Im Auge des Falken

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Из серии: Regelence #1
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Im Auge des Falken
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Digitale Erstausgabe (ePub) Juni 2013

Digitale Neuauflage (ePub) Juli 2019

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2008 by J.L. Langley

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

»My Fair Captain«

Für die deutschsprachige Ausgabe:

© 2019 by Cursed Verlag

Inh. Julia Schwenk

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,

des öffentlichen Vortrags, sowie der Übertragung

durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile,

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit

Genehmigung des Verlages.

Umschlagillustration: Marek Purzycki

Bildrechte Umschlagillustration: Sharifullin Rustam; Simon Bratt

vermittelt durch Shutterstock LLC

Satz & Layout: Cursed Verlag

Covergestaltung: hanne's designküche

ISBN-13: 978-3-95823-590-8

Besuchen Sie uns im Internet:

www.cursed-side.de




Widmung


In Gedenken an Charlie Mitchell. Freund und Nachbar.

Wir werden ihn sehr vermissen.


Ein besonderer Dank geht an Dick D, meinen V.E.P.B. Du hast

mir wirklich geholfen, die ganze Geschichte klarer zu machen.

Ich hätte vermutlich angefangen, zum Stressabbau einige Figuren

umzubringen, wärst du nicht gewesen. Ich habe unsere Pla-

nungssitzungen enorm genossen.


Und für die Ladies von Jaw Breakers. Ich hätte mir ohne euch die

Haare ausgerauft. Diese Geschichte war der Auslöser für meine

gespaltene Persönlichkeit. Danke, dass ihr mit mir zusammen

gelitten habt.


Prolog

26. Januar 4811, Planet Englor, Moreal, eine Lichtung am Rand von Hawthorne Manor

Ein vertrocknetes Blatt wirbelte über die Spitze seines glänzenden schwarzen Stiefels, als er den rechten Fuß anhob. Nathaniel hätte einfach zu Hause bleiben sollen... scheiß auf die Ehre. Es war doch nur ein Missverständnis gewesen, ein Unfall. Und jetzt würde er einen hohen Preis dafür zahlen. Er würde sterben.

»Sechs.«

Nate schluckte hart und atmete tief durch, während er seinen sechsten Schritt machte. Die kühle Morgenbrise strich durch seine dunkelbraunen Haare und wehte ihm eine zu lange Strähne ins Gesicht. Er blinzelte und schüttelte den Kopf, damit sie wieder nach hinten rutschte, und wünschte im gleichen Moment, er hätte es nicht getan. Sein Kopf schmerzte immer noch von dem heftigen Saufgelage, dem er in der Nacht zuvor gefrönt hatte. Wenn er das hier durch irgendein Wunder überleben sollte, würde er nie wieder einen Tropfen Alkohol anrühren.

»Sieben.« Baron Whites Stimme tönte scharf über das Rascheln der Blätter und die Geräusche der Pferde. Vielleicht wirkte das aber auch nur durch die besonderen Umstände so. Oder vielleicht war es der Kontrast zu der friedlichen Lichtung.

Mit vernebeltem Hirn und einem Körper, der auf Autopilot lief, bewegte sich Nate weiter. Er blinzelte zum Horizont, der hinter den kahlen Bäumen zu erahnen war, wo die Sonne den Himmel langsam mit ihrer Morgenröte überzog. Wann war er das letzte Mal so früh auf gewesen, um einen Sonnenaufgang zu sehen? Er konnte sich nicht erinnern, aber das Wissen, dass dies vielleicht seine letzte Gelegenheit dazu war... Sein sorgenfreies Leben als Erbe des Duke of Hawthorne erschien ihm plötzlich verschwendet.

Vom Rand der Lichtung erklang ein Räuspern, als sich die Stimme des Barons erneut erhob.

»Acht.«

Nathaniel marschierte einen Schritt weiter. Wie hatte er nur glauben können, dass der Viscount auf die Stimme der Vernunft hören würde? Daniel Bradford, Viscount Hargrove und Erbe des Marquis of Oxley, war schon immer ein Hitzkopf gewesen.

Obwohl ihre Väter die engsten Freunde waren und Nate und Daniel sich praktisch von Geburt an kannten, hatten sie sich nie wirklich gemocht. Als Kinder waren sie Rivalen gewesen. Als Erwachsene ignorierten sie sich die meiste Zeit. Bis gestern Abend. Gestern Abend waren sie zu erbitterten Feinden geworden.

»Neun.«

Er schloss die Augen und setzte einen weiteren Fuß vor den anderen. Die antike, terrestrische Pistole wog schwer in seiner Hand. Er wollte das nicht. Die Anschuldigung, die ihn hierher gebracht hatte, war falsch, aber sein Alibi würde ihn nicht weniger belasten. Alles in ihm schrie danach, das Feld zu räumen und zu verschwinden. Er würde als Feigling dastehen, aber wenigstens würde er die nächsten zwanzig Jahre noch erleben. Und was noch wichtiger war: Er würde seinen Vater nicht enttäuschen.

»Zehn. Feuer!«

Nathaniel fuhr herum und wusste dabei genau, was er tun musste. Er konnte Hargrove nicht umbringen. Wenn Nate überlebte, würde sein Vater ihn mit Sicherheit enterben. Er mochte ein verschwenderischer Nichtsnutz sein, aber er verehrte seinen Vater und in dessen Augen zu versagen, war das Schlimmste, was Nate sich vorstellen konnte. Sogar schlimmer als der Tod. Er zielte schräg über Daniels Schulter.

Ein Schuss hallte über die Lichtung und plötzlich fuhr ein rasender Schmerz durch seine Seite. Er zuckte zurück und sein Finger krümmte sich reflexartig um den Abzug. Daniels blaue Augen weiteten sich, sein Kiefer klappte nach unten und er starrte auf seine Brust hinunter, wo sich ein roter Fleck auf seinem braunen Gehrock ausbreitete.

Er sah wieder zu Nathaniel auf und brach mit kalkweißem Gesicht zusammen wie eine Marionette, der jemand die Fäden durchgeschnitten hatte.

Der laute Schrei einer Frau durchbrach die Stille. Victoria, Hargroves Verlobte, stürzte auf die Lichtung und warf sich auf den Viscount.

Oh Himmel, was habe ich getan? Wie erstarrt stand Nate da und hielt nach einem Lebenszeichen seines Gegners Ausschau.

Jemand kam auf Nate zugerannt. »Oh Scheiße, Nate!« Jared.

Nur am Rande nahm Nathaniel den Tumult um sich herum wahr. Die Pistole entglitt seinen tauben Fingern. Mit einem dumpfen Geräusch fiel sie ins tote Gras. Er starrte auf Hargroves leblosen Körper, der zum Teil von Victorias blauem Reitkostüm verdeckt wurde, und versuchte, den Mann allein durch seine Willenskraft wiederauferstehen zu lassen. Aber er wusste, dass das nicht passieren würde.

Eine Gruppe Menschen umringte den Viscount und versperrte Nate endlich die Sicht, aber das Schluchzen und das Durcheinander fassungsloser Stimmen riss nicht ab. Finger bohrten sich in seine Seite und das dumpfe Pochen flammte erneut zu scharfem Schmerz auf. Er zischte leise und sah auf Jareds dunklen Haarschopf hinunter. Was machte sein jüngerer Bruder hier?

Jared sank auf die Knie und untersuchte Nates Seite. »Ist nur eine Fleischwunde.« Er erhob sich und trat vor Nate. »Wir müssen hier weg.« Sein Bruder packte ihn an den Schultern und schüttelte ihn. »Nate, hörst du mir zu?«

Nathaniel riss seinen Blick von den besorgt dreinschauenden, braunen Augen seines Bruders los und sah über dessen Schulter. Hargrove konnte nicht tot sein. Das durfte nicht sein. Nate hatte nicht die Absicht gehabt, den Viscount zu töten, er selbst hätte hier sterben sollen.

Der Arzt stand bei Daniel und schüttelte den Kopf. Victorias Schluchzer wurden lauter, sie strich mit der Hand durch Daniels blonde Haare und flehte ihn an, ihr zu antworten. Selbst Baron White hatte seine korpulente Gestalt zu dem Gefallenen gewalzt.

»Nate!« Jared schüttelte ihn stärker.

Nate tastete nach seiner Verletzung und keuchte schmerzerfüllt auf. Was sollte er jetzt tun? Seine Hand zuckte vor der klebrigen Feuchtigkeit zurück und er hob sie zwischen sein und Jareds Gesicht. Dunkles Rot benetzte seine Fingerspitzen und tropfte von seiner Hand.

»Verdammt, Nathaniel!« Jared verpasste ihm eine Ohrfeige, die Nate beinahe aus dem Gleichgewicht gebracht hätte. »Reiß dich zusammen. Wir müssen weg.«

Das Stechen in seiner Wange riss Nate aus seiner Lethargie. Jared hatte recht. Duelle waren zwar nichts Ungewöhnliches, aber sie waren nichtsdestotrotz verboten. Niemand würde ein Wort darüber verlieren, bis die Obrigkeit sich einmischte, und in diesem Fall würden sie alle inhaftiert werden. Was er auch mit absoluter Gewissheit verdiente.

»Bist du auf Nabil hergekommen? Oder in einem der Gleiter?«, fragte Jared und zog ihn in Richtung der Pferde. Direkt hinter der ersten Baumreihe waren traditionelle Pferdekutschen und moderne, planetare Schwebegleiter am Wegrand abgestellt worden.

»Ich bin auf Nabil hergeritten.« Nate befreite sich aus Jareds Griff, als sie die Baumgrenze erreicht hatten, und suchte mit den Augen nach seinem schwarzen Hengst. »Was machst du hier, Jared?«

Nate wusste mit Sicherheit, dass sein Bruder nicht auf der Lichtung gewesen war, als das Duell begonnen hatte. Er selbst war mit Absicht alleine erschienen, hatte noch nicht einmal einen Sekundanten mitgebracht.

Nabil stand in einiger Entfernung von dem Gleiter, dessen Flanke ihr Familienwappen zierte. Als Nate und Jared näherkamen, tänzelte der Hengst in ihre Richtung, als könnte er ihre Nervosität und Eile spüren.

Jared stapfte auf den Gleiter zu, das jungenhafte Gesicht trotzig verzogen. »Tür öffnen. Stufen ausfahren.« Die Tür glitt zur Seite und Trittstufen klappten aus der Seite des Fahrzeugs aus. »Einer muss doch auf dich aufpassen, Brüderchen. Als ich aufgewacht bin, warst du weg. Du hättest mir sagen sollen, dass du vorhast, das durchzuziehen. Ich hab's gerade noch rechtzeitig hergeschafft.« Jared kletterte in den Gleiter. »Stufen einklappen.«

 

Die Einstiegshilfe verschwand in der dafür vorgesehenen, schwarzen Metallaussparung, während Jared sich mit den Händen am Türrahmen abstützte und seine Aufmerksamkeit wieder auf Nate richtete.

Erst jetzt fiel Nate das derangierte Äußere seines Bruders auf. Jareds zerknitterte, schwarze Kniebundhosen waren noch die gleichen wie am Abend zuvor. Er trug keinen Gehrock oder ein Krawattentuch und ein Ärmel seines blassblauen Hemds war bis zum Ellenbogen hochgekrempelt. Seine schulterlangen, dunkelbraunen Haare waren offen und sahen aus, als hätten sie schon länger keinen Kamm mehr gesehen.

Mit seinen attraktiven Zügen wirkte er wie eine jüngere Ausgabe von Nate, doch momentan bedeckte sie ein dichter Bartschatten. Jared sah aus, als wäre er geradewegs aus dem Bett gefallen, um Nate im Gleiter zu folgen, ohne auf die Hilfe seines Kammerdieners zu warten.

Nate fühlte sich wie betäubt, als er sich in den Sattel hievte. »Ich hatte nicht vor, das Duell durchzuziehen. Ich bin hergekommen, um es Daniel auszureden, aber er wollte einfach nicht hören.«

Er wendete Nabil in Richtung der Lichtung und versuchte, durch das trockene Buschwerk etwas zu erkennen. Sein Magen sackte ihm in die Kniekehlen, als ihm das ganze Ausmaß der Misere bewusst wurde – egal, wie unbeabsichtigt sie auch geschehen sein mochte. Er hatte einen Mann getötet.

»Es tut mir leid.« Jareds Stimme war so leise, dass Nate ihn kaum verstand.

»Ja, mir auch«, flüsterte er zurück. Erneut wendete er Nabil und schenkte seinem einzigen Bruder ein trauriges Lächeln. »Lass uns nach Hause gehen, kleiner Bruder.«

Jared nickte und zog sich in den Gleiter zurück, dessen Tür sich schloss. Das Fahrzeug hob vom Boden ab, gewann an Höhe und steuerte auf die Straße zu. Mit hoher Geschwindigkeit rauschte es nach Hawthorne Manor.

Nach einem letzten Blick auf die verborgene Lichtung schloss Nate die Augen. Sein Leben würde nie mehr so sein wie zuvor. Er trieb Nabil an und galoppierte in Richtung seines Zuhauses und damit dem Urteil seines Vaters entgegen.


Kapitel 1

5. November 4829, Planet Regelence, Regierungsland Pruluce,

Townsend Castle in Classige

Ein ohrenbetäubendes Kreischen hallte durch die Residenz, gefolgt vom Geräusch nackter Füße auf dem Marmorfußboden, das jedoch plötzlich gedämpfter klang. Aiden sah von seinem Zeichenpad auf.

Muffin, das Mündel seines ältesten Bruders, stürmte splitternackt und tropfnass durch die Tür des Salons. Die halblangen, roten Haarsträhnen klebten ihr im sommersprossigen Gesicht, an ihrem Hals und den Schultern. Sie rannte, so schnell ihre dünnen Beinchen sie trugen und hinterließ dabei feuchte Spuren auf dem blauen Teppich. Sie linste über die Schulter nach hinten. Ohne Aiden zu beachten, schlüpfte sie unter die Chaiselongue, auf der er es sich gemütlich gemacht hatte.

Er biss sich auf die Unterlippe, um nicht laut loszulachen. Es war offensichtlich Badezeit. Er speicherte sein neuestes Gemälde, steckte den Stift in die Halterung an der Seite des Pads und legte es beiseite. Er beugte sich über die Kante der Chaiselongue und hob den goldenen Damast-Volant an. Eine dunkle Locke fiel ihm in die Augen und er strich sie beiseite, während er in zwei große, blaue Augen sah.

Muffin legte einen winzigen Finger an ihre Lippen. Noch immer rann Wasser über ihre rosigen Wangen.

»Pscht... nich' verrat'n Aid'n.«

Aiden ließ den Stoff los und richtete sich wieder auf, während er noch immer mit seiner Belustigung kämpfte. Die Vierjährige verstand noch nicht, dass Jeffers, der Zentralcomputer des Anwesens, alles wusste, was unter seinem Dach passierte. Zweifellos würde ihre Kinderfrau Christy als erstes Jeffers fragen, um das Kind zu finden.

Aiden entschied, dem kleinen Wassergeist zu helfen. Natürlich musste sie baden, aber ab und zu war es auch ganz gut, sich ein bisschen zu wehren. Damit es nicht langweilig wurde.

»Jeffers?«

»Ja, Lord Aiden?«, fragte der körperlose Bariton.

»Du hast Lady Muffin nicht gesehen.«

»Milord, Ihr wisst doch, dass es mir nicht erlaubt ist, die Schlosswachen und Aufsichtspersonen zu Euren Gunsten zu belügen. Dazu zählt auch Lady Muffins Kinderfrau.«

Aiden seufzte. Natürlich wusste er das. Der Bereich innerhalb der Residenz und auf den unmittelbar angrenzenden Parkanlagen war der einzige, auf dem der Aufenthalt ohne Anstandsbegleitung für ihn und seine Geschwister gestattet war. Was im Umkehrschluss bedeutete, dass sie sich Tricks ausdenken mussten, um sich unbeobachtete Augenblicke zu verschaffen. Und apropos...

Er warf einen Blick auf die Uhr auf dem weißen, marmornen Kaminsims. 09:12 Uhr. Noch drei Minuten, bis Payton Jeffers abschaltete, sofern Payton es schaffte, Jeffers Sicherheitskameras, die menschliche Dienerschaft der Residenz und das Sicherheitssystem zu umgehen, um ins Kontrollzentrum im Keller zu gelangen. Nachdem Payton das letzte Mal bei Jeffers den Schalter umgelegt hatte, hatten ihre Eltern darauf reagiert, indem sie mehr Schutzmechanismen installiert hatten.

»Na schön, dann lass es mich so ausdrücken: Du siehst Lady Muffin ja nicht, sie versteckt sich irgendwo im Haus.«

»Das stimmt, Lord Aiden. Meine Kameras können sie unter der Chaiselongue nicht sehen, allerdings sagen mir die Wärmesensoren, dass sie sich dort befindet. Ich werde dies Miss Christy mitteilen.«

Aiden schnaubte. Jeffers würde seine Nachricht an Christy auch exakt so formulieren. Nicht, dass es eine große Rolle spielte. Christy konnte ganz einfach den feuchten Spuren folgen, um ihren Schützling aufzuspüren. Aber es würde der kleinen Rabaukin einen Moment ohne Aufsicht verschaffen und ein kleines Chaos auslösen, in dem er selbst verschwinden konnte. Hauptsache, Christy war nicht hier, wenn Aiden sich davonmachte.

Vom Korridor her hörte man das laute Klappern von Absätzen. Aiden hielt den Atem an, bis sich die Schritte wieder vom Salon entfernten. Er sah noch einmal zur Uhr, dann wieder zur offenen Tür. 09:14 Uhr.

»Jeffers, schließ bitte die Tür des Salons. Ich wünsche etwas mehr Ruhe. Schalte außerdem alle Kameras, Wärmesensoren und Mikrofone in diesem Raum bis auf Weiteres ab.«

Die große Doppelflügeltür hinter den blauen, bodenlangen Vorhängen schloss sich mit einem leisen Klicken. »Ja, Milord.«

Aiden sprang auf und linste unter die Chaiselongue. Einen Moment lang haderte er mit sich, ob er der Kleinen von dem Vorhaben erzählen sollte, das seine Brüder und er geplant hatten. Er wollte nicht riskieren, dass der Zwerg nach draußen ging und sich am Ende verletzte, aber auch sie sollte die Gelegenheit haben, die unerwartete Freiheit zu genießen. Wie er sie kannte, würde sie die gestohlenen Minuten dazu nutzen, in die Küche zu schleichen und sich etwas Süßes zu besorgen.

»Muffin, Payton schaltet den Spion heute ab. Versprichst du mir, dass du nicht nach draußen gehen wirst?«

Sie nickte heftig und ein strahlendes Lächeln erhellte ihr feuchtes Gesicht. »Ve'spochen.«

»Und du darfst es Rexley nicht erzählen.«

Wieder nickte sie. »Is' gut.«

»Hmpf.«

Muffin erzählte Rexley alles und was sein ältester Bruder wusste, wussten auch ihre Eltern. Rexley war der Thronfolger und vermutlich war im Lexikon unter dem Wort verantwortungsbewusst sein Konterfei abgebildet. Wenn er davon erfuhr, dass Tarren Payton zur Abschaltung von Jeffers angestiftet hatte, würde sich Rexley dazu verpflichtet sehen, sofort zu ihrem Vater und Sire zu gehen.

Aiden ließ den Volant sinken und klemmte sich sein Zeichenpad unter den Arm, das er extra für diesen Ausbruch-Vormittag mitgebracht hatte. Erst hatte er ein traditionelles Skizzenbuch und Kohlestifte mitnehmen wollen, aber mit dem Zeichenpad konnte er mehr anfangen.

Auch wenn er die altehrwürdigen Zeichenmethoden sehr schätzte, mit dem Zeichenpad konnte er auf größerer Fläche arbeiten, Farbe benutzen und das fertige Werk dann am Schluss ausdrucken. Er konnte seine Entwürfe in jede künstlerisch nur erdenkliche Form bringen und hatte praktisch unbegrenzte Speicherkapazität. Mit dem konventionellen Block oder Notizbuch würde ihm schlicht irgendwann das Papier ausgehen.

Er schaute zum Kamin. Die Uhr zeigte 09:15.

»Jeffers?«

Keine Antwort.

»Jeffers? Bist du da?«

Wieder keine Reaktion des Computers.

Ja! Payton hatte es geschafft. In seinen ganzen neunzehn Lebensjahren hatte Aiden es kein einziges Mal erlebt, dass Jeffers nicht auf die erste Aufforderung reagierte. Selbst nach dem Ruhe-Befehl würde das Aussprechen seines Namens den Computer in den Raum zurückholen.

Er hörte, wie sich die Flügeltür öffnete und wieder schloss.

Nein! Er war so nah dran!

Aiden fuhr herum, fest davon überzeugt, sich Christy gegenüberzusehen. Erleichtert atmete er auf, als er Colton erkannte, der von innen an der Tür lehnte. Sein Bruder hatte eine Hand auf seine muskulöse Brust gedrückt und fuhr sich mit der anderen durch die kurzen, schwarzen Haare.

Wie immer trug er seine hellbraunen Reithosen, ein weißes Rüschenhemd und seine braunen Lieblingsreitstiefel.

»Oh Mann, das war knapp. Muffin hat sich aus dem Staub gemacht und ihre Kinderfrau und Cony sind auf der Suche nach ihr.«

Muffins Kopf lugte unter dem goldenen Damast hervor. »Cony?«

Colton zuckte erschrocken zusammen und seine Mundwinkel bogen sich nach oben. »Jap, Cony ist früher als erwartet aus dem Meeting gekommen und Christy hat ihn auf dem Weg zu seinem Arbeitszimmer abgefangen.«

»Dreck.« Aidens Schultern sackten nach unten. Wenn ihr Sire da draußen im Korridor herumschnüffelte, würden sie nie im Leben an ihm vorbeikommen. Ihr zweiter Vater war ein äußerst aufmerksamer Mann. Er hatte vermutlich schon bemerkt, dass Jeffers außer Betrieb war. Was bedeutete...

»Wir müssen uns beeilen, Colton!«

Colton nickte. »Meine Rede.« Er drehte sich zur Tür um und hob eine Ecke des Vorhangs an, um vorsichtig hinauszuspähen.

Aiden trat hinter ihn und versuchte, an der hochgewachsenen Gestalt seines Bruders vorbei, etwas zu erkennen. Keine Chance. Colton war der größte seiner Brüder und er hatte die muskulöse Statur ihres Vaters geerbt. Aiden war zwar ein paar Monate älter als Colton, aber er war der kleinste der Geschwister. Wenigstens hatte auch er Vaters breite Schultern abbekommen.

»Und? Ist Cony da dr–«

»Weg hier. Jetzt ist auch noch Vater da. Wir müssen durchs Fenster abhauen.« Er scheuchte Aiden zur anderen Seite des Zimmers.

»Vater?«, fragte Muffin.

Colton eilte zum Fenster, riss die schweren Samtvorhänge beiseite und verhedderte sich prompt in den hauchdünnen, goldenen Borten.

»Ja, Muffin. Vater ist gerade auf dem Weg ins Frühstückszimmer.«

Wundervoll. Das Frühstückszimmer befand sich genau gegenüber. Aiden legte sein Zeichenpad kurz weg, um die Vorhänge aus dem Weg zu halten, bevor Colton sie noch komplett herunterriss und sie auch dafür noch Ärger bekamen.

»Wo willst du hin?«

Colton entriegelte den Holzrahmen des Fensters und ließ die beiden Flügel aufschwingen. »Reiten. Was sonst?« Colton war ein absoluter Pferdenarr. Wäre es ihm erlaubt gewesen, hätte er wohl sein komplettes Leben auf einem Pferderücken verbracht.

»Ich meinte, wohin du reitest.«

»Ich werde –«

Die Tür öffnete sich.

Aiden ließ die Vorhänge los und warf sich auf den Boden, in der Hoffnung, dass das Sofa vor dem Fenster ihn verdeckte. Keine Sekunde später landete Colton neben ihm. Die Tür schloss sich wieder und man hörte ein Keuchen.

Dreck. So nah dran und doch so fern. Jetzt würden sie mit Sicherheit erwischt werden. Die Mahagoni-Beine des Sofas mit ihren zu Adlerklauen geformten Füßen waren hoch und zwischen dem beigefarbenen Stoff und dem Fußboden befand sich eine Lücke von gut 25 Zentimetern. Jeder, der nach etwas suchte, würde sie sehen. Wenn es sich um Cony und Vater handelte, waren Colton und er so gut wie tot.

Aiden versuchte, etwas unter dem Sofa hindurch zu erkennen, aber die Chaiselongue blockierte seine Sicht zur Tür. Er fing Coltons Blick auf und nickte in die entsprechende Richtung. Sein Bruder sollte es riskieren und nachschauen, wer mit ihnen im Raum war. Colton war auf der anderen Seite des Sofas und konnte um die Ecke linsen.

 

Colton schüttelte jedoch den Kopf und formte lautlos mit den Lippen: »Du.«

So ein Feigling. Wenn man wollte, dass etwas gemacht wurde... Aiden rutschte auf dem Bauch zu seiner Ecke des Sofas, aber noch bevor er einen Blick daran vorbei werfen konnte, quietschte Muffin: »Payton!«, und krabbelte unter der Chaiselongue hervor.

Payton? Aiden lugte um die Seite des Sofas. Sein zweitältester Bruder eilte hastig weiter ins Zimmer und fing Muffin auf, die auf ihn zustürzte.

Paytons Blick landete auf dem offenen Fenster und seine Brauen zogen sich zusammen. Er sah nach unten und entdeckte Aiden. »Wa–«

Colton erhob sich. »Payton, was machst du denn hier?«

Payton verdrehte die Augen und starrte Colton wütend an. »Ich renne um mein Leben. Was macht ihr hier? Ich habe mich geopfert, damit ihr hier rauskommt, und ihr seid immer noch da?« Er schnitt eine Grimasse, sortierte Muffin auf seinem Arm und rannte zum Fenster. »Muffin, du bist nackt.«

Sie kicherte und nickte.

»Und du bist nass.« Payton wischte sich eine Hand an der Hose ab und schob den Vorhang beiseite. »Warum ist sie nass?«

»Badezeit«, antworteten Aiden, Muffin und Colton wie aus einem Mund. Nur klang es bei Muffin eher nach: »Badeßeid.«

Payton stöhnte und warf einen Blick aus dem Fenster. »Das hab ich vergessen. Schlechte Planung auf der ganzen Linie. Ich bring Tarren um.«

Er setzte Muffin ab und sah sich draußen noch einmal versichernd um, bevor er aus dem Fenster kletterte. Dann beugte er sich von außen wieder rein und griff nach Muffin. Nachdem das kleine Mädchen wieder auf seiner Hüfte saß, bedeutete er Aiden und Colton, ihm zu folgen.

»Kommt schon. Ihr habt nur noch ein paar Sekunden, bis unser Vater und Sire hier sind. Sie arbeiten sich Raum für Raum vor.«

Aiden schnappte sich sein Zeichenpad, während Colton durch den sich bauschenden goldenen und dunkelblauen Brokatstoff verschwand. Sein Bruder besaß immerhin die Höflichkeit, sein Pad für ihn zu halten, während er selbst nach draußen kletterte.

Nachdem er das Gerät von Colton wieder entgegengenommen hatte, machten die drei sich samt Muffin auf den Weg zur Grundstücksgrenze der Residenz. Colton übernahm die Führung und Payton und Muffin bildeten den Schluss. Wenn sie es auf die Rückseite des Anwesens schafften, würden die Hecken und Rosenbüsche der Parkanlage sie verbergen und sie könnten ungesehen die Stallungen erreichen.

»Hey.« Payton tippte Aiden auf die Schulter. »Gib mir dein Krawattentuch.«

»Wie bitte?« Aiden sah über die Schulter zu seinem Bruder. Payton trug einen blassblauen Gehrock über einem schneeweißen Hemd und einer Halsbinde. »Warum?«

Payton verdrehte die Augen und blies sich eine dunkle Haarsträhne aus der Stirn, als wäre die Antwort völlig offensichtlich.

»Damit ich was habe, um Muffin zu bedecken. Ich kann ja schlecht mit ihr herumlaufen, wenn sie nackt ist.«

Aiden sah keinen Grund warum nicht, sie war ja noch ein Kleinkind. Es war vielleicht nicht akzeptabel, sie unbekleidet herumlaufen zu lassen, aber es wäre schlimmer, wenn jemand Aiden so schlampig sah. Nicht, dass es ihn selbst störte, aber Vater würde ihm das Fell über die Ohren ziehen, wenn er einen Skandal verursachte.

Bei dem Gedanken verschluckte sich Aiden beinahe. Wie oft hatte er schon Standpauken über die Regeln angemessenen Verhaltens gehört und sie missachtet? Allein ohne Anstandsbegleitung auszugehen, war skandalös genug, wenn man ihn denn erwischte.

»Na schön, Colton, halt mal.« Aiden reichte sein Zeichenpad an seinen Bruder weiter und löste seine Halsbinde, um Payton den Stoff zuzuwerfen.

»Danke. Nimm sie mal eben, damit ich meins ausziehen kann.« Payton übergab ihm das nackte Kind und entledigte sich seiner eigenen Halsbinde.

Muffin grapschte mit ihren kleinen, pummeligen Händchen nach Aidens Wangen und drückte ihm einen feuchten Kuss mitten auf den Mund. »Iß liep' Abe'teuer.«

»Könntet ihr euch mal beeilen?«, zischte Colton nach hinten. Er war bereits ein ganz schönes Stück vorausgeeilt.

Sie rannten ihm hinterher, Muffin klammerte sich an Aidens Hals fest und Payton war noch immer mit seinem Halstuch beschäftigt. Als sie schließlich die Seite des Parks erreichten, die direkt gegenüber der Stallungen lag, hielten sie kurz inne, um wieder zu Atem zu kommen.

Aiden stellte Muffin wieder auf ihre eigenen Beine und Payton wickelte die Halstücher um sie wie eine Art Bikini-Toga. Es war eine interessant aussehende Kombination, aber Muffin schien das nicht zu stören.

Sie warf sich in Pose. »Hübs'?«

Aiden lachte leise. »Ja, Muffin, du bist hübsch.«

Grollend reichte Colton Aiden sein Zeichenpad. »Rexley bringt uns um, wenn er sie so sieht.«

Payton nahm Muffin wieder auf den Arm und schnaubte. »Na ja, immer noch besser, als sie nackt rumlaufen zu lassen.«

Colton zuckte die Schultern. »Auch wieder wahr.« Er sah zur Residenz zurück und legte den Kopf schief. »Jetzt müssen wir uns nur noch in die Ställe schleichen. Ich muss Apollo holen, wenn ich zum Fluss reiten will.«

»Warum verschwendest du deine freie Zeit mit einem Ritt zum Fluss? Das kannst du auch in Begleitung machen.«

Grinsend hob Colton eine Augenbraue. »Ja, aber wenn ich dort heute ohne Anstandsbegleitung auf Lord Wentworth treffe, kann ich –«

Payton schüttelte bereits den Kopf, bevor Colton seinen Satz beenden konnte. »Nein. Du gehst allein nicht mal in die Nähe von Viscount Wentworth. Sebastian Hastings ist vielleicht der Befehlshaber der königlichen Garde, aber er ist auch Witwer, alleinstehend und nicht zu vergessen, ein Lebemann der schlimmsten Sorte. Du wirst kompromittiert! Und was dann? Vater und Cony werden mich dafür verantwortlich machen, weil ich den Spion abgeschaltet habe.«

Aiden nickte zustimmend. Payton würde genauso viel Ärger bekommen wie Colton. Aber Colton wäre gezwungen, Lord Wentworth zu heiraten. Und wie er Colton kannte, war auch genau das sein Ziel. Anders als Aiden und Payton genoss Colton die Aufmerksamkeit der Gesellschaft und die Suche nach einem Ehemann.

Aiden zuckte die Schultern und stupste Colton in die Seite. »Komm. Ich will einen der Gleiter nehmen und zu den Docks fliegen, bevor uns jemand erwischt. Ich will schon so lange die Weltall-Frachter und Wasserschiffe zeichnen.«


***


Bei den Docks ging es hektisch und laut zu, hier pulsierte das Leben, wie Aiden es noch nie zuvor erlebt hatte. Er war schon früher mit seinem Sire und seinem Vater in den Regelence Space Docks gewesen. Er hatte sogar schon die Besucherrampen des Space Docks gesehen, aber das war gar nichts gegen das hier.

Von den Besucherrampen aus sah man selten, wie Fracht von einem Schiff verladen wurde. Normalerweise ging ein Beamter an Bord, inspizierte die Waren und verließ das Schiff wieder. Er erteilte die Freigabe zur Reise im Regelence-Sonnensystem.

Hier, in den Docks der Bay of Pruluce, waren die Besatzungsmitglieder verschiedenster Schiffe damit beschäftigt, Waren auf die Frachter zu verteilen. Große Raumschiffe aus glänzendem Metall schwebten über den hölzernen Docks, wo ihre Ladung gelöscht wurde.

Sobald sich diese auf dem Boden befand, wurden die Güter abtransportiert, manche in Schwebe-Transportern und ihren Anhängern für den Landweg, andere auf Wasserschiffen zum Transfer in andere Länder auf Regelence.

Manche der Schiffe konnten sowohl für den Wasserweg als auch für Allflüge genutzt werden. Sie hatten ein offenes Oberdeck zum Segeln und eine massive, verschließbare Hülle für die Reise durchs Weltall. Aber gleich welches Schiff, es war unendlich faszinierend, die wuselnden Menschen um sie herum zu beobachten.

Pruluce war ein Land der Gegensätze, eine Mischung aus alt und neu. Der Hafen, die Menschen und Gebäude sahen denen auf der Erde im 19. Jahrhundert verblüffend ähnlich, aber die meisten Fahrzeuge entsprachen der neuesten Technologie. Für einen Künstler waren die unterschiedlichsten Materialien, Oberflächenstrukturen, Farben und Formen ein wahr gewordener Traum.

So fesselnd der Hafen auch sein mochte, der Gestank nach Fisch und faulendem Holz ließ Aiden dankbar dafür sein, sich einen Aussichtspunkt gesucht zu haben, von dem aus er die Docks überblicken konnte. Wenn der Geruch schon hier in zehn Metern Entfernung so stark war, war er am Wasser wohl unerträglich.

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