Читать книгу: «Unabwendbare Zufälligkeiten», страница 2

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2

Frank Hauff war verärgert. Einmal im Jahr um die Osterzeit machte er drei Wochen Urlaub. Angelurlaub! Aber so etwas war ihm bisher noch nicht passiert. Dieser Junge bluffte nicht. Irritiert schaute auch er umher auf der Suche nach einem Verbotsschild, welches wohl normalerweise im Bereich des Angelstegs stand. ‚Das ist unser Steg‘ hatte sich der Junge entrüstet und ihm war schließlich nur ‚sorry‘ über die Lippen gekommen, es war ihm vorläufig nichts weiter dazu eingefallen. Die bereits gefangenen Forellen hatte er wütend im hohen Bogen in den Fluss zurück geschüttet. Wie ein begossener Pudel war er durch den Pfad zum Parkplatz gegangen, mit der Angelrute und dem leeren Eimer. Die Angelutensilien hatte er achtlos in den gemieteten Jeep geworfen, um dann voller Zweifel zum Hotel Haus Agnes zurück zu fahren.

Es gab zwei Möglichkeiten, entweder benutzte er unwissend seit eineinhalb Wochen den falschen Angelsteg und dieses Privatgrundstück gehörte nicht zum Hotel-Restaurant, wie es bisher für ihn den Anschein gehabt hatte, oder, und er wusste selbst nicht wieso ihm plötzlich dieser Gedanke kam, man brauchte mehr Gäste in dem Hotel? Ein Haus am Fluss – stand das nicht so in dem Flyer? Sollte dies eine Einladung speziell für Angler sein? Nur leider schloss ein steil abfallendes Ufer im Bereich des Hotels jede Angelmöglichkeit aus. Deshalb ließ man sich etwas einfallen auf Rückfragen betreffend Interesse am Angelsport? Man machte wissentlich falsche Angaben? Aber das wäre gesetzwidrig! Und das Schild, welches der Junge vermisste? War da nicht dieser Prospekt im Zimmer? Ein eigenartiges unerklärliches Gefühl beschlich Frank und er konnte es nicht einfach so verdrängen. Er parkte hinter dem Haus, schritt mit dem blauen Plastikeimer durch den Hintereingang direkt in die Küche, stellte ihn mit Nachdruck mitten auf einem Tisch ab und ging wortlos durch den Speiseraum zum Empfang.

Der Koch rief hinter ihm her: „Der ist ja leer“ und zeigte kopfschüttelnd auf den Eimer, den er mit ausgestrecktem Arm empor hielt.

Frank machte nur eine kurze verächtliche Handbewegung und eilte geradewegs zum Aufzug, der ihn in die zweite Etage brachte. Dort bewohnte er das Zimmer 206, wobei die 2 einzig und alleine für die Etage stand. Er trat ein, ging zielstrebig zum Schreibtisch auf dem der Fernseher platziert war, ebenso lag eine Mappe dort mit einigen Prospekten des Hauses und der näheren Umgebung. Frank suchte das Faltblatt mit der Beschreibung: ‚Zum Angelsteg‘ und sah, er warf genau an diesem bezeichneten Platz seine Angel aus. Es gab anscheinend überhaupt nur diesen einen Angelsteg. Ein privater Angelsteg, der laut diesem Blatt zum Hotel-Restaurant Haus Agnes, direkt am Fluss gelegen, gehörte und mit dem Auto bis Parkplatz oder per Fußmarsch über einen Pfad entlang dem Fluss, erreichbar war. Das verstehe wer will, erneut keimten Zweifel in ihm auf. Das feste Schuhwerk tauschte er mit Sandalen, warf seine Weste achtlos aufs Bett, fuhr in die Halle hinunter und bat die junge Empfangsdame: „Rufen Sie bitte Frau Hackler, ich muss sie dringend sprechen!“

Es vergingen einige Minuten, ehe die Inhaberin des Hotels freundlich lächelnd auf ihn zu kam. „Hallo, Herr Hauff, schon zurück? Das ging aber heute flott!“

Frank Hauff holte tief Luft. Was, wenn er sich täuschen ließ, wenn alles ganz anders, der Junge unwissend war? Egal, die Sache musste geklärt werden! „Frau Hackler, während meinem Angeln kam ein etwa zwölf- bis dreizehnjähriger Junge zu mir und fragte, ob ich nicht lesen könnte. Er suchte nach einem Verbotsschild, welches aber nicht an seinem Platz stand. Was soll ich davon halten, was sagen Sie dazu?“ Er zwang sich ruhig und bedächtig zu sprechen.

Frau Hackler senkte kurz ihren Blick. Beschämt suchte sie offensichtlich nach einer Ausrede oder Erklärung und begann stockend: „Ich – wir – ich meine, dazu war ich noch nicht gekommen, Frau Schnells um ihre Einwilligung zu bitten. Ich hätte es ihr bezahlt, aber wie gesagt … Mit dem Schild, das war mein Mann, es liegt unten im Keller, es ist unbeschädigt. Wir hätten es wieder aufgestellt, bald wäre der Steg ohnehin aus unserem Angebot gestrichen worden“, führte Frau Hackler ihre Erklärung fort: „In der wärmeren Jahreszeit müssen die Angler vom Ufer aus angeln, da dürfen wir den Steg nicht blockieren“, redete sie sich heraus. Sie sah flehentlich zu ihm auf und bat um Verzeihung für die ihm entstandene Unannehmlichkeit.

„Nein!“ Frank Hauff war jetzt endgültig verärgert. „Wie lange geht das denn schon so? Und überhaupt – wärmere Jahreszeit? Machen Sie meine Rechnung fertig, holen Sie das Schild aus dem Keller, mein Jeep steht hinten im Hof, legen Sie es rein. Und ich möchte die Adresse von dieser Frau, wie war noch der Name? Schnells? Also bitte, von Frau Schnells hätte ich gerne die Adresse!“ Sprach‘s, drehte sich auf dem Absatz um und verschwand wieder im Aufzug. Im Zimmer angekommen, führte sein Weg ins Bad, er duschte und fühlte tief innerlich nichts als Ärger, was eigentlich bei ihm eher selten vorkam. Sein Entschluss stand fest, ich haue ab. So packte er seinen Koffer und die Tasche, verließ das Zimmer, schloss die Türe hinter sich ab und fuhr erneut zum Empfang hinunter. Auf gar keinen Fall würde er hier auch nur noch eine Minute länger wohnen bleiben! „Bitte meine Rechnung!“ Frank legte den Zimmerschlüssel auf die Theke, stellte sein Gepäck ab und griff nach der Brieftasche.

Die Rechnung lag jedoch noch nicht vor und verdutzt fragt die Dame im Empfang: „Aber, Herr Hauff, wollten Sie nicht auch noch nächste Woche …?“

Frank Hauff ließ sie nicht ausreden, sagte sehr bestimmt: „Ich hole inzwischen meinen Jeep vom Hof. Mein Gepäck lasse ich so lange hier stehen, aber dann möchte ich zahlen!“

Die junge Dame, Hofmann stand auf dem Schild neben der Klingel, nickte leicht verschüchtert und griff zum Telefonhörer.

Als Frank Hauff um die Hausecke bog, entfernte sich der alte Hausmeister gerade vom Jeep. Er hinkte leicht und seine Bewegungen waren langsam. Er hörte wohl Franks Schritte, drehte sich um und grüßte wortlos mit seiner linken Hand. Frank bemerkte nun das Schild samt Befestigungspfahl im offenen Jeep und ging auf den alten Mann zu, der sogleich eine Erklärung lieferte: „Ich habe es aus dem Keller geholt. Habe Alfons längst gesagt, so was tut man nicht, aber gegen den kommt keiner an!“

„Interessant, Herr … Herr?“

„Müller, Müller ist mein Name.“

„Mein Name ist Hauff, Frank Hauff. Alfons ist wohl der Besitzer vom Hotel?“

„Ja, ja und mein Schwiegersohn. Wir sind alle froh, wenn er nicht allzu oft hier auftaucht. Der Kerl hat einen Puff in der Stadt, nennt das Bar, dieser dreckige Zuhälter. Irgendwann bleibt er mal in seinem schmutzigen Milieu auf der Strecke – werde ihm nicht nachweinen!“

Frank Hauff schwieg erschüttert, in was war er da nur hinein geraten? Einen Moment stand er noch unschlüssig da und sah Herrn Müller nach, der sich schwerfälligen Schrittes entfernte. Dann fuhr er den Jeep zum Haupteingang, stieg aus und lief hinein, um endlich zu zahlen und sein Gepäck zu holen.

Fräulein Hofmann hielt ihm die Rechnung entgegen. „Die Chefin hat Ihnen 180 Euro in Abzug gebracht, weil Sie ja nun schon viel eher auschecken. Die gewünschte Anschrift steht auf der Rückseite, soll ich Ihnen sagen.“

Er zahlte. Fräulein Hofmann meinte nichts ahnend: „Einen schönen Tag noch und beehren Sie uns bald wieder.“

3

„Ganz bestimmt nicht“, murmelte Frank vor sich hin und lenkte sein Fahrzeug in die Bergstraße. In jene schwach ansteigende Straße, auf welcher er zum Angeln zu dem kleinen Parkplatz gefahren war. Doch diesmal führte sein Weg daran vorbei. Noch eine schwache Rechtskurve, das erste Haus tauchte auf, eines der beiden, welche vom Parkplatz aus für einen aufmerksamen Betrachter zu sehen oder mehr hinter Bäumen zu erahnen waren. Bisher beschäftigte er sich gedanklich nicht damit, ob und wie viele Gebäude oder eventuell gar Wohnhäuser hier existieren könnten, warum sollte ihn das interessieren? Er wollte nur seinem Hobby nachgehen und angeln. Dass es sich in diesem Falle so ergab, die Fische als Menü-Anreicherung der Restaurantküche zu fangen, war ihm gerade recht gewesen. Angeln war nun mal sein Hobby und die Möglichkeit für die Speisekarte Forellen zu fangen auch immer noch besser, als den Fang wieder frei zu lassen. Ja, Frank Hauff konnte keiner Fliege etwas zuleide tun, geschweige denn Fischen. Für ihn war sein Hobby wirklich nur Angel-Sport!

Das nächste Haus dürfte die 7 sein. Es war ein gepflegtes kleineres Haus. Durch einen schönen eingezäunten Vorgarten führte ein schmaler gepflasterter Fußweg zur Haustür. Das Gartentürchen stand einladend offen. Frank parkte und trat ein, lief über den Fußweg, stieg über zwei Stufen auf ein Podest und drückte den Klingelknopf.

Als sich die Tür öffnete, stand der Junge von vorhin vor ihm. Und ehe Frank noch etwas sagen konnte, rief der laut ins Haus hinein: „Mama, der Angler ist da!“

Susanne erschrak, oh Gott, Michael hörte sich grantig an, war das jetzt unhöflich? Oder? Dann stand sie dem Fremden im Halbdunkel gegenüber und musste schlucken, viel erkannte sie nicht von ihm. Nebenbei bemerkte sie, wie ihr Sohn den Weg in sein Zimmer fortsetzte, anstatt erst einmal abzuwarten.

„Hallo, sind Sie Frau Schnells?“, fragte der Fremde schroff.

„Ja, das bin ich, entschuldigen Sie die Unhöflichkeit meines Sohnes.“

Darauf ging Frank aber erst gar nicht ein. Er wollte nur so schnell wie möglich diese Angelegenheit hinter sich wissen, sich für etwas entschuldigen was er zwar getan, aber nur unwissend verschuldet hatte, dann diesem Ort aller schnellstens den Rücken kehren. Einen dringenderen Wunsch konnte er sich beim besten Willen derzeit nicht vorstellen. „Kommen Sie mit mir.“ Frank Hauff streckte seine Hand nach Susanne aus, ergriff ungeduldig ihre Linke und zog sie hinter sich her hinaus.

Susanne bemerkte einen dunkelgrünen Jeep. Sprach Michael nicht vorhin von einem Jeep? Sie sah sich nun den Mann erst einmal genauer an. Jetzt, bei Tageslicht, erkannte sie einen noch nicht sehr alten Mann, der geschmackvoll gekleidet war und so ganz und gar nicht wie ein Angler aussah. Was will der denn hier? Zaghaft entzog sie ihm ihre Hand, die er mit hartem Griff umspannte

„Schauen Sie mal, das müsste es sein“, begann Frank Hauff zielstrebig, doch im Aufsehen blickte er plötzlich in zwei blaue Augen und irgendwie, so schien es, stockte ihm für Sekunden der Atem. „Ich – äh – ich meine das Schild.“

Komischer Mann. „Wo haben Sie es gefunden? Woher wissen Sie denn überhaupt …?“, beeilte sich Susanne zu fragen und verstummte sogleich mitten in ihrem Satz. Hatte sie ihn etwa angestarrt? Seine Augen waren dunkelbraun, schon beinahe schwarz, unergründlich. Schaute er sauer, gar verärgert drein?

„Gefunden ist nicht das richtige Wort. Ich trage es hinein.“

Beide ergriffen sie gleichzeitig den Pfahl mit dem Schild und trugen es gemeinsam zum Haus.

Damit wurde natürlich die geplante Suche nach dem Schild an Fluss und Parkplatz, für Mutter und Sohn, hinfällig. Ebenso auch ein eventueller Neukauf. Weil aber Susanne nicht wusste, was sie von alledem halten sollte, andererseits auch neugierig war wo dieser fremde Mensch ihr Schild auftreiben konnte, überhaupt, dass er davon wusste und es her brachte – vielleicht doch nur ein Jungenstreich?, lud sie ihn kurz entschlossen zum Tee ein. Sie führte den Fremden ins Wohnzimmer. Während er im Sessel Platz nahm, ging sie rasch in die Küche und setzte Wasser auf. Am Treppenaufgang rief sie nach Michael: „Komm runter Micha und trink mit Herrn – oh – und mir Tee.“

Der Fremde begann laut zu lachen. Es war ein sympathisches und auch ansteckendes Lachen. Offensichtlich war er doch nicht allzu sehr verärgert? Susanne und Michael, der die Stufen herab sprang, mussten unweigerlich einstimmen. Damit war das Eis gebrochen.

„Entschuldigung, aber ich habe mich Ihnen noch gar nicht vorgestellt, ich bin Frank Hauff und habe zurzeit meinen dreiwöchentlichen Jahresurlaub. Das bedeutet für mich angeln und auch ein bisschen faulenzen.“ Und er wunderte sich über sich selbst, wieso er sich auf die Einladung zum Tee überhaupt einließ, war da nicht vorhin sein fester Vorsatz gewesen, diese Gegend schnellstens zu verlassen?

Im Gegenzug zum ersten Eindruck vom Angler, schien nun Michael auch beruhigt zu sein und beteiligte sich rege an der Unterhaltung. Er konnte Herrn Hauff sogar wider Erwarten dessen rechtswidriges Angeln verzeihen, noch ehe dieser die Geschichte vom verschwundenen und dann wieder gefundenen Verbotsschild erzählte.

Sie aßen Kekse zum Tee, während Frank Hauff berichtete wie er zu diesem Schild gekommen war. Susanne wusste über die Verhältnisse im Haus Agnes in etwa Bescheid, dass die es aber nötig hatten zu unerlaubten Mitteln zu greifen, noch dazu einen Gast animierten, mit Fische fangen zur Bereicherung der Küche beizutragen, nur, weil sich dieser Sport als sein Hobby entpuppte, das hätte sie nicht für möglich gehalten. Das ging entschieden zu weit! Sie würde die Namensträgerin des Hotels, ‚Agnes‘ Hackler darauf ansprechen müssen.

Frank Hauff erzählte auch von seinem anstrengenden Beruf als Abteilungsleiter in einem Großbetrieb, von derzeit zwölf Angestellten in seiner Abteilung und dass es deshalb in seinem Jahresurlaub so einfach wie möglich zuging. Er erzählte auch, dass er durch seinen Freund an dieses Hotel am Fluss Sieg mit Angelmöglichkeit gekommen war. Dies konnte nun wiederum nur bedeuten, Frank Hauff war nicht der erste Angler am Steg der Schnells! Allerdings der erste, der erwischt worden war! Das wäre auch die Erklärung dafür, dass immer wieder Fremde auf den Ufergrundstücken gesichtet worden waren. Wer weiß, wie viele Jahre das schon so ging? Eine ernsthafte Diskussion mit Frau Hackler wurde dringend nötig.

„Die letzten Jahre bin ich immer irgendwo am Bodensee gewesen“, erklärte Frank. „Nur diesmal ließ ich mich von Lukas überreden. Es war näher, ich sparte Anfahrtszeit. Lukas Rhode, er ist mein Stellvertreter in der Firma Hansen und gleichzeitig auch mein bester Freund.“

Mit Michaels Hilfe berichtete Susanne auch vom plötzlichen Tod ihres Mannes. Wie er damals im Winter versuchte, wie schon so oft davor, den angetauten Schnee vom Dach zu entfernen, als die Leiter, auf der er stand, seitlich zu rutschen begann und Mark herunterstürzte. Ihm wäre sicherlich nicht viel passiert in dem weichen, tiefen Schnee, aber da war diese kleine Mauer, alt, und im Sommer bot sie etlichen Blumenkästen Platz. Sie stand etwas geschützt und war inzwischen fast vollständig vom Schnee befreit gewesen, genau darauf war Mark hart mit dem Hinterkopf aufgeschlagen. Sein Genick war gebrochen, er spürte es wohl nicht mehr, hatte nicht leiden müssen. Kein wirklicher Trost für die Hinterbliebenen. Gerade noch lachend und scherzend, im nächsten Augenblick für immer schweigend. Es war alles so unvorstellbar schnell gegangen. Praktisch von einer Sekunde zur anderen waren sie völlig alleine auf sich gestellt gewesen. Eine sehr harte Zeit für Mutter und Sohn. Und diese kleine Mauer, die schon dort gestanden war als Mark das Haus kaufte, wurde von Michael mit seinen damals sieben Jahren wütend abgerissen. Mit Werkzeugen umzugehen, brachte ihm sein Vater früh bei. Die Mauer wäre eine bleibende Erinnerung an den Unfall gewesen, für beide unerträglich. Sie konnte und durfte nicht stehen bleiben! Die gesamten Reste der Mauer entsorgten sie nach und nach mit der Mülltonne, nichts sollte davon übrig bleiben!

Die Zeit war mit erzählen nur so verflogen und es war bereits dämmrig, als Frank Hauff in seinen Jeep stieg, wendete und Richtung Stadt davonfuhr. Sie winkten sich zu und er rief: „Ich melde mich!“ So, als wären sie alte Bekannte.

4

Es regnete. Wieder einer der düsteren Tage, an denen Helene Weber nicht in ihrem Gärtchen arbeiten mochte. Nötig war es ohnehin nicht, aber es ließ sich doch so gut über den Gartenzaun beobachten und es hätte ja auch eventuell mal die eine oder andere spontane Unterhaltung entstehen können, was ihrer Meinung nach sowieso selten genug vorkam. Ja, Helene war sehr vielseitig interessiert, wenn man das denn so nennen wollte, und sie wusste bestimmt auch sehr viel zu erzählen! Erst vor kurzem war sie sechsundfünfzig Jahre alt geworden. Sie verbrachte, wie üblich und wie alle anderen Tage auch im Jahr, diesen Tag alleine. Ohne einen nachbarschaftlichen Gruß, ohne ein paar Worte zu wechseln, es war einfach niemand zu sehen gewesen. Nicht, dass sie neugierig wäre, oh nein, aber ‚man muss doch am Leben seiner Mitmenschen teilnehmen’, war ihre Devise. Gemein, so einfach dahin gesagt: Helene Weber galt als die Klatsch- und Tratsch-Tante in der Siedlung, sogar bis in den Ort hinein. Und das dürfte sicher auch noch lange so bleiben, wenn nicht bald eine gravierende Änderung ihre Aufmerksamkeit in wenigstens halbwegs abwechslungsreichere Bahnen lenken würde. Oh ja, sie war durchaus über das Gerede der Leute im Bilde, was sie selbst anging, aber es machte ihr nichts aus, ganz und gar nichts! Sie warf einen Blick über den Zaun, komisch, das seltsame Schild steht immer noch neben Schnells Haustüre. Hm, w as stand denn heute an? Friseur, ja richtig, der war auch mal wieder fällig. Vielleicht sollte sie auch noch in die Schmiede fahren, dort könnte sie die Noppen kaufen, die unter die Stuhlbeine gehörten. An zwei Stühlen waren die derartig abgenutzt, vielleicht sollte sie sowieso dorthin zuerst fahren, also war zumindest der Morgen gerettet. Sie zog ihren Anorak über, hängte die Tasche um, nahm den Schlüsselbund vom Haken und verließ das Haus. Bevor sie jedoch zur Garage gehen konnte, um ihren Wagen heraus zu fahren, kam der Postbote am Gartentor an. Das passte! Ihr erstes Opfer war für diesen Tag gefunden. „Moment, Moment Herr May, ich komme, nehme die Post gleich in Empfang“, rief sie, mehr singend als sprechend.

Johann May war ein höflicher, junger Mann. Er kannte längst Frau Webers wissbegieriges, zugleich auch mitteilsames Wesen und beugte schon mal vor: „Drei Minuten, Frau Weber, nur drei.“ Dabei spreizte er drei Finger seiner rechten Hand und hielt sie in Augenhöhe, so als könnte Frau Weber es dann besser verstehen. Ob sie sich auch daran halten würde, war eine ganz andere Sache.

„Stellen Sie sich vor, Herr May, Frau Schnells hat endlich wieder einen Freund“, begann sie. „Nach so langer Zeit. Damit meine ich, seid ihr Mann tot ist. Er hat ihr auch ein Geschenk mitgebracht, der Neue, haben Sie es gesehen? Es steht schon seit zwei Tagen neben der Haustüre. Wenn Sie mich fragen, das ist ein ziemlich komisches Geschenk. Anscheinend weiß der Neue schon vom Steg am Fluss.“

„Jaja, Frau Weber, denke ich auch, jedenfalls passt der Text dahin“, parierte Johann May etwas desinteressiert.

Helene Weber wollte gerade so richtig los legen, da zeigte der Postbote auf seine Taschen, gab ihr die Briefpost direkt in die Hand, deutete auf seine Uhr, machte eine Handbewegung die anscheinend das Wort schade darstellen sollte und erinnerte daran: „Ich muss weiter, ich muss! Erzählen Sie mir demnächst mehr davon, Frau Weber. Wiedersehn.“ Damit schwang er sich auf das gelbe Fahrrad und fuhr eiligst zur nächsten Adresse.

Helene Weber lenkte ihren Wagen zum Parkplatz der Schmiede, sah sich beim Aussteigen nach allen Seiten um, fand jedoch auf die Schnelle kein bekanntes Gesicht. – Jedenfalls noch nicht. Für die Kleinigkeit, die sie nur kaufen wollte, holte sie sich erst gar keinen Einkaufswagen und ging zielstrebig durch die Drehtür. Und, wie es der Zufall wollte, Berger Junior gab gleich hinter dem Eingang Anweisungen an zwei Angestellte. Das kam Helene Weber natürlich sehr gelegen. „Morgen Herr Berger. Morgen“, und auf die mit Paletten beladene Karre deutend fragte sie: „Na, neue Ware bekommen?“

„Frau Weber, Sie habe ich aber lange nicht hier gesehen, geht es Ihnen gut?“

„Ja danke, aber ich brauche nicht immer was vom Baumarkt.“

„Dann haben Sie noch nicht mein schönes Gartenparadies in der neuen Halle besichtigt, Frau Weber? Das sollten Sie aber unbedingt nachholen. Übrigens, bei diesem nassen Wetter ist einpflanzen neuer Blumen genau das Richtige!“

Tüchtig, tüchtig! Der Junge weiß seine Ware anzubieten. Helene Weber lächelte ihn an. „Ich glaube, da besorge ich mir lieber vorsichtshalber direkt einen Einkaufswagen, so wie ich mich kenne!“ Sie blinzelte Ralf Berger zu und meinte: „Das muss ich unbedingt Frau Schnells erzählen, mit dem Paradies meine ich. Ach, haben Sie schon mitbekommen, Frau Schnells hat endlich wieder einen Freund!“

„Nein, hat sie?“ Ralf Berger war durch seine Arbeit etwas abgelenkt und es war ihm im Moment auch nicht bewusst, wer diese Frau Schnells sein könnte, bezweifelte sowieso ob er das überhaupt wissen wollte.

„Hat sie! Vor zwei Tagen kam er mit einem Jeep, wie lange die sich aber schon kennen, weiß ich nicht.“

Herr Berger begann plötzlich schallend zu lachen. Oh, diese redselige Weber. Ihm war inzwischen auch bewusst, wer Frau Schnells war.

Helene Weber, ein wenig irritiert über sein lautes Lachen, zuckte die Schultern und schwieg.

„Ist doch gut, Frau Weber. Ich gönne es der Frau“, fand Herr Berger.

„Aber ja, ich doch auch. Sie ist noch viel zu jung um alleine zu bleiben!“

Eine Angestellte suchte den Rat ihres Chefs und Herr Berger entschuldigte sich höflich: „Ich werde gebraucht, bis bald mal. Machen Sie’s gut, Frau Weber.“

Sie nickte hinter ihm her. Schade, sie hätte gerne noch mit dem Junior, auch über alte Geschichten, geplaudert. Immerhin kannte sie ihn schon seit seiner Jugend, aus der Zeit ihrer Beschäftigung bei seinen Eltern, die sich erst vor kurzem zur Ruhe gesetzt hatten. Damals nannte sich dieses Haus noch ‚Schmiede‘, die Bezeichnung existierte vom Großvater, der den Ackergäulen im gesamten Umkreis Hufe schmiedete und anpasste. Seitdem war das Unternehmen um einiges gewachsen und nannte sich schon seit einigen Jahren Bergers-Markt. Nur den Alteingesessenen passierte es immer noch ‚Schmiede‘ zu sagen und zu denen gehörte Helene auch. Sie machte so etwas wie eine Lehre bei Rudolf und Bettina Berger als Büroangestellte, oder richtiger gesagt: ‚Mädchen für Alles‘, und war bis zu ihrer Heirat im Geschäft geblieben. Sie lernte ihren um fast fünfzehn Jahre älteren Mann in diesem Haus kennen. Helene schüttelte ihren Kopf, doch lieber nicht zurückdenken, nicht jetzt, heute war heute und jetzt musste sie sich einen Einkaufswagen besorgen und die neue Gartenabteilung unter die Lupe nehmen. Der Junior hat Ideen, „Gartenparadies“. Mal sehen, ob es auch den Namen verdient hat, schmunzelte sie. Und dann vergaß Helene Weber vorläufig die aktuelle Neuigkeit aus der Nachbarschaft unter die Leute zu bringen. Sie war entzückt über diese Blumen- und Pflanzenpracht, auch darüber, wie geschickt alles arrangiert wurde und die Blicke auf sich ziehen musste. Immerhin gehörte derartige Kunst auch in ihre Berufszeit. Jetzt überlegte sie sich jeweils, wohin die eine oder andere Blume oder Staude in ihren Garten passen könnte und belud so nach und nach den Wagen. An der Kasse war sie zwar etwas erstaunt, aber der Bon zählte insgesamt elf Pflanzen und sie zahlte den stolzen Preis von 106,75 Euro. „Meine Güte, ein Glück, dass ich es mir leisten kann“, murmelte sie vor sich hin und freute sich auf den Nachmittag. Da musste der Friseur erst einmal zurückstehen. Und die Noppen, – die waren sowieso in Vergessenheit geraten. Sie schob den Einkaufswagen über den Parkplatz zu ihrem Fahrzeug. Das heißt, es war ihre Absicht gewesen, bevor sie Otto Scholz erspähte. Er stand rücklings an einen weißen Opel gelehnt da. Ein Auto mit fremdem Kennzeichen? Herr Scholz war ein Nachbar vom Ende der Bergstraße, der linken Seite. Seltsamerweise bekam sie ihn in letzter Zeit nicht zu Gesicht, eine ganze Weile schon nicht, fiel ihr soeben auf. Welchen Grund konnte das denn haben? Er sah gelangweilt aus, stocherte abwechselnd mit seiner linken, dann mit der rechten Schuhspitze zwischen den Pflastersteinen herum und schien sie noch nicht bemerkt zu haben, jedenfalls stellte es sich ihr so dar. Helene Weber vollführte einen kleinen Schlenker mit ihrem beladenen Einkaufswagen, steuerte ihn ein wenig umständlich in Richtung ‚Schwätzchen halten‘ und blieb neben Herrn Scholz stehen.

Er sah sie mit mürrischem Gesicht an.

Das störte sie aber nicht weiter und es konnte sie schon gar nicht davon abbringen, ihn anzusprechen: „Hallo Herr Scholz, wie geht es Ihnen? Ich habe Sie ja schon länger nicht mehr gesehen, gehen Sie nicht mehr Gassi mit ihrem Hund?“

„Rex ist tot!“ Herr Scholz kratzte sich am Hinterkopf. Muss die jetzt hier aufkreuzen? „Er war schon über dreizehn, bin jetzt alleine. Nur für ein paar Tage besucht mich mein Sohn.“

„Oh, das tut mir aber leid, das mit ihrem Rex, meine ich.“

„Mir auch“, sagte er und obwohl ihm so gar nicht der Kopf nach Tratschen stand, redete er weiter: „Mein Sohn will mich ins Altenheim stecken. Das kommt natürlich alles von seiner Frau, die konnte mich noch nie leiden. Angeblich kann ich mich nicht mehr richtig versorgen. So ein Blödsinn!“ Herr Scholz war sichtlich grantig, vielleicht auch enttäuscht und gleichzeitig traurig, aber der Ärger überwog deutlich. „Denen geht es nur ums Erbe! Schenkung zu Lebzeiten nennt sich das, dass ich nicht lache“, nörgelte er sich gerade so richtig in Rage. „Die wollen so schnell wie möglich mein Haus verkaufen, es geht nur um die Flocken, so ist das!“

Helene Weber fragte erschreckt: „Sie haben doch auch noch Töchter Herr Scholz, was sagen die denn dazu?“

„Meine zwei Mädchen? Die denken genau so, sagen im Heim hätte ich‘s doch viel besser, bekäme alles gemacht, gekocht, gewaschen und so. Nur Augenwischerei, sonst nix! Ne nee, es geht nur ums Geld!“

Helene Weber hätte dem aufgebrachten Mann gerne noch etwas Tröstendes zu diesem brisanten Thema gesagt, doch inzwischen war dessen Sohn Hans-Peter im Anmarsch und sie zog es vor, sich zu verabschieden und ihm noch schnell „alles Gute“ zu wünschen.

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