Literarische Ästhetik

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Literarische Ästhetik
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UTB 3543

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Jan Urbich

Literarische Ästhetik

BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN · 2011

Impressum

Jan Urbich ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Germanistische Literaturwissenschaft der Universität Jena.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

ISBN 978-3-8252-3543-7 (UTB)

ISBN 978-3-412-20760-1 (Böhlau)

© 2011 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien

Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com

Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig.

Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart

Satz: synpannier. Gestaltung & Wissenschaftskommunikation, Bielefeld

Druck und Bindung: AALEXX Buchproduktion GmbH, Großburgwedel

Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier

Printed in Germany

ISBN 978-3-8252-3543-7

Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis

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Impressum

Inhaltsverzeichnis

1 Zum Begriff der literarischen Ästhetik

1.1 Theorie als Übung

1.2 Die Notwendigkeit der Theoriebildung für die Literatur

1.3 Der Begriff der Theorie und die theoretische Form der Literaturerfahrung

1.4 Literaturtheorie und literarische Ästhetik

2 Historischer Vorbegriff der Ästhetik

2.1 Die epochale Signatur der Ästhetik: die neuen Wissenschaften vom Menschen

2.2 Baumgartens Ästhetik (1750)

2.3 Die Themen der klassischen und der modernen Ästhetik: ein ganz kurzer Abriss

2.4 Literarische Ästhetik als Philosophie der Literatur

3 Die Ontologie der Literatur

3.1 Zum Begriff der Ontologie als ästhetischer Disziplin

3.2 Das Don Quijote-Problem oder der Streit darum, ob man ein Buch zweimal schreiben kann

3.3 Die „Existenz“ der Literatur: Was für eine Art von „Gegenstand“ sind literarische Werke?

3.4 Die „Identität“ der Literatur: Was ist die ontologische Einheit des Werkes?

4 Die Semiotik der Literatur

4.1 Die Frage nach der semiotischen Differenz: Literatur als sprachliches Zeichengebilde

4.2 Zeichen und Zeichengebrauch: Modelle

4.3 Literarische Zeichen: Paradigmatische Vorschläge

4.4 Formensprachlichkeit und Werkhaftigkeit: Die semiotischen Makrostrukturen

5 Die Semantik der Literatur

5.1 Zu den Begriffen „Bedeutung“ und „Sinn“

5.2 Das Bedeutungsgeschehen der Literatur

5.3 Wie bedeuten literarische Texte? Die figuralen literarischen Bedeutungstechniken

5.4 Was bedeuten literarische Texte? Die Form der semantischen Gehalte von Literatur

6 Das Medium der Literatur

6.1 Der Begriff des Mediums

6.2 Die Dialektik des Mediums

6.3 Medium und Literatur

6.4 Räumlichkeit und Zeitlichkeit der Literatur

7 Die Kommunikationsweise der Literatur

7.1 Der Begriff der Kommunikation

7.2 Literatur und/ als Kommunikation

7.3 Der Begriff des Autors

7.4 Der Begriff des Lesers

8 Der Wirklichkeitsbezug der Literatur

8.1 Der Begriff der Mimesis bei Platon (Politeia) und in der Poetik des Aristoteles

8.2 Mimesis und Fiktionalität

8.3 Einige historische Bedeutungen von Mimesis

8.4 Aboutness: Sagen und Zeigen in der Literatur

9 Die subjektiven Zugänge zur Literatur

9.1 Das Paradigma der literarischen Subjektivität

9.2 Literarisches Erleben

9.3 Der Begriff der Erfahrung

9.4 Ästhetische und literarische Erfahrung

10 Die intersubjektiven Zugänge zur Literatur

10.1 Die Geschichte der vormodernen Hermeneutik

10.2 Stationen der modernen Hermeneutik

10.3 Literarisches Verstehen

10.4 Literarische Interpretation

11 Die Anthropologie der Literatur

11.1 Anthropologie und Literatur: James Harris, A dialogue concerning art (1744)

11.2 Literarische Anthropologie

11.3 Nachahmen – Spielen

11.4 Symbolisieren – Sinn machen

12 Die Funktionen der Literatur

 

12.1 Literarischer Funktionalismus: Zur Funktion der Funktion

12.2 enthusiasmus – katharsis – prodesse et delectare: vormoderne Funktionen

12.3 Subjektkonstitution und Wertungsgeschehen: moderne Funktionen

12.4 Die Erkenntnisfunktion von Literatur

13 Die Kontexte der Literatur

13.1 Paratextualität und Intertextualität

13.2 Kritik: Literatur und Gesellschaft

13.3 Reflexivität: Literatur und Kultur

13.4 Tradition und Gattung: Literatur und Geschichte

14 Epilog: Probleme der Literaturtheorie

14.1 Der Ursprung der Literaturwissenschaft aus dem Problembestand der Ästhetik

14.2 Das Begriffsproblem der Literaturwissenschaft

15 Literaturverzeichnis

16 Personenregister

Backcover

1 Zum Begriff der literarischen Ästhetik

1.1 Theorie als Übung

„Gewisse Erkenntnisse schützen sich selbst: man versteht sie nicht.“ (Nietzsche 1999, Bd. 8, S. 374) Wohl mancher, der sich in das weite und von Begriffsdornen zugewachsene Gebiet der Literaturtheorie vorwagt, mag seufzend eine solche oder eine ähnliche Feststellung getroffen haben. Noch immer – und vielleicht sogar in wachsendem Maße – umgibt das theoretische Nachdenken über die Prinzipien des Literarischen ein Nimbus, der viele dazu veranlasst, furchtsam Umwege um diese Begriffswildnis zu nehmen. Andere wiederum sehen sich dazu berufen, mit der etwas blinden und etwas größenwahnsinnigen Lust des Eroberers Schneisen in das Dickicht zu schlagen und dabei mehr zu zerstören als kennenzulernen. Die meisten bleiben ohnehin gleich zu Hause und beobachten das Geschehen lieber am Fernsehapparat der zahlreichen Einführungen, die es ihnen aus sicherer Entfernung und in leicht verdaulichen Dosierungen präsentieren. Das vorliegende Buch geht andere Wege. Es will den Leser weder in den Urwald der Theorie hineinstoßen und ihn zwingen, sich selbst irgendeinen Pfad freizukämpfen, indem es Begrifflichkeiten und Argumentationsweisen immer schon voraussetzt oder diese nur ungenügend durchsichtig macht. Es zielt aber auch nicht darauf, ein dynamisches Nachdenken in ein statisches, auf Zusammenfassungen verkürztes Wissen umzuwandeln und als bloß lernbare Einheiten weiterzugeben. Natürlich gibt es auch auf dem Feld des grundsätzlichen Reflektierens über Literatur Wissensbestände, mit denen man sich vertraut machen sollte: Und vielleicht der wesentlichste Aspekt dieses Buches besteht darin, eine Auswahl an besonders wirkmächtigen Ideen zu treffen, deren Kenntnis Voraussetzung jeder Beschäftigung mit Literaturtheorie ist. Zugleich sind deren Begrifflichkeiten, in die mit diesem

[9] Seitenzahlen der gedruckten Ausgabe.

Buch eingeführt werden soll, zum einen als Fragehorizonte und damit in ihren variablen Grenzen, zum anderen in ihrem Traditionszusammenhang und damit als Begriffsgeschichten zu rekonstruieren. Deshalb verzichtet das vorliegende Buch darauf, dieses Wissen tabellarisch zusammenzufassen oder irgendwie anderweitig didaktisch auf Posterform zu reduzieren. Eine einsichtige Gliederung, die übersichtliche Darstellung und die möglichst große Klarheit der Inhalte müssen genügen, um die Form der Wissensinhalte angemessen präsentieren zu können. Demgemäß sind die „Kontrollfragen“ am Ende jedes Kapitels vor allem als Anhaltspunkte dafür zu verstehen, welche Zentren der Argumentation dem Leser einsichtig gemacht werden sollten.

Wenn Friedrich Nietzsches Einsicht, mit der dieses Kapitel begonnen hat, zutrifft, dann will sich das vorliegende Buch gerade in das Schutzlose, oder mit einem Wort Hölderlins: in „das Offene“ (Hölderlin 1992, Bd. 1, S. 287) vorwagen, indem es die Begriffsbemühungen um die Literatur nicht nur durchsichtig, sondern auch zugänglich macht. Damit ist zugleich eine erste Notwendigkeit jeder sinnvollen didaktischen Aufbereitung von Theorie bezeichnet: Sie sollte nicht nur passives Wissen vermitteln, sondern den Leser mit Theorie als Tätigkeit, als etwas, das man selbst vollziehen muss, bekannt machen. Peter Sloterdijk hat dies im Konzept der „Übung“ gefasst: „Als Übung definiere ich jede Operation, durch welche die Qualifikation des Handelnden zur nächsten Ausführung der gleichen Operation erhalten oder verbessert wird, sei sie als Übung deklariert oder nicht.“ (Sloterdijk 2009, S. 14) Eine Einführung in das theoretische Arbeiten mit Literatur hat nur Sinn, wenn sie als Theorietraining konzipiert ist: Wenn sie nicht für den Leser denkt, sondern ihm die Instrumente und Perspektiven dieses Feldes verfügbar macht und damit ein selbständiges Arbeiten ermöglicht. Nicht zuletzt der emphatische Charakter von Theorie überhaupt und auch die spezifische Theoriebildung einer „literarischen Ästhetik“, über deren prinzipielle Begründung in diesem ersten Kapitel gesprochen werden soll, machen eine solche Zielstellung notwendig: „Aber es gehört zur Wahrheit, daß man selbst als tätiges Subjekt dabei ist. Es mag einer Sätze hören, die an sich wahr sind, er erfährt ihre Wahrheit nur, indem er dabei denkt und weiter denkt.“ (Adorno 1988, S. 261)

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Damit wird der Impuls wieder ernst genommen, aus dem heraus die kulturwissenschaftliche Theoriebildung in den 60er Jahren des 20. Jh. einen großen Schub erhalten hat: die Demokratisierung des wissenschaftlichen Denkens. „Theorie war ein Weg, literarische Werke aus dem Würgegriff einer ‚literarischen Sensibilität‘ zu befreien und sie für eine Analyseart zu öffnen, an der sich zumindest prinzipiell jeder beteiligen konnte. […] Richtig verstanden ist Literaturtheorie eher von demokratischen als von elitären Anstößen geprägt worden; und in dem Grad, in dem sie wirklich in schwülstige Unlesbarkeit verfällt, wird sie ihren eigenen Wurzeln untreu.“ (Eagleton 1997, S. VII) Es sollte also kein Leser Angst davor haben müssen, in diesem Buch mit Wissen konfrontiert zu werden, das wiederum ein sehr spezielles Wissen voraussetzt. Wohl aber wird er sich darauf einstellen müssen, keine fertigen Antworten präsentiert zu bekommen, und oftmals am Ende eines Kapitels eher das Gefühl zu haben, erst am Anfang der jeweiligen Fragestellung zu stehen. Denn gerade das „Anfangen“ stellt im prinzipiellen Denken insofern eine Leistung dar, als es paradoxerweise eine Menge Sachverhalte und Überlegungen voraussetzt. Anfangen kann nur, wer bereits angefangen hat; wie beim hermeneutischen Zirkel (Kap. 10) kommt es also darauf an, in richtiger Weise in das Thema hineinzukommen und sich den Anfang zu erarbeiten. Ein zeitgenössischer Schriftsteller hat es prägnant formuliert: „Der Anfang ist einfach. Erst spät versteht man, wie schwierig der Anfang war.“ (Desperes 1998, S. 17) Damit der Leser auf dem Gebiet der Literaturtheorie anfangen kann anzufangen, ist dieses Buch geschrieben worden.

Es gehört zu den fundamentalen methodischen Paradoxien der Geistes- und Kulturwissenschaften, dass ihre Gegenstände mit einer zunehmenden höheren Auflösung des Blicks auf sie, d. h. in gesteigerter Genauigkeit des Zugriffs auf Strukturen, Zusammenhänge und Kontexte auf der mikroskopischen Ebene, oft eine völlig andere Beschreibung erzwingen als auf der makroskopischen Ebene – ohne dass deren Beschreibungen dadurch wiederum einfach negiert wären. Übergreifende, allgemeine und zusammenfassende Analysen historischer Phänomene der Kultur scheinen beinahe notwendig im konkreten Blick auf singuläre Gegenstände korrigiert, transformiert oder revidiert werden zu müssen. Zugleich können jedoch

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diese notwendigen Detailanalysen die Beschreibungen der übergreifenden Zusammenhänge, als deren kritische Verwandlung sie entstehen, nicht einfach ersetzen. Folglich müssen allgemeine Beschreibungen von vornherein richtig als Problemhorizonte, als narrativ, kausal bzw. rational geflochtenes Netz von Fragen verstanden werden. Diesen Problemnarrativen ist ihre Überschreitung als ‚kritischer Imperativ‘ eingeschrieben und als Aufforderung an den Leser mitgegeben: Nutze die allgemeinen historischen Muster und systematischen Kategorien als Fenster, durch das man erst auf die konkreten Phänomene schauen kann! In diesem Sinne sind auch die Ausführungen dieses Buches zu verstehen. Natürlich erheben auch Sie keinen Anspruch auf Vollständigkeit, alle möglichen Aspekte des jeweiligen Problemkomplexes vorzustellen. Schon die Auswahl der Theorieangebote, welche der Autor für besonders paradigmatisch hält, um an ihnen grundlegende Fragen des Begriffsfeldes diskutieren zu können, lässt sich stets kritisieren. Als Lehr- und Seminarwerk jedoch will das Buch ermöglichen, auch das, was manchem Fachkollegen vielleicht in dem einen oder anderen Kapitel fehlen mag, genauer und leichter anhand dessen zu diskutieren, was zur Verfügung gestellt wird. Denn Leerstellen sind nur in einem begrifflichen Koordinatensystem genau bestimmbar: In diesem Sinn will dieses Buch Grundprobleme so weit verständlich machen, damit alle nicht angesprochenen Aspekte sich mühelos in diese eintragen lassen. (Für einen umfassenderen und kleinteiligeren, gleichwohl narrativ ausgreifenden systematischen Überblick über das Ganze von Literaturwissenschaft und Literaturtheorie verweise ich auf zwei hervorragende Nachschlagewerke: zum einen auf das dreibändige Handbuch Literaturwissenschaft, das von Thomas Anz herausgegeben wurde. Zum anderen auf das ebenfalls dreibändige Fischer Lexikon Literatur unter der Herausgeberschaft von Ulfert Ricklefs. Auf die in beiden Werken zu dieser Einführung korrespondierenden Abschnitte wird im Band nicht extra verweisen; gleichwohl seien die Einzelverweise vom Leser stets unausgesprochen mitgedacht. Des Weiteren werden die entsprechenden Einträge im Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft sowie im Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie empfohlen).

Manch einem mögen außerdem die literarischen Beispiele fehlen, an denen und durch die Theorie erst lebendig und plausibel wird. Der Ver-

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such, die einzelnen Kapitel überschaubar zu halten und ohne allzu große Ablenkung bestimmte Theoriebausteine in ihrem historischen wie systematischen Zusammenhang übersichtlich darzustellen, hat dieses Opfer gefordert. Der Leser möge dies als Aufforderung verstehen, an seinen eigenen Lektüreerfahrungen immer wieder aufs Neue die „Probe aufs Exempel“ zu machen: Jede Theorie ist nur soweit sinnvoll, als sie Erfahrungsmaterial zu erschließen und zu erklären vermag. Die so erkaufte Fasslichkeit dieses Büchleins hingegen soll Leser dazu ermutigen, den Einstieg in das literaturtheoretische Denken zu wagen, weil neben der Mühe der Verstehens nicht auch noch riesige Textmassen in Bewegung gesetzt werden müssen. Dementsprechend sind auch einige inhaltliche Wiederholungen nicht getilgt worden, sodass zum einen jedes Kapitel auch für sich lesbar ist und zum anderen auf den „Verstehenseffekt“ der Wiederholung gesetzt wird.

Zum Gegenstandsbereich des Buches ist im Sinne eines „Vorbegriffs“ hinzuzufügen, dass hier ein „enger“ Literaturbegriff erst einmal fraglos Anwendung findet: Mit „Literatur“ ist also die „schöne“ bzw. künstlerisch gestaltete und gemeinte Literatur bezeichnet, deren Begriff sich vor allem im 18. Jh. herausbildet und die stets das Zentrum der modernen Disziplinen „Literaturwissenschaft“ und „Literaturtheorie“ gebildet hat. Diese Schwerpunktsetzung soll in keiner Weise normative Grenzen verfestigen, sondern ist einzig dem historisch gegebenen Theorierahmen des Faches sowie dem Genre der Einführung in den Kernbereich literaturwissenschaftlicher Beschäftigung geschuldet (als Hinweis auf die verschiedenen Literaturbegriffe Kap. 14.2).

 

1.2 Die Notwendigkeit der Theoriebildung für die Literatur

Warum aber ist überhaupt ein theoretisches Nachdenken über Literatur notwendig? Liegt nicht der „Sinn“ von Kunst, also auch von Literatur, in ihrem „Erleben“ (Kap. 9.2)? Ist Literatur nicht eigentlich dafür gemacht, dass man in sie eintaucht und ihre dargestellten Welten im erlebenden Nachvollzug erkundet? Ist es aber dann überhaupt angemessen, dass man entweder ihre einzelnen Werke analytisch zergliedert (Lite-

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raturwissenschaft) oder gar abstrakt darüber nachdenkt, was Literatur an sich eigentlich sei (Literaturtheorie)? Eine solche Position, die jede Übersetzung der Literatur in wissenschaftliche Begriffe ablehnt oder wenigstens als problematisch betrachtet, ist eine Art der Autonomieästhetik (Kap. 12.1). Historisch gesehen hat sie sich Ende des 18. Jh., in den Epochen von „Sturm und Drang“, Spätaufklärung, Weimarer Klassik und Deutschem Idealismus entwickelt und ist vor allem durch Karl Philipp Moritz (1756 – 1793) formuliert worden. Ihr liegt die Idee zugrunde, dass Kunst nur ihren eigenen Gesetzen zu gehorchen hat und weder Wissenschaft, Moral oder Religion ihr „von außen“ Regeln vorschreiben dürfen. Verschärft führt dieser Gedanke dann zu der Annahme, es sei nicht nur unerlaubt, sondern sogar unmöglich, schöne Literatur durch andere Diskurse als sie selbst zu erfassen. Das Schöne, so schlussfolgert Moritz, darf nur durch sich selbst wahrgenommen werden, weil es nur für sich selbst da ist. Das bedeutet, dass jede Beschäftigung mit schönen Werken, die auf andere Darstellungsformen als das Werk selbst zurückgreift, dieses verfehlt. Bei Moritz heißt es: „Das Schöne will eben sowohl bloß um sein[er] selbst willen betrachtet und empfunden, als [auch] hervorgebracht seyn.“ (Moritz 2009, S. 58) Wo das Kunstwerk „den Endzweck und die Absicht seines Daseyns in sich selber hat“ (ebd. S. 59), da kann es jedenfalls nicht im Sinne der Kunst sein, dass man sie zu etwas Anderem gebraucht – wie z. B. zur wissenschaftlichen Analyse.

Sicherlich ist eine solche „autonomieästhetische“ Sichtweise auf Literatur unter den „gewöhnlichen“ Lesern, also in der breiten Öffentlichkeit, weit verbreitet. Man betrachtet Kunst und Literatur als etwas, über das man nicht wirklich streiten könne, weil jeder eine eigene Meinung dazu haben dürfe und auch jede Meinung irgendwie „richtig“ sei. In dieser Sichtweise ist der kompetente Literaturbenutzer immer derjenige, der die „ästhetische Erfahrung“ des Werkes gemacht hat, ohne zu glauben, dass diese intersubjektiv irgendwie vermittelbar oder gar überprüfbar wäre. Zwischen einer solchen, allein auf den „ästhetischen Genuss“ (vgl. Jauß 1997, S. 71 – 90) abzielenden Lektüre und der wissenschaftlichen Auffassung von Wesen und Funktion der Literatur klafft indes ein breiter Graben. Dieser Graben führt immer wieder dazu, dass Literaturwissenschaftler sich über das Desinteresse der Leserschaft für ihre Forschungsergebnisse

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beklagen und die Leserschaft das bunte Treiben der Literaturwissenschaft als elitäre, von ihrem Leseerleben abgewandte Veranstaltung begreift. Deshalb ist eine der wichtigsten Aufgaben, denen sich die Literaturwissenschaft zu stellen hat, die Vermittlung auch ihrer Diskussion um den Literaturbegriff in die lesende Öffentlichkeit. Sie muss Strategien der Darstellung entwickeln, die deutlich machen, dass die Dimension der „ästhetischen Erfahrung“ zwar unverzichtbar für jede Auseinandersetzung mit Literatur ist. Aber zugleich muss sie zeigen, dass man große Potentiale von Literatur – und vielleicht sogar die wichtigsten – ungenutzt lässt, wenn man sich nicht einer Anstrengung aussetzt, die Hegel einmal so treffend die „Arbeit des Begriffs“ (Hegel 1988, S. 43) genannt hat.

Theodor W. Adorno, einer der bedeutendsten Kunst- und Literaturtheoretiker des 20. Jh., hat in seinem kunstphilosophischem Hauptwerk Ästhetische Theorie das Verhältnis von Kunstwerk und Begriff, ästhetischem Erleben und sprachlichem Verstehen folgendermaßen beschrieben: „Deshalb bedarf Kunst der Philosophie, die sie interpretiert, um zu sagen, was sie nicht sagen kann, während es doch nur von Kunst gesagt werden kann, indem sie es nicht sagt.“ (Adorno 1996, S. 113) Hinter diesen rätselhaften Worten und der verschlungenen Argumentation, die noch an anderen Stellen dieses Buches zur Sprache kommen wird, steht erst einmal der Gedanke, dass Literatur auf ein Verstehen angewiesen ist, dass sich in Sprache artikuliert. Die „ästhetische Erfahrung“ von Literatur drängt darauf, sich in einem diskursiven Verstehen zu vertiefen: die reichen inhaltlichen Verweise, die genauen formensprachlichen Bezüge, das historische und intertextuelle Umfeld – all das und vieles weitere kann nur adäquat wahrgenommen werden, wenn es im Verstehen durch das Medium der Sprache festgehalten und bewusst gemacht wird. Bertolt Brecht hat in einem kleinen Text mit dem Titel Über das Zerpflücken von Gedichten (Brecht 1976, Bd. 19, S. 392f.) den „lebhaften Widerwillen“ des „Laien“ gegen das „Zerpflücken von Gedichten“ kritisiert und dagegen gerade die diskursive Analyse von Lyrik als Weg zu ihrer vertieften ästhetischen Erfahrung beschrieben: „Wer das Gedicht für unnahbar hält, kommt ihm wirklich nicht nahe. In der Anwendung von Kriterien liegt ein Hauptteil des Genusses. Zerpflücke eine Rose, und jedes Blatt ist schön.“ (Ebd., S. 393) Damit macht Bertolt Brecht klar, dass „Erleben“ und „Verstehen“

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nicht als ausschließender Gegensatz verstanden werden darf, sondern als ein Ergänzungsverhältnis. Die begriffliche Analyse steht nicht anstelle des Werkes, sondern dient ihrerseits als Medium einer reicheren ästhetischen Erfahrung, zu der sie hinführen soll (vgl. auch Szondi 1978, S. 265f.).

Diese Zusammenhänge werden in den Kapiteln 9 und 10 einer genaueren Betrachtung unterzogen. Für jetzt gilt es festzuhalten: Was für die konkrete Analyse des Einzelwerkes gilt, trifft auch auf die abstraktere, allgemeinere Analyse der Kunstwerkhaftigkeit von Literatur zu. Wie die Literatur auf ein Verstehen ihrer einzelnen Werke angewiesen ist, so auch auf ein Verstehen ihrer allgemeinen Merkmale: nicht zuletzt deshalb, weil das Problem, was Literatur eigentlich sei, gerade in der Moderne zu einem der wichtigsten Themen von Literatur selbst geworden ist. Mit dieser permanenten Selbstbezüglichkeit hat die Literatur der Moderne ein Merkmal produktiv aufgenommen, das ihr G. W. F. Hegel zu Anfang des 19. Jh. zugeschrieben hat (vgl. Hegel 1997, Bd. I, S. 127 – 144): Sie sei die ästhetisch höchste Form von kulturellem Selbstbewusstsein, also eine Weise, in der sich eine Kultur fundamental zu ihren eigenen Werten und Vorstellungen in ein verstehendes Verhältnis setzt (Kap. 13.3). Die Reflexion über den Literaturbegriff wäre demnach nur eine Verlängerung der reflexiven Tätigkeit, die Literatur selbst ist – und somit nichts Literaturfremdes. So wie in Literatur die Arten und Weisen, wie Menschen in einer bestimmten Kultur ihre Wirklichkeit erfahren, zu Bewusstsein gelangen, würde die Tätigkeit der Literaturtheorie diese innerliterarische Verstehensbewegung auf den Bereich der Literatur selbst erweitern. Sich derart über den „Begriff“ der Literatur in seiner historischen Veränderbarkeit zu verständigen, heißt, sich die wechselnden Vorstellungen bezüglich der Grundstrukturen, Funktionen und Grenzen der literarischen Kommunikation klar zu machen.

Nur von einem solchen Verständnis aus, das die Geschichte der vorangegangenen Grundverständnisse von Literatur reflektiert und in sich aufgenommen hat, lässt sich sinnvoll darüber reden, welche Fähigkeiten und Möglichkeiten die literarische Rede generell eröffnet und auf welchem Wege diese Potentiale am besten genutzt werden könnten. Es ist also nicht nur im Sinne eines umfassenden wissenschaftlichen Vorgehens, sondern auch im Sinne der ganz gewöhnlichen Leseerfahrung nützlich

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und notwendig, sich in die Reflexionsinstrumente des Literaturbegriffs einzuüben. Jedes literarische Werk führt die Geschichte der Einzelwerke, Gattungen, Epochen und Literaturvorstellungen virtuell mit sich und entsteht immer auch aus der Auseinandersetzung mit seinen historischen Vorgaben, die es bestätigt, relativiert, transformiert oder revolutioniert. Somit kommt nur der Leser befriedigend an die Potentiale der singulären, unmittelbaren ästhetischen Erfahrung heran, die sich in ihm einstellen, wenn er sich die Mühe macht, den Hintergrund der Begriffsbildung zu vergegenwärtigen, an dem sich das Werk bis in seine konkretesten und sinnlichsten Details hinein abarbeitet.

1.3 Der Begriff der Theorie und die theoretische Form der Literaturerfahrung

Warum muss dieses Nachdenken über Literatur aber als „Theorie“ stattfinden? Was ist der Vorteil einer „theoretischen“ Erschließung gegenüber einem nichttheoretischen Denken, das es zweifelsohne gibt und das sogar den „Normalfall“ der denkenden Betrachtung darstellt? Um dies zu beantworten, ist es notwendig, sich in aller Kürze darüber zu verständigen, was denn „Theorie“ in diesem Zusammenhang bedeutet und was sie leistet (zum antiken Sinn von „Theorie“ bei Aristoteles informativ Welsch 1996, S. 855 – 859). Dabei ist es sinnvoll, von den unzähligen wissenschaftlichen Zusammenhängen, in denen der Theoriebegriff eine jeweils etwas andere Rolle spielt, abzusehen, und sich stattdessen auf generelle Eigenschaften theoretischer Rede zu konzentrieren.

Jede Wissenschaft ist dort, wo sie ihre einzelnen Forschungsergebnisse in möglichst umfassender Weise deuten und begreifen will, auf Theoriebildung angewiesen: also darauf, nicht beim Einzelnen stehenzubleiben, sondern Gesetze, Regeln, Zusammenhänge, Bedingungen, Funktionen und Folgen bezüglich ihres Gegenstandsbereiches festzustellen. Umgekehrt lässt sich in keiner Wissenschaft überhaupt irgend etwas beobachten, solange man nicht durch theoretische Arbeit die Beobachtungsinstrumente erzeugt hat: Wissenschaftstheoretiker sprechen dabei von der „Theoriebeladenheit der Beobachtung“ (Carrier 2009,

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S. 19; vgl. Breidbach 2005). Die Dinge und Sachverhalte der Lebenswelt, um die wir uns denkend kümmern, führen ihre begrifflichen Erschließungsmöglichkeiten nicht wie wahrnehmbare Tatsachen mit sich: Wir nehmen die verschiedenen Möglichkeiten, bspw. Bäume begrifflich zu beschreiben, nicht in derselben mühelosen Weise wahr, wie wir Bäume selbst in ihrer reinen Wirklichkeitspräsenz ohne jede weitere Anstrengung als körperliche Dinge von bestimmter Form, Größe und Farbe erfahren. Theoretische Arbeit steht also am Anfang und am Ende jedes wissenschaftlichen Arbeitsprozesses. Sie bildet die Klammer um die Gegenstandserkenntnis und macht es möglich, einzelnen Ergebnissen einen übertragbaren Rahmen zu geben: d. h. das Einzelne als Teil eines rationalen Zusammenhangs von Ursachen und Gründen zu begreifen.

Dabei kann man schematisch vier Erkenntnisinteressen von Theoriebildung unterscheiden (in leichter Abwandlung von Eberhard 1999, S. 16): das phänomenale, das kausale, das rationale und das aktionale. „Phänomenal“ erzeugen Theorien „Hypothesen und Thesen über das Erscheinungsbild des Erkenntnisgegenstandes“ (ebd.). Sie denken darüber nach, auf welche Weise und mit welchen (begrifflichen) Mitteln sich die Eigenart des Gegenstandes am genauesten und angemessensten beschreiben lässt. „Kausal“ stellen Theorien ihren Gegenstand in ein Geflecht äußerer Ursachen und fragen nach seinem Zustandekommen. „Rational“ fragen Theorien nach dem Zusammenhang von Gründen, der ihren Gegenstand so bestimmt hat, das er ist, wie er ist. Und „aktional“ denken Theorien über „Einwirkungsmöglichkeiten“ auf den Gegenstand nach, also darüber, wie man ihn erzeugen, beeinflussen oder verhindern könnte. Schließlich müsste man noch eine fünfte Dimension hinzufügen, die man das „historische“ oder auch das „metatheoretische“ Interesse der Theorie nennen kann. Theorien müssen sich in hohem Maße auch dafür interessieren, in welcher Weise bisherige Theorien ihren Gegenstand erforscht haben. Denn es hat sich gezeigt, dass in größeren zeitlichen Abständen oftmals „wissenschaftliche Revolutionen“ stattfinden, die deutlich machen, dass selbst in den Naturwissenschaften die grundlegendsten und anerkanntesten Theorien eines Gegenstandsbereiches veränderbar oder sogar vollständig revidierbar sind. Thomas Kuhn hat in einem „Klassiker“ der Wissenschaftstheorie mit dem Titel Die Struktur

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wissenschaftlicher Revolutionen deshalb von „Paradigmen“ gesprochen und die Gesetze ihres historischen Wechsels untersucht. Dabei meint er mit Paradigma „die ganze Konstellation von Meinungen, Werten, Methoden usw., die von den Mitgliedern einer gegebenen Gemeinschaft geteilt werden.“ (Kuhn 1977, S. 389f.)

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