Vergangenheit

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Horst Daemmrich

Vergangenheit

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

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© 2017 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

www.francke.de • info@francke.de

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen

ePub-ISBN 978-3-7720-0028-7

Inhalt

  Vorwort

  1. Einführung

 2. Vergangenheit: Erinnern – Wiederherstellen – Deuten2.1. Wahrnehmung, Gedächtnis, Erinnerung, Retrospektive2.2. Abrechnen – Verstehen2.3. Schuld und Sühne

 3. Krieg3.1. Motive und stilistische Signaturen3.2. Militärischer Diskurs3.3. Erweiterte Perspektive – Familiengeschichten – Fragen an die frühere Generation

 4. Erfahrungen vorausgegangener Generationen4.1. Familiengeschichten gestern und heute4.2. Gegenwart – Erinnerungsdiskurs – Reflexionen

  5. Deutsche Chronik. Deutsches Schicksal

  6. Rückgriffe auf die Antike

  7. Aspekte der Vergangenheit im Leben Einzelner

  8. Ein unabgeschlossenes Kapitel

  9. Bestandsaufnahme, Anklänge der Vergangenheit, Orientierung im Alltag

 Literaturverzeichnis1. Literarische Werke2. Kritik

Vorwort

Die deutschsprachige Gegenwartsliteratur vergegenwärtigt sowohl Anschlüsse an die literarische Tradition, erzähltechnische Neuansätze und postmoderne Erzählungen als auch stilistische Eigenheiten des sozialistischen, klinischen und magischen Realismus. Sie zeigt Eigenheiten, die einige Literaturkritiker davon überzeugten, von Literaturen im getrennten und wiedervereinigten Gesamtdeutschland zu sprechen. So kritisiert Fritz J. Raddatz die Konzentration der „westdeutschen“ Literatur auf subjektive Nuancen in der Figurengestaltung, die Ich-Suche und die Nichtbeachtung des politischen Horizonts. Im Gegensatz dazu findet er in den Schriften übergesiedelter DDR-Autoren und Autorinnen die bewusste Auseinandersetzung mit den wesentlichen Fragen der Zeit: „Es gibt eine dritte deutsche Literatur. Nach Jahren, in denen von einer ‚zweiten deutschen Literatur‘ – also der DDR-Literatur – gesprochen und in denen die Abgrenzungen der beiden Literaturen wie ihre gegenseitige Durchdringung, auch Befruchtung diagnostiziert wurde, kann über den aktuellen Stand der literarischen Szene gesagt werden: Die zeitgenössische westdeutsche Literatur sieht den Menschen als genetischen Code, die Welt als ein System ohne Zukunft, die Kunst als Rätsel. Beide deutsche Literaturen bestimmen wesentlich Verkrochenheit, Ich-Bezogenheit und Aufarbeiten von Mythen und Träumen. Zwischen ihnen hat sich als besondere Kraft ‚eine dritte deutsche Literatur‘ etabliert – es ist die jener Autoren, die aus der DDR in die Bundesrepublik übergesiedelt sind … es sind Schriftsteller, die ihre historische Erfahrung, ihre politische Bildung und ihre moralische Interventionslust nicht als Gepäck an der Mauer abgegeben haben.“1

Der für das kommende Jahr geplante zweite Band erläutert maßgebende Themen und Motive in der thematisierten Gegenwart und Zukunft. Gemeinsam ermöglichen die Bände aufschlussreiche Einblicke in Texte, die sonst selten verglichen werden. Die Gegenüberstellung von einem Gartenhaus in der Schweiz (Thomas Hürlimann, Das Gartenhaus. 1989. 2001) und einem Tag in Berlin (Christa Wolf, Juninachmittag. 1967) erschließt thematische Entsprechungen. Geschichten aus dem Alltag akzentuieren in einer kunstvoll, feinfühlig psychologisch motivierten Schilderung die Leiden und Selbsterkenntnis einer Frau (Sibylle Knauss, Die Nacht mit Paul. 1994), eine medientechnologisch gleichgeschaltete Gesellschaft (Martin Grzimek, Die Beschattung. 1989), die innere Brüchigkeit in einer scheinbar heilen bürgerlichen Familie (Marlen Haushofer, Wir töten Stella. 1958. 1991), den absoluten Liebesverlust in einer dumpfen, erschreckenden Welt (Evelyn Grill, Wilma. 1994), die Flucht vor jeder möglichen Selbsterkenntinis (Peter Rosei, Von Hier nach Dort. 1978), und positive Sinnstiftungen in der Suche nach Orientierung (Jurek Becker, Bronsteins Kinder. 1986; Klaus Hoffer, Bei den Bieresch. 1983).

Die Darstellung verfolgt besonders folgende wiederkehrende Kontraste und Grundkonstellationen: Anpassung/Auflehnung, Liebe/Liebesverlust, politisches Engagement/Flucht ins Abseits, Jugend und Bejahung des Lebens/schwerdepressive Pyjamaexistenzen im Vorzimmer des Todes, in der Irrenanstalt und im Altersheim, Ich-Suche und Kontaktverlust, Ich-Suche und Selbsterkenntnis. Die Themenforschung beleuchtet Gemeinsamkeiten im Rahmen kompositorischer Differenzen. Die vorliegende Darstellung untersucht die thematisierte Vergangenheit und ist der erste Band der Bestandsaufnahme „Sechs Jahrzehnte. Grundkonzeptionen und wegweisende thematische Entwürfe in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur unserer Zeit“.

Die vorliegende Untersuchung entwickelt, erweitert und vertieft Überlegungen, die ich zuerst in Konferenzbeiträgen, Festschriften und Sammelbänden vorgelegt habe.2 Ich danke meinen Kollegen Karl. F. Otto jr., Frank Trommler und Volker Wehdeking für ihre langjährige Unterstützung. Ich bin besonders Dr. Valeska Lembke für die sorgfältige Überarbeitung des Manuskripts dankbar.

1. Einführung

Die NS-Zeit ist eine Zäsur in der deutschen Geschichte, die auch die Literatur stark beeinflusst hat. Die Sicht auf die und der Umgang mit der Vergangenheit und besonders der NS-Vergangenheit, den Jahren des getrennten Deutschlands und des Mauerfalls wird zum wichtigen literarischen Thema. Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit setzt sofort nach 1945 mit Kurzgeschichten, Erzählungen, Hörspielen und Schauspielen ein. Sie führt in die Gegenwart und besteht fort in der jüngsten Literatur, in Aufarbeitungen der DDR-Zeit, in Schilderungen des Mauerfalls und in Ortungen des durch ein vereintes Deutschland bedingten Mentalitätswandels. Die Auslegungen reichen von novellistischen Skizzen, knappen faktisch orientierten Reportagen, Kriegsberichten, autobiographisch angelegten, aber fiktiv erweiterten Erzählungen, Chroniken deutscher Geschichte und Rückgriffen auf die Antike bis zu künstlerisch anspruchsvollen, großangelegten Romanen und fantasievollen Erkundungen eines historischen Verlaufs, der im Gegensatz zu geschichtlichen Ereignissen nur im Märchenland des Denkbaren existiert. Die im Einzelnen besprochenen Texte, die sowohl allen Lesern und Leserinnen vertraute als auch unbekannte Werke einschließen, sollen die Diskussion vertiefen.

Im Umgang mit der Vergangenheit setzen nach 1945 die Autor(inn)en, besonders Ilse Aichinger, Jurek Becker, Heinrich Böll, Wolfgang Borchert, Willi Bredel und Elisabeth Langgässer, Akzente, die bis heute wirksam sind. Sie erneuern die in der Neuen Sachlichkeit ausgeprägte Tendenz, der realistisch-sachlichen Gestaltung von historischen und gesellschaftlichen Entwicklungen Priorität einzuräumen. Darüber hinaus befragen und präzisieren sie eine in der Nachkriegsliteratur des Ersten Weltkrieges ersichtliche Grundform des Denkens, die sowohl ein Urteil über als auch ein Verhältnis zur Vergangenheit einschließt. Sie ist deutlich ausgeprägt in Werken, in denen die verflossenen Kriegsereignisse ihren Schatten über das Denken und Handeln der Figuren werfen. Sie kommt selbst dann unvermittelt zu Wort, wenn die Texte den Krieg keineswegs thematisieren. In der Erzählhaltung, im Denken der Figuren und in eingeflochtenen Reflexionen der Erzähler wird einerseits ein eindeutiges ethisches und politisches Engagement erkennbar. Andererseits zeichnen sich Tendenzen ab, die sowohl Resignation ausdrücken als auch die Ohnmacht angesichts historischer Abläufe, die sich dem Eingriff Einzelner entziehen.

Aichinger, Böll und Grass erweitern und vertiefen die Fragestellung von Schuld und Sühne. Wiederkehrende, aus wechselnder Perspektive entwickelte Motive und Themen, die zuweilen Vorstellungen aus den Entnazifizierungsprozessen übernehmen, erwecken den Eindruck einer umfassenden Bestandsaufnahme. Die Texte schildern Täter und Opfer, willige Helfer und Mitläufer, Anpassung und aktiven oder inneren Widerstand, aber auch Pflichterfüllung und verfehltes Vertrauen auf eine neue Ordnung. Die Gemeinsamkeiten und gravierenden Unterschiede in der Einstellung zur Schuldfrage verleihen der Literatur einzelne scharf profilierte Züge. In der erzählenden Literatur herrschen zuerst Anklage und Richten vor, später Aufarbeitung und Versuche, die Einstellung und das Verhalten Einzelner oder einer Gruppe zu verstehen. In der militärischen Erinnerungsliteratur setzt sich sofort die Berufung auf den Ausnahmezustand und die mit ihm verbundenen Fragen von Pflichterfüllung und dem kriegsbedingten Handeln Einzelner durch.

 

Die frühen Auseinandersetzungen mit der besonderen historischen Entwicklung in Deutschland, den kollektiven wie auch individuellen Verhaltensweisen und dem Wirken Einzelner während der NS-Zeit und im Krieg erwecken erzähltechnisch den Eindruck dokumentarischer Treue. Sie vereinheitlichen die Fülle realistisch geschilderter Einzelheiten durch die Konzentration auf die inneren und äußeren Konflikte, die Entscheidungen, das Handeln und die Unterlassungen von Einzelfiguren. Auf diese Art entstehen Erzählungen, in denen qualvoll leidende Verfolgte und Widerstandskämpfer, gewalttätige Offiziere und unentschieden zögernde Landser zu Wort kommen.

Die Darstellungen setzen ein Verhalten voraus, das nicht ableitbar ist von zeitbedingtem Handeln der Menschen, die die Orientierung verloren haben, keine sicheren Maßstäbe für ihre Entscheidungen finden und sich dem kollektiven Interesse fügen. Zuweilen unausgesprochen, zunehmend häufig in Dialogen und Selbstgesprächen der Figuren zeichnet sich eine ethisch verankerte, zeitlose Deutung des verantwortlichen Handelns ab. Der Blick zurück, sei er von Beteiligten, Überlebenden, Kindern oder Enkeln, erfasst die Vergangenheit aus einer Sicht des richtigen und falschen, sittlichen und unsittlichen Handelns. Alle Nachkriegsautoren, die sich mit der NS-Zeit und dem Krieg auseinandersetzten, trugen zu einem wachsenden historischen Bewusstsein bei und haben maßgeblichen Anteil an der Entwicklung eines kollektiven Selbstverständnisses. Sie betrachten die Vergangenheit als ein unabgeschlossenes Kapitel, als einen im Entstehen begriffenen Entwurf einer umfassenden Dokumentation.

Was ist das, die Vergangenheit? Der Begriff kennzeichnet geschichtlich überlieferte Ereignisse aus einer zurückliegenden Zeit. Die Überlieferung umfasst jedoch ein weites Feld: Quellen, historische Darstellungen, die zugleich Interpretationen sind, Tatsachenberichte, soziologische, politische, philosophische Auslegungen und literarische Konzeptionen.Historische Ausführungen teilen gewöhnlich Geschichte in zusammenhängende Abschnitte ein, die eine Verstehenseinheit bilden. Jeder Abriss enthält eine der Schilderung angemessene Abstraktionsebene. Für die Beurteilung historischer Prozesse bleiben die im Schnittpunkt literarischer Schilderungen liegenden Schicksale, Freuden und Leiden, Erfolge und Misserfolge Einzelner im Hintergrund. Deshalb besteht grundsätzlich eine tiefgreifende Spannung zwischen dem Kollektivgeschehen und dem Schicksal Einzelner. Literarische Texte konzentrieren sich auf diesen Schnittpunkt zwischen kollektiven und persönlichen Erfahrungen und versuchen, im individuellen Erlebnis die geschichtliche Dimension anzudeuten und ein Geschichtsbewusstsein zu vermitteln, das im Konkreten das Allgemeine erfasst.

Historiker konstatierten, dass es nach dem Ende des Ersten Weltkrieges im November 1918 keine Möglichkeit gab, sinnvoll an die vorausgegangenen Zeiten anzuknüpfen.3 Kulturgeschichtlich orientierte Untersuchungen verdeutlichen jedoch tiefgreifende Verflechtungen und Traditionen, die Schwerpunkte für das Verständnis eines historischen Ablaufs formen.4 Die Literatur verdeutlicht die Problematik in historischen Untersuchungen, die sich mit der Frage auseinandersetzen, inwiefern objektive, faktische Darstellungen der Vergangenheit überhaupt möglich sind oder ob jedes Urteil von persönlichen Erfahrungen der Wissenschaftler beeinflusst wird.5 Die kritische Aneignung, Distanzierung und tiefgreifende Umwertung der historischen Bewusstseinslage verläuft in drei Phasen. In ihrem Ablauf setzt sich die Erkenntnis durch, dass jede Erinnerung an und Auseinandersetzung mit der Vergangenheit von der jeweils gegenwärtigen gesellschaftlichen Umwelt mitbestimmt wird. Individuelle und kollektive Erinnerungen hängen von den zeitbedingten, zurückliegenden und gegenwärtigen Umständen ab. Die Entwicklung setzt nach 1945 in den Auseinandersetzungen mit der deutschen NS-Vergangenheit ein, wird in der Literatur der sechziger bis achtziger Jahre in der Fragestellung erweitert und prägt literarische Ortungen und möglicherweise das Selbstverständnis einzelner Autor(inn)en bis heute. Begrifflich schließt die Denkform Fragen von persönlicher Verantwortung, sittlichem Handeln wie auch Schuld und Sühne ein. Die Entwicklung mündet schließlich in die eigenartige Situation, in der die Vergangenheit scheinbar unvermittelt in die Texte hineinredet, zur Kurzformel für eine alle Deutschen belastende Erbsünde geworden ist, aber zugleich im Blick zurück zum Ausgangspunkt einer kritischen Auseinandersetzung mit der eigenen Zeit wird.

Die Vergangenheit lebt auf, sobald Autor(inn)en Figuren entwerfen, die über sich nachdenken und ihr persönliches Selbstverständnis entwickeln, das sich nicht von dem nationalen Selbstverständnis trennen lässt. Diese Vergegenwärtigungen haben eine gemeinsame historische Substanz. Sie sind einerseits individualisiert, da Erzählungen die Ereignisse aus der Perspektive und Erlebnissphäre Einzelner gestalten. Andererseits erhalten sie eine Abstraktion des Allgemeinen oder Typischen durch die unterschiedlichen Erzählverfahren, durch eingeflochtene Kommentare und Fragen an die vorausgegangene Generation, die manchmal zu Familienzerwürfnissen führen. Fragen, Dialoge und Selbstgespräche erweitern die historische Sicht, in der sich dann ein mögliches Verstehen der Geschichte anbahnt. Darüber hinaus stoßen die Darstellungen auf schwer zu beantwortende Fragen, die die nationalsozialistische Vergangenheit betreffen. Die gegenwärtigen politischen Debatten über Schuld, Verbrechen, Nazi-Opfer, Holocaust, aber auch Schlussstrich, einseitige Stilisierung und Anklagen gegen die Tätergeneration, sowie Erkundung der Leiden einer verführten Generation wiederholen sich in den Erzählungen.

Die Befragung der Vergangenheit nimmt vielfältige Formen an. Sie kann direkt erfolgen, indem die Handlung in die Vergangenheit verlegt wird. Darstellungen erwecken zuweilen, besonders wenn sie auf historisch belegbare Ereignisse zurückgreifen, den Eindruck realistischer Berichterstattungen. Deutlich erkennbar sind markante stilistische Unterschiede zwischen kritisch reflektierten Auseinandersetzungen und Schilderungen von Kriegserlebnissen, die versuchen, authentisch überzeugend, aus der Nahperspektive Ereignisse festzuhalten. Die Nahperspektive verwickelt Leser. Der Anspruch auf Authentizität – ich sehe, fühle, spüre – ist besonders deutlich ausgeprägt in der Kriegsliteratur. Er verbürgt, dass das Vergangene im Text, belegt durch Dokumentationen, die sich auf eigene Erlebnisse, Aussagen von Zeitzeugen, Briefe und Nachrichten aller Art (Zeitungen, Radio, Wochenschauen) stützen, zuverlässig und glaubwürdig festgehalten ist. Die eingehende Untersuchung der Kriegsliteratur zeigt jedoch einerseits Rückgriffe auf tradierte Motive in der Kriegsthematik, andererseits dass das Gedächtnis der Autoren nachhaltig individuell gefärbt ist. Die Befragung ist ferner integriert in Generationskonflikten, die ihren Ursprung in der Sensibilisierung für die politische Vergangenheit haben; sie kann im Mittelpunkt von Identitätskrisen stehen; sie bildet den Rahmen für autobiographische Darstellungen, die das Verhältnis Einzelner zum historischen Geschehen thematisieren; sie ist oft verknüpft mit primären Themen (Anpassung; Entwicklungsthematik; Holocaust; Reifung; Selbst- und Welterkenntnis) und Motiven (Konflikte zwischen Eltern und Kindern bzw. zwischen Vater und Sohn oder Tochter). In Auseinandersetzungen mit der jüngsten Vergangenheit des geteilten Deutschlands kommen hinzu: Utopie und Verlust der utopischen Vision; alle Bereiche des Alltagslebens im sozialistischen Staat; Stasi und Spitzelunwesen. Die erstaunliche Sensibilität für die politische Vergangenheit ist nicht auf deutsche Autoren und Autorinnen begrenzt, sondern gehört zum Gesamtbild der deutschsprachigen Literatur. Einerseits regt die Bestandsaufnahme der gegenwärtigen Situation zur Befragung der Vergangenheit an. Andererseits entwerfen zahlreiche Autoren Erzählungen, in denen die Vergangenheit als wirksames Kolorit für das Geschehen dient.

Der Anspruch, authentisch zu berichten, ist außerdem besonders ausgeprägt in fiktiven historischen Erzählungen, die sich auf Lebensläufe unbekannter, vergessener oder umgedeuteter „Personen“ konzentrieren. Das Verfahren, klar ersichtlich in Geschichten von Wolfgang Hildesheimer (Marbot. Eine Biographie. 1981), Christoph Ransmayr (Die Schrecken des Eises und der Finsternis. 1984) und Horst Stern (Mann aus Apulien. Die privaten Papiere des italienischen Staufers Friedrich II. 1986), stellt eine Figur in den Schnittpunkt des Geschehens, die keine Spuren hinterließ und deshalb von Historikern übersehen wurde. Diese Erzählungen verwischen bewusst die Grenze zwischen Geschichte, Vergangenheit und Fiktion.

In anderen Darstellungen erscheint zuweilen die Gegenwart aus der Perspektive einer erstrebenswerten ausgeglichenen Gesellschaftsordnung. Die Vergangenheit dagegen erweckt den Eindruck einer unabgeschlossenen Akte. Sie prägt die Gegenwart und kommt deshalb in manchen Texten in Ereignissen oder Reflexionen der Erzählstimmen unvermittelt zu Wort. So entsteht der Eindruck, die Geschichte rede noch immer in alles Geschehen hinein. Die Gespräche verleihen den Figuren aus der Vergangenheit plastisch-realistisches Sein. Sie geben den Verstorbenen, den Stummen und denen, die zum Schweigen verurteilt waren, die Stimme zurück. Die Autor(inn)en versetzen sich in die Lage der direkt Beteiligten, der Opfer, Täter, Mitläufer und aller, die innerlich das Regime ablehnten, aber den Umständen erlagen. Sie verfolgen den eigentümlichen Sachverhalt, dass die Vergangenheit selbst früher für die damals Lebenden Zukunft und Gegenwart war. Der Dialog mit der Vergangenheit vermittelt Eigenheiten des Denkens, die dem Erkenntnisvermögen des Publikums entgegenkommen. Es erkennt im Lesevorgang seine eigenen Bemühungen, historische Entwicklungen zu begreifen. Darüber hinaus schließt der Appell an verantwortliches Handeln in der Andeutung, dass das Leben Einzelner in der sozialen und historischen Vernetzung letztlich sinnvoll sein kann, sowohl Sinnsuche und Sinnstiftung ein.

Rückblenden, besonders in Texten, in denen die Figuren mit Fragen des Selbstverständnisses ringen, erwecken zuweilen den Eindruck der Zwangsfixierung. In Wolfgang Bächlers Erzählung Im Schlaf. Traumprosa (1988) greifen Entsetzen und Angst vor dem Terror auf die Gegenwart über und werden zur permanenten Bewusstseinslage. Der Träumende fürchtet Beamte, Funktionäre, sterbende Menschen und die verrinnende Zeit. Er spürt wie er erst in eine Uniform gesteckt und dann ins KZ verschleppt wird. Er ist auf der Flucht, irrt hilflos umher und wird beraubt und gefoltert. Schließlich schlagen ihm Soldaten einer Besatzungstruppe die Zähne aus. Die Vergangenheit wird zum Bild des Schreckens, das sich zeitlos wiederholt. In anderen Texten kommt es unvermittelt zu Beobachtungen, die an Tagesnachrichten und vorausgegangene Literaturdiskussionen anschließen oder Familiengeschichten aufgreifen. So stolpert beispielsweise Ersiës in Matthias Zschokkes Erzählung ErSieEs über die Schwelle eines Süßwarengeschäfts und muss an den stolpernden Großvater denken. Die Vergangenheit infiziert den Sprecher; der elliptische Abriss der Vergangenheit mündet in ein eigenes Schuldgefühl. „Großvater hat trübe Augen Großvater war im Widerstand Großvater furzt bei jedem Schritt Großvater braucht zwei Stöcke zum Gehen So ein vierfüßiger Schritt braucht seine Zeit Großvater war Oberarzt im Untergrund Großvater hat noch Paul Lincke kennengelernt Großvater ist ein Original Großvater besitzt ein Original Großvater fährt einen Thunderbird Großvater war ein Arbeiter Ich stamme aus richtigem Arbeitermilieu Großvater hat sich beinahe verschworen Großmütterlein ward umgebracht von eurer bösen Nazimacht damit verdien ich Geld denn ich erzähl’s der Welt … / Hoppla. / Eben wollte sie ‚ihrer Betroffenheit Ausdruck verleihen bezüglich Kollektivwahnsinn, geknechtetgefoltertgekettetgegeißeltgedemüdigt, Auflehnung, Empörung, Verzweiflung, Anklage‘.“ Zschokke fährt fort mit der Feststellung, dass immer Dolmetscher zur Stelle sind, die „übersetzen und verzeihen“ werden.6

Sicherlich gab und gibt es für die Literatur nie absolute Zäsuren und für thematisierte Geschichtsereignisse keine Nullpunkte. Die Literatur nimmt Stellung, verarbeitet und gestaltet die Weltkriege, die Weimarer Republik, Hindenburg, Hitler, Gleichschaltung, Kristallnacht, das Dritte Reich, Holocaust, Nürnberg, das geteilte Deutschland, die neue Welt. Christoph Hein konstatiert in seinem Essay „Die Zeit, die nicht vergehen kann oder Das Dilemma des Chronisten“, dass das Vergangene beständig gegenwärtig ist. „Ich jedenfalls bezweifele, daß es das Wesen der Vergangenheit ist, nicht Gegenwart zu sein. Im Gegenteil: Vergangenheit ist der unveränderbare, sichere und weitgehend auch gesicherte Teil unserer Gegenwart, freilich auch der durch seine Unveränderbarkeit, durch die Unmöglichkeit jeder nachträglichen Korrektur beunruhigendste und verstörendste Teil unserer Gegenwart. Denn Vergangenheit vergeht nicht, kann nicht vergehen, so wie die Toten nicht sterben und kein zweites Mal begraben werden können.“7 Die Befragung der Eigenart des Vergangenen steht mitunter im Mittelpunkt einzelner Erzählungen, die Lebensläufe in auf- oder absteigender Linie aus den dreißiger, den vierziger und den Kriegsjahren schildern. Sie taucht sporadisch in der Kriegsliteratur auf. Sie klingt im Schrifttum an, das sich mit der deutschen Vergangenheit auseinandersetzt oder alternative Geschichtsabläufe schildert. Die Antworten vermitteln einen ausgezeichneten Einblick in die wechselnde geistige Verfassung der Autoren und Autorinnen seit 1945. Sie sind vereinzelt als Augenzeugenberichte simplifiziert. Sie schwingen gelegentlich mit in der Reaktion von Figuren, die entweder verstummen oder Fragen kopfschüttelnd mit dem Hinweis ablehnen: „das können nur die verstehen, die das selbst erlebt haben.“ Die Hinweise und Erklärungen erhöhen durch die Verknüpfung von Vergangenheitsbewältigung, Schuld, möglicher Sühne und Vergebung die Spannung in vielen Texten. Sie durchkreuzen literaturkritische Urteile. Sie fordern das Lesepublikum zur Stellungnahme auf. Sie regen an, belasten und verlangen ethische Entscheidungen.

 

Die Literatur beleuchtet die Verflechtung von Stoff, Sujet, Thema und Motiv.8 Dieser Sachverhalt ist deutlich in Texten, die in der Vergangenheit verankert sind. In einigen überwiegen die mit der stofflichen Substanz verknüpften Vorstellungen, beispielsweise Krieg, Heimkehrer, der gute Kamerad, der böse Feind, Seeschlacht, Auschwitz, Stalingrad, Leningrad oder Dresden. In anderen wird ein klar umrissenes Sujet (Heimkehr ins Reich, Holocaust) zum dominanten Funktionsträger. Die Gegenwartsliteratur verdeutlicht: das Thema Vergangenheit umfasst eine enge, möglicherweise unlösbare Bewusstseinslage, in der Verirrung, Verneinung, individuelle und kollektive Schuld, Bewältigung, fiktive Darstellung und selbst ins mythische gesteigerte Konzeptionen anklingen. Die literarische Dokumentation und die „authentische“, fiktiv verarbeitete Vergangenheit setzen dem Text angemessene Akzente und berücksichtigen „tatsächliche“ Ereignisse primär, wenn sie die im Text gestalteten Verhaltensweisen motivieren. Jeder historische Ausschnitt enthält in der konkreten Darstellung eine angemessene Abstraktionsebene. Detaillierte Rekonstruktionen der Leiden und Freuden, der Erfolge und Misserfolge und der wechselnden Vorstellungen geschichtlicher Ereignisse verleihen den Darstellungen nicht nur große Anschaulichkeit, sondern vermitteln auch Einblicke in das Verstehen historischer Prozesse der direkt Beteiligten. Außerdem lassen Texte Rückschlüsse auf das geschichtliche Verständnis der Autor(inn)en zu. Die Untersuchungen von Texten in den folgenden Kapiteln belegen drei Aussageformen: (1) das Verständnis der Figuren in Texten und das der Autor(inn)en bilden eine Einheit; (2) unterschiedliche und widersprüchliche Vorstellungen veranschaulichen ungelöste Widersprüche; (3) das Dialogverfahren im Erinnerungsdiskurs verweist auf den Sachverhalt, dass historische Prozesse aus der Sicht der Beteiligten kaum durchschaubar wirken, aus der Perspektive der Erzähler jedoch erklärbar sind.

In Texten der Gegenwartsliteratur, in denen der Zweite Weltkrieg entweder das Geschehen maßgebend bestimmt oder in direkten und verhüllten Hinweisen anklingt, bestehen weiterhin gravierende Unterschiede, da diese von ehrenden Erinnerungen bis zu kritischen Abrechnungen reichen. Für den Abriss der Tendenzen in Schilderungen des Krieges und der Kriegsjahre sind drei Aspekte der vorausgegangenen Literatur relevant. Eine beachtliche Reihe von Kriegserzählungen vermittelte positive Vorstellungen heroischer Leistung, des guten Kameraden und der Verteidigung der Heimat. Vergleichbare Darstellungen bestehen nach 1945 fort in Erzählungen, die das Leid der Kriegsgefangenen, der Flüchtlinge und der Bevölkerung in den bombardierten Städten beleuchten. Zugleich entsteht eine Denkform, die im historischen Geschehen des Krieges ein Verhängnis für alle Beteiligten sieht, und in der Mahnung, das dürfe sich nicht wiederholen, einen Appell an das Gewissen enthält. Drittens verfolge ich die Richtung der Objektivierung dieses Denkens im Zusammenspiel der Forderung nach persönlicher Verantwortlichkeit und dem Anspruch auf Authentizität der biographischen und literarischen Darstellung. Der Anspruch wird deutlich in den Spielarten dokumentarischer Literatur, in der Beglaubigung durch Augenzeugen, in eingeflochtenen Tatsachenberichten und historisch belegbaren Fakten, die die Fiktionalität der Texte bewusst verwischen.

Aufarbeitungen der Vergangenheit nehmen vielfältige Formen an. Vergangenheit bedeutet nicht nur das historische Geschehen, sondern auch Kindheitseindrücke und das Leben im kleinen Kreis. In den Erzählungen von Bernhard, Burger und Monioudis erscheint die große Welt im Spiegel der Ereignisse in Ortschaften, die die Größe einer Briefmarke haben. Regionale Landschaften oder Städte in Erzählungen von Horst Bienek (Gleiwitz), Uwe Johnson (Mecklenburg), Siegfried Lenz (Ostpreußen) und Günter Grass (Danzig) sind gleichzeitig Schwerpunkte der historischen Ereignisse und Symbolträger für existenzielle Grunderfahrungen. Die Autoren geben der Zeitperspektive einen typischen Gehalt und verwandeln zugleich einzelne Regionen in exemplarisch literarische Landschaften, in denen Menschen die historischen Ereignisse erfahren, die das Jahrhundert prägten. Die einzelnen Erlebnisse der Personen werden zu kollektiven Erfahrungen stilisiert.

In Texten, die zu uns sprechen, ist die Vergangenheit immer auf die Gegenwart und Zukunft bezogen. Beim Nachdenken darüber, wie es möglich sei, die Kindheitsperspektive zu erfassen, beobachtet Burger: „Auch die drei Komponenten, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, was autobiographisch wahr und somit richtig, oder sagen wir etwas modester rückblickend überhaupt erkennbar ist, hängt davon ab, wie ich heute lebe und was mich morgen erwartet …“9

In Rückblicken auf die jüngste Vergangenheit zeichnet sich das Bestreben ab, das Wesen der Erinnerung, den Vorgang des Erinnerns, zu präzisieren. In jeder erweiterten Perspektive umfasst das Erinnern Fragen persönlicher Verantwortung, von Verschuldung und Verjährung, von möglicher Sühne und einem wünschenswerten Vergeben. Die Voraussetzung für jede Erkundung der Vergangenheit ist und bleibt, wie Hanns-Josef Ortheil feststellt, die Präzision des Schreibens. Die Aufgabe ist „der Sprachlosigkeit das präzise Wort, den ungeordneten die geordneten Bilder“ gegenüber zu stellen.10 Diese Gewissenhaftigkeit in der Auslegung des „real-fiktiven“ Raumes bestimmt gleichermaßen das Geschehen in Erzählungen und Stücken, die auf die Antike zurückgreifen oder alternative Vergangenheitsbilder entwerfen. Die Rückgriffe auf die Antike umfassen unter anderem Nachdichtungen, Neuschöpfungen und Wiederbelebungen. Außerdem lassen sich in der Gegenwartsliteratur Versuche nachweisen, Figuren wie etwa Galatea, Kassandra, Laokoon, Odysseus, Medea, Medusa, Pasiphae oder Priapos auf die Gegenwart zu beziehen und umzudeuten. Besonders aufschlussreich sind Auslegungen der menschlichen Gegenwartssituation im Spiegel der Vergangenheit. Von besonderer Bedeutung ist die Tatsache, dass es sich bei diesem Vorgang nicht nur um Anschluss und Erneuerung einer Tradition handelt. Stattdessen dienen die Rückgriffe dazu, in symbolisch mythischen Handlungsräumen gegenwärtige politische und gesellschaftliche Krisen in der Form existenzieller Entscheidungen zu gestalten.

Antike und Gegenwart, Cotta, Ovid, Fontane und eine alte Frau, Rom und Preußen: die Vergangenheit ist Gegenwart, sie ist ein weites Feld, ein unabgeschlossenes Kapitel. Die Erzählungen von Christoph Ransmayer und Günter Grass beleuchten diesen Sachverhalt. Als Mein Jahrhundert 1999 erschien, betonte Grass in einem Interview: „Ja, nehmen Sie den ersten Satz des Buches: ‚Ich, ausgetauscht gegen mich, bin Jahr für Jahr dabeigewesen.‘ Das heißt, ich schlüpfe in Rollen, ganz verschiedene: männlich, weiblich, alt, jung. Ich blicke auf dieses Jahrhundert aus der Perspektive von Menschen, denen Geschichte widerfährt. Es sind nicht die großen Handelnden, von denen ich erzähle, sondern die Mitläufer und Opfer.“11 Diese Perspektive verwandelt schließlich die Erzähler in Historiker, welche die Vergangenheit im Alltag beleben und selbst das kaum Denkbare schildern. Gemeinsamkeiten und Divergenzen bestimmen Rückblick und Ausblick. Die gravierenden Unterschiede in Gestaltungen der Gegenwart und der Vergangenheit sind offensichtlich im Erfahrungshorizont der Figuren in Erzählungen von Ransmayr und Grass.

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