgelaufen und die Kugel nach kurzem Flug auf die Bahn geplumpst war.

Mehr Punkte, dachte Rainer bedrückt, bekam er nur durch Zufall.

Und selbst dann, wenn die Kugel den Kegeln korrekt entgegenrollte, befürchtete er, sie könnte auf der langen Bahn ermattet liegen bleiben oder diese weißen Holzfiguren nur sanft beiseiteschieben, statt sie umzustoßen. Außerdem belästigten ihn das kameradschaftliche Getue seiner Kollegen, das Poltern des auseinanderwirbelnden Holzes, die Biertrinkerei und der Geruch nach Zigarettenrauch und Schweiß.

Schuld daran, dass er ihrer Büromannschaft beitreten und sich jeden Donnerstag im ‚Goldenen Anker’ blamieren musste, war natürlich Beate. Ihre Idee war es gewesen, Rainers überschüssige Energie von heimlichen Spaziergängen weg in geordnete Bahnen zu lenken, ihm die Möglichkeit zu geben, sich einmal wöchentlich ‚so richtig auszutoben’, wie sie es nannte.

Der Erfolg gab ihr Recht. Missgelaunt und müde kam er anschließend nach Hause, sah lustlos dem laufenden Fernsehprogramm einige Minuten zu und ging schlafen.

Aber Rainer schlief nicht. Er lag im Bett, atmete tief und regelmäßig, wenn Beate leise das Schlafzimmer betrat, und überlegte, wie er Kegelkugel und Frau endlich entrinnen könnte. Einen großen Unterschied zwischen beiden sah Rainer an solchen Abenden ohnehin nicht. Das schwache Licht, das die Vorhänge durchdrang, half seiner Phantasie, sich unter Beates hochgewölbter Bettdecke eine monströse Kegelkugel vorzustellen, die er Berge und Abhänge hinunterrollen lassen konnte, bis sie irgendwo zerplatzte oder in der Ferne verschwand. Selbst Beates Schnarchen ließ sich mit solchen Träumereien leichter ertragen, und erst das Geräusch des Weckers zwang ihn, der Realität ins Gesicht zu sehen. In Beates Gesicht.

Am Morgen schien es ihm besonders unerfreulich zu sein, und Rainer beeilte sich aufzustehen. Zuspätkommen gab es bei ihm nicht.

Pünktlich zu Dienstbeginn saß er am Schreibtisch, ordnete Akten und Verwaltungsvorgänge. Lediglich das Lachen der Kollegen, das ihm nach den Kegelabenden bis in den langen Bürokorridor entgegenhallte, störte ihn, da es stets abbrach, wenn er, Rainer, die Tür öffnete.

Der einzige, über den er mitlachen durfte, war Ludwig. Ludwig saß im Büro nebenan und nahm ebenfalls an den Kegelabenden teil, obwohl er unverheiratet war. Wenn Rainer über die Freiheit dieses Kollegen nachdachte, wurde er neidisch; wenn er ihm gegenüberstand, mitleidig. Die traurigen Augen in dem alterslosen Gesicht weckten in Rainer ein Gefühl väterlicher Überlegenheit, und er musste sich zurückhalten, Ludwig den Arm um die Schulter zu legen und Tröstliches daherzureden. ‚Es wird alles gut’ oder ‚Kopf hoch!’. Davon abgesehen wäre Ludwig auch mit emporgerecktem Kopf nicht weiter aufgefallen. Irgendwann, nach weiteren Dienstjahren, würde er bestimmt ins Untergeschoss des Gebäudes versetzt, um dort als stellvertretender Archivleiter auf seine Pensionierung zu warten. Dabei war Ludwig nicht unintelligent. Wenn Rainer an Kegelabenden eine Partie ausließ, setzte er sich gern neben Ludwig, um mit ihm zu reden. Er mochte die leise, schüchterne Sprechweise, und es interessierte ihn herauszufinden, wer es fertiggebracht hatte, Ludwig so zu unterdrücken und zu ängstigen.

Es war seine Mutter, bei der er immer noch wohnte, und es gab keinen Bereich, in den sie nicht sorgend und helfend eingriff. Von den Einlagen seiner Schuhe über baumwollene Oberhemden bis zur Auswahl seiner Freundinnen – überall schützte sie ihn vor Fehlentscheidungen. Besonders bei den Freundinnen. Hier war ihr Schutz so ausgeprägt, dass Ludwig nach einer qualvoll verlaufenen Jugendliebe keine weiteren schlechten Erfahrungen mehr verkraften musste. Gute auch nicht.

„Was Ihnen fehlt“, sagte Rainer in Ludwigs traurige Augen hinein, „ist eine Frau. Eine, die gefestigt ist, die Ihnen die Kraft gibt, sich von Ihrer Mutter zu lösen.“

Meine Frau, dachte Rainer plötzlich, Beate.

Bei dieser überraschenden Lösung für Ludwigs Problem lehnte Rainer sich nachdenklich zurück, schlug die Beine übereinander und erlaubte sich ausnahmsweise eine Zigarette.

Unter Rainers prüfendem Blick rutschte Ludwig beunruhigt auf dem harten Wirtshausstuhl umher und hätte gerne gewusst, worüber sein verständnisvoller Kollege nachdachte.

„Ich glaube“, beugte sich Rainer vor, „ich kann Ihnen helfen. Wir beide sollten uns mal in Ruhe unterhalten. Ich finde, Sie sollten endlich beginnen, Ihr eigenes Leben zu leben.“

Das fand Ludwig schon lange insgeheim, aber Rainer war der erste, der dieses Ansinnen so deutlich aussprach.

„Es ist Ihr gutes Recht“, entschuldigte Rainer ihn und fragte: „Wie alt sind Sie eigentlich?“

„Sechsunddreißig“, antwortete Ludwig kleinlaut.

„Mein Gott! Sechsunddreißig!“ Rainers Lächeln wurde genießerisch. „Da hatte ich schon etliche wilde Jahre hinter mir“, log er und hätte es beinahe selbst geglaubt. „Aber zu alt ist es auch wieder nicht.“ Und nachdrücklicher: „Noch nicht.“

Rainer trank sein Weinglas leer, sagte abschließend: „Überlegen Sie es sich“ und ging zum Tresen.

Beinahe beschwingt ging er hin und beobachtete aus der Entfernung Ludwigs Gesicht. Shakespeare, kein Geringerer fiel ihm ein. Das Gift, das er in Ludwigs Ohr geträufelt hatte, begann zu wirken: Er rutschte nicht mehr verzagt auf seinem Stuhl herum, der arme Ludwig, sondern griff entschlossen nach seinem Schorleglas, nippte daran und stellte es energisch zurück.

„Geben Sie mir noch einen Kurzen“, befahl Rainer der Wirtin und sah der Kugel nach, die Ludwig mit ungewohnter Heftigkeit an den Kegeln vorbeischoss. Gewonnen, dachte Rainer und stellte das Schnapsglas zum Nachfüllen zurück.

Behindert von Kopfschmerzen und Aktenordnern versuchte Rainer am nächsten Morgen aus den Eingebungen des Vorabends einen Plan zu formen. Einen Schlachtplan, der alle strategischen Elemente enthielt und dann nur noch durchgeführt werden musste. An der erfolgreichen Durchführung zweifelte Rainer nicht, da er ja für das höchste Gut des Menschen kämpfte, die Freiheit.

Zumindest für seine eigene, schränkte er vorsichtig ein, als Ludwig an seinem Schreibtisch vorbeistrich und offenbar eine Fortsetzung des gestrigen Gesprächs wünschte. Rainer lächelte ihm hoffnungserweckend zu, vertröstete ihn auf die Mittagspause und entwarf die Grundzüge seines Planes: Sieger würde er sein, Rainer. Der Gegner war Beate. Für Ludwig blieb somit nur die Rolle des Opfers übrig.

Rainer war sehr zufrieden mit dieser Aufteilung und begann sofort mit taktischen Überlegungen. Zwischen Sieger und Opfer eine vertrauensvolle Beziehung herzustellen war Frontabschnitt I.

Im Frontabschnitt II musste er eine Verbindung zwischen Ludwig und Beate schaffen. Eine höchst innige Verbindung, die es schließlich ihm, Rainer, erlauben würde, das Opfer zu mimen und der Sieger zu sein. Er sah sich bereits greinend im Wohnzimmer seiner Schwiegermutter sitzen. „Meine Frau betrügt mich“, hörte er sich schluchzen, „das kann ich ihr niemals verzeihen!“

Verdammt noch mal, dachte Rainer empört und verließ wütend seine Vision, das könnte er ihr wirklich nicht verzeihen. Diese ganzen Ehejahre und dann das!

Das war Frontabschnitt III, rief er sich zur Ordnung, der Befreiungsschlag. Mit dieser Wut in sich und der Familienmoral im Rücken würde er die Trennung durchstehen.

Seufzend stand Rainer vom Schreibtisch auf und ging zur Kantine. Durch die Glastür sah er Ludwig bereits am vorderen Tisch warten, seinen dünnen Tee rühren und zur Tür starren. Rainer unterdrückte sein Mitleid; er befand sich schließlich im Kriegszustand.

Hart stellte er die Kaffeetasse auf Ludwigs Tisch, setzte sich ihm gegenüber und fragte barsch: „Nun? Haben Sie es sich überlegt? Die Zeit drängt. Ihre, nicht meine.“

Ludwig hörte erschreckt auf zu rühren und umfasste haltsuchend das Teeglas. Ausweichen gab es hier nicht.

„Ja“, sagte er hilflos, „Sie haben ganz recht. Ich muss endlich ein eigenes Leben beginnen. Packen wir´s an“, fügte er ängstlich hinzu. Der Augenblick, das spürte er, verlangte starke Worte.

Rainer war irritiert. Etwas mehr Widerstand hatte er schon erwartet. „Morgen Abend, was haben Sie da vor?“, fragte er.

„Morgen?“ Ludwig rührte hastiger im Tee und suchte nach einer Ausrede für seine Mutter. „Morgen ist Samstag. Da habe ich nichts vor.“

„Dann treffen wir uns um acht im Goldenen Anker“, sagte Rainer. „Einverstanden?“

„Einverstanden“, antwortete Ludwig und gab Rainer im Aufstehen die Hand, als schlösse er einen Pakt.

„Schatz“, sagte Rainer beim abendlichen Fernsehen zu Beate, „von Ludwig habe ich dir schon erzählt, nicht wahr?“

„Ludwig?“ Beate stellte die Sendung leiser und versuchte sich zu erinnern. „Der vom Kegelclub?“, fragte sie tastend.

„Ja, der“, nickte Rainer. Wie gut, dass er ihn schon erwähnt hatte. „Den treffe ich morgen Abend. Er hat Probleme.“

„Probleme?“ Probleme interessierten Beate grundsätzlich. Sie drehte die Sendung noch leiser. „Probleme mit seiner Frau, vermutlich?“

„Nein“, wunderte sich Rainer, „nicht mit seiner Frau. Mit seiner Mutter. Ludwig ist Junggeselle.“

„Junggeselle? So. Mit seiner Mutter? Wie alt ist er denn?“

Beates Interesse schwand.

„Sechsunddreißig.“

„Ach ja. Und da hat er noch Probleme mit seiner Mutter?“

„Nun“, begann Rainer und suchte nach Erklärungen, „er ist ein Einzelkind.“

„Ein Einzelkind?“ Beate, die niemals eines bekommen hatte, fühlte sich angesprochen. „Und was hast du damit zu tun? Du hast doch gar keine Erfahrung mit Kindern.“

„Bitte!“, sagte Rainer ärgerlich. „Ludwig ist kein Kind mehr. Ludwig ist sechsunddreißig Jahre alt und versucht jetzt, sich von seiner Mutter zu lösen. Dabei soll ich ihm helfen.“

„Du.“ Beates Blick glitt über Rainers Körper hinweg zum Fernsehgerät. „Ausgerechnet du, also, sollst ihm dabei helfen?“

„Natürlich“, sagte Rainer gereizt, „könntest du es etwa besser?“

„Möglich“, lächelte Beate. „Frauen können sowas besser; sie haben das größere Einfühlungsvermögen.“

Rainer griff beherrscht zur Weinflasche, füllte erneut sein Glas und fragte sanft: „Und wie, meine Liebe, würdest du vorgehen?“

„Psychologisch.“ Beate blicke ihn hochmütig an. „Ganz einfach: Psychologisch.“

„Darin kenne ich mich nicht gut aus“, gab Rainer zu.

„Natürlich nicht“, bestätigte Beate, „du bist ja auch keine Frau.“

Das war unbestreitbar. Rainer schwieg. Frontabschnitt II, dachte er, das war eine gute Gelegenheit, eine Verbindung zwischen Ludwig und Beate herzustellen.

„Also gut, ich überlasse ihn dir“, sagte er. Ein Überraschungsangriff.

„Wie?“ Beate sah verblüfft zu ihm hin. „Wen überlässt du mir?“

„Ludwig“, sagte Rainer. „Ich werde ihn zu uns einladen, damit du psychologisch vorgehen kannst. Als Frau“, fügte er herausfordernd hinzu.

„Schön“, sagte Beate, „bring ihn her.“ Sie dachte gar nicht daran nachzugeben.

Ludwig sah schnell ein, dass Beate für Mutterprobleme die Kompetentere war und versprach zu kommen.

Es war ein Dienstag, an dem Ludwig kam. Rainer hatte seit einiger Zeit schon beiläufig am Fenster gestanden und auf die Straße hinabgeblickt. Herr Breitmüller von gegenüber hatte seinen klobigen Wagen unter der Laterne geparkt, die Nachbarskinder waren zum Abendessen gerufen worden, und die Sonne beeilte sich unterzugehen. In wenigen Minuten würde sie endgültig die Beleuchtung dieser Vorortstrasse den Laternen überlassen.

In dem langen Schatten, den die Häuser jetzt warfen, sah Rainer einen Mann näherkommen, der eigentlich nur Ludwig sein konnte. Das modische Grau des Mantels glich dem des Straßenbelags, nur die Bewegung und der Blumenstrauß unterschieden ihn davon. Der Blumenstrauß allerdings mehr. Er war groß, in Seidenpapier verpackt, und oben schauten die Köpfe von blassrosa Nelken hervor. Sie waren das einzig Farbige an dieser Erscheinung, und Rainer dachte, dass sich Beate bestimmt über diese Blumen freuen würde.

 

Das Klingeln der Glocke rief ihn zur Korridortür, und aus der muffigen Luft des Treppenhauses trat Ludwig in die der Wohnung. Rainer setzte ihn auf die Couch des Wohnzimmers und holte Beate, die sich im Schlafzimmer die Lippen nachzog. Beinahe anziehend sah sie heute aus, stellte Rainer zufrieden fest. Eine Spur zu üppig vielleicht, aber das passte zu ihr.

Ludwig, der Beate schüchtern Hand und Blumen reichte, schien sich in ihrer Gegenwart ebenfalls wohl zu fühlen, denn es dauerte nicht lange, bis beide lebhaft miteinander sprachen. Rainer hielt sich rauchend im Hintergrund und beobachtete die Entwicklung seines Schlachtplans. Der Vormarsch in Frontabschnitt II kam zügig voran.

Etwas zu zügig, dachte er plötzlich eifersüchtig, denn Beates Verhalten musste man eigentlich Flirten nennen. Dreistes Flirten, korrigierte er sich, taktloses. Schließlich war er immer noch der Ehemann. Rainer drückte seine halbgerauchte Zigarette aus, nahm sich verstimmt eine neue und verbot sich, den günstigen Verlauf seines Plans zu behindern.

Sich an diese Verbot zu halten, war nicht einfach, bemerkte er in den nächsten Wochen. Ludwig war ein häufiger Gast geworden, denn seine Mutter hatte keine Einwände gegen diese Besuche. Und an den Tagen, an denen er nicht kam, versäumte es Beate nie, sich nach dem Befinden des ‚Jungen’ zu erkundigen. Sie hatte sogar begonnen, mit irgendeiner Zeitschriftendiät abzunehmen, was Rainer bei einer Frau ihres Alters einfach lächerlich fand. Lächerlich und charakterlos, denn für ihn, den Ehemann, hätte sie sich dieser Tortur niemals unterzogen.

Um nicht überflüssig und fernsehlos im Hintergrund zu sitzen, gewöhnte Rainer sich an, in ein nahe gelegenes Lokal zu gehen, wenn Ludwig kam. Zeitungslesend saß er am Tresen, beobachtete die anderen Männer, die bereits ihre Freiheit zurück hatten und wartete. Wartete auf das Nachhause gehen, wartete auf irgendein Anzeichen, dass Beate endlich auf die Idee gekommen war, ihr Verhältnis zu Ludwig in Rainers Sinn zu vervollständigen.

Eines Abends, als Rainer aus seinem Stammlokal kam, war Ludwig bereits gegangen. Beate saß Wein nippend auf der Couch, und Rainer öffnete weit die Fenster. Der Abend war schwül gewesen, Gewitterwolken zogen von West nach Ost, doch hier im Zimmer war die Schwüle besonders drückend.

Unter Beates abschätzendem Blick zog Rainer seinen Sessel näher zum Tisch und nahm sich ebenfalls ein Glas Wein. Er musste nicht erst überlegen, warum Beate ihn so abschätzig musterte, denn sie fragte sofort, wie viele Jahre sie eigentlich verheiratet seien.

„Dreiundzwanzig glückliche Jahre, Schatz“, antwortete Rainer und war sicher, dass er die Kampfzone bald würde ausweiten können.

„Dreiundzwanzig Jahre“, nickte Beate und nahm ein Schlückchen aus ihrem Glas, „dreiundzwanzig Jahre Glück.“

„Glück und Treue“, betonte Rainer. „Das ist eine lange Zeit. Eine sehr lange Zeit.“

Beate legte die Arme breit auf die Rückenlehne der Couch und sagte: „Ich glaube, dass nichts dieses Glück gefährden könnte.“

„Nein“, lächelte Rainer und achtete darauf, dass sein Lächeln nicht triumphierend wirkte, „nichts. Dafür sind wir zu alt.“

Zu alt war sie eigentlich nicht, dachte Beate, als sie am nächsten Nachmittag beim Friseur saß und in den bunten Zeitschriften blätterte, die dort auf dem Tisch lagen.

Nur ein bisschen altmodisch kam sie sich im Augenblick vor. ‚Durch Horst erst lernte ich meinen Mann wieder lieben’, schrieb da eine Leserin dem Zeitschriftenpsychologen. In den übrigen Heften fand sie ähnliche Berichte, in denen alte Ehen durch Impulse von außen aufgefrischt wurden.

Auch ihrer eigenen Ehe, fand Beate, täte eine Auffrischung bestimmt gut, denn Rainers Gleichgültigkeit hatte in den letzten Wochen deutlich zugenommen. Er kam offenbar nicht mehr auf die Idee, dass sie, Beate, auch für andere Männer attraktiv sein könnte. Es war kein Kompliment, wenn Rainer sie bedenkenlos mit Ludwig allein ließ und lieber in dieses stickige Lokal ging.

Beleidigend, stellte Beate fest, war Rainers Vertrauen in jedem Fall. Und beleidigen ließe sie sich nicht.

Der Count-down hatte begonnen; das spürte Rainer, ging zum Abteilungsleiter und beantragte Urlaub für die Zeit danach. Er hielt es für klüger, in den ersten Wochen nach der Trennung nicht greifbar zu sein, einfach fortzufahren, bis sich Beate an ein Leben ohne ihn gewöhnt hatte. Mallorca oder Gran Canaria schien ihm weit genug. Schäkernd und frei würde er an tropischen Tresen sitzen und sein Leben neu planen.

Doch zuerst galt es Beate zu überführen. Die Abende, an denen Ludwig kam, schieden aus; dafür war Rainers Rückkehr aus seinem Stammlokal zu unregelmäßig. Zu regelmäßigen Zeiten kam er nur aus dem Büro zurück. Also würde es während der Arbeitszeit geschehen, folgerte Rainer.

Es war ein Donnerstag, an dem Ludwig nicht im Büro erschien.

„Der ist mal wieder beim Arzt“, sagte ein Kollege zu Rainer, als der in der Mittagspause erst Ludwigs Abwesenheit bemerkte.

„Seltsam“, sagte Rainer, „mir ist heute auch elend.“ Er meldete sich schnell krank und fuhr nach Hause.

Der Tag schien wie jeder andere zu sein. Rainer parkte sein Auto vor dem Haus, registrierte die von der Schule heimkehrenden Nachbarskinder und ließ sich Zeit. Ludwig saß in der Falle und konnte ihm nicht entkommen.

Hinter der Wohnungstür im Erdgeschoss dröhnte laute Musik – Beethoven. Rainer fand das angemessen und schritt auch so die Treppen empor.

Als er die Korridortür öffnete, sah er Beate, die sich, einen Packen Bettwäsche auf dem Arm, durch die Schlafzimmertür zwängte.

„Du bist schon da?“, lächelte sie betroffen und stopfte die Wäsche in die Waschmaschine. Dann begrüßte sie ihn, wie sie ihn seit der Verlobungszeit nicht mehr begrüßt hatte.

Rainer befreite sich mühsam und schritt misstrauisch durch die Wohnung. Doch Ludwig fand er nicht. Weder in den Zimmern, noch in den Schränken oder unter den Betten.

Ludwig begegnete ihm erst wieder am nächsten Morgen, als der mit einem Versetzungsantrag zum Personalbüro ging.

„Die Arbeit im Archiv hat mich schon immer interessiert“, murmelte Ludwig und deutete auf die Papiere in seiner Hand. Er sah heute ziemlich blass aus.

Rainer dachte an die unerfüllten Hoffnungen, die er in diesen jungen Mann gesetzt hatte und sagte abweisend: „Ich glaube, die Ruhe da unten wird Ihnen guttun, gesundheitlich.“

Das glaubte Ludwig inzwischen auch. Für einen Vormittag wie den gestrigen bei Beate war er eben nicht geschaffen. Wäre er doch bloß zum Arzt gegangen.

Другие книги автора

Купите 3 книги одновременно и выберите четвёртую в подарок!

Чтобы воспользоваться акцией, добавьте нужные книги в корзину. Сделать это можно на странице каждой книги, либо в общем списке:

  1. Нажмите на многоточие
    рядом с книгой
  2. Выберите пункт
    «Добавить в корзину»