MAUL VERNIMMT

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MAUL VERNIMMT Frankfurter Wache

Hinrich Schroeder-Hohenwarth

published by: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

Copyright: © 2012 Hinrich Schroeder-Hohenwarth

ISBN 978-3-8442-2614-0

INHALT

Marlene füttert die Tauben

Konkurrenten

Joss

Platz für alle

Jonny Maskottchen

MARLENE FÜTTERT DIE TAUBEN

Sie haben sich bestimmt schon mal gefragt, weshalb die Polizei diese ganzen Penner nicht einfach abräumt, - ich meine: einsammelt und wegschließt oder wenigstens in die Obdachlosenasyle bringt. Da können die dann von mir aus ihren Rausch ausschlafen oder sich wenigstens mal waschen.

Wahrscheinlich haben Sie auch schon mal beobachtet, daß der eine oder andere tatsächlich verschwunden ist, wenn sie morgens über die Mainbrücke kommen. Dann ist die Parkbank bei der DLRG-Wache frei, und ein übriggebliebenes Liebespärchen verkriecht sich ineinander vor der Morgensonne. Oder ein wohnsitzloser Pole redet ganz manierlich mit den Möven. Die sitzen aufgereiht mit dem Schnabel zum Wind und dösen. Hinten im Sandkasten liegt noch ein gelber Eimer.

Aber einen oder zwei Morgen später liegt der wieder da auf der Bank, der Penner. Am Anfang sieht er ja noch ordentlich aus, liegt auf der Seite, abgetragener Mantel, aber sauber. Die blaue Hose nur etwas zerknittert vom Liegen, vier Plastiktüten zwischen Bauch und Lehne eingeklemmt. An Schuhsohlen und Absätzen sehen Sie: aus der Kleidersammlung; immerhin, es geht. Später aber, nach einer Woche höchstens, können Sie es dann schon von weitem riechen: dieselben Socken, dieselbe Hose, derselbe Mantel, dreckig, fleckig, durchgeschwitzt, seit Tagen ungewaschen. Sie sehen den roten Ausschlag am Hals, auf den Händen Schorf; die leeren Flaschen liegen im Einkaufswagen, das Glas klimpert auf dem Drahtgestell. Also fragen Sie sich: Wenn das doch einmal geht und immerhin eine Woche recht und schlecht funktioniert, warum nicht immer so?

Die Antwort ist einfach: Die Polizei hat Angst. Nicht solche Angst wie vor Junkies oder den Rausschmeißern in der Elbestraße, wo es schon mal Prügel geben kann. Die Polizei hat vor den Pennern Angst, weil die den ganzen Dienstplan durcheinander bringen. Und ich sage Ihnen: das braucht Tage, so etwas wieder einzurenken. Dagegen gehört so eine Schlägerei zum normalen Geschäft, jedenfalls für meine Kollegen. Aber so ein Penner! – Besser, man läßt ihn, und wenn es zu schlimm wird, hilft meistens schon ein Hinweis bei der Abteilung "Wohnsitzlose", und wenn die überlastet sind oder der Penner noch nicht wieder lange genug Platte gemacht hat, dann findet sich vielleicht noch ein unerfahrenes und ehrgeiziges Mitglied bei der Heilsarmee oder so.

Besonders elegant läßt sich das Problem auch schon mal in Zivil lösen, hat Maul erzählt. Nämlich hat er neulich an einem Samstag einen solchen Bruder in die Stadtbäckerei am Lokalbahnhof eingeladen. Das war wirklich filmreif, stelle ich mir vor. Also, da stehen in dieser Gegend immer die Leute mit dem "Wachtturm" 'rum und versuchen, einen beim Brötchenholen zu erwecken. Natürlich hat der Bäcker den stinkenden Kerl sofort vor die Tür gesetzt. Maul hat was von mangelnder Solidarität gemurmelt, gezahlt und ist hinterher. Um die Ecke stehen zwei Zeugen Jehovas, besser eine junge Zeugin und ein älterer Zeuge. Maul bittet den Zeugen, seinen Gast zu erwecken. Verdutztes Schweigen. Die zwei Hände klammern sich um das Erleuchtungsblättchen. Maul sagt, daß er leider anderswo gebraucht wird und auch sehr ungeeignet ist, für die Errettung Schiffbrüchiger und so weiter. Sofort erkennt Mauls stinkender Gast die Chance und bittet um Hilfe jeglicher Art, während er sein restliches Brötchen mümmelt. Der Wachturm-Mann ist also völlig überrumpelt, und Maul entfernt sich.

Natürlich war seine Schadenfreude in diesem Moment noch viel größer als seine Vorfreude, beim Dienstantritt am Montag einen Penner weniger im Revier zu haben. Aber solchen verbotenen Freuden folgt bekanntlich sehr rasch die verdiente Strafe. Als Maul nämlich schnell die beiden Zeugen mit ihren Blättchen und dem Penner stehen lassen wollte, sah er noch einmal ganz routinemäßig die Frau an und die ihn, aber irgendwie besonders. Jedenfalls muß die Frau gesehen haben, daß Maul ein ganz und gar rettungsbedürftiger Zeitgenosse ist, geradezu eine Erleuchtungsprüfung, während Maul gleich am nächsten Montagmorgen mit dem Kaffeebecher in der Hand über die Verführung so vieler junger Leute durch die Sekten redete. Ich kenne den Maul inzwischen schon ganz gut: Der war einfach hin. Natürlich muß er sich als Polizist besonders für den Schutz von gefährdeten Minderheiten einsetzen, zum Beispiel von Pennern oder Glaubensbrüdern. Zufällig war nun diese junge Zeugin nicht nur gläubig, sondern auch ziemlich reizvoll.

Überhaupt sind die Pennerinnen viel gefährlicher als die Penner. Und ohne diese etwas ausführliche Vorgeschichte würden Sie bestimmt nie verstehen, warum Maul gerade Marlene aufs Revier schleppen mußte. Zugegeben: Sie war notorisch, - fast in jeder Beziehung. Saß im Sommer laut schimpfend auf der Bank hinter dem Spielplatz, fütterte die Tauben mit Getreide aus dem Reformhaus, räumte unablässig in ihren Rucksäcken und Tüten, ließ die Wollstrümpfe rauf und runter, daß jeder ihre Krampfadern sehen konnte. Lag auf dem Rücken im Gras und turnte wegen ihrer Bandscheibe oder schob mit ihrer schwerbeladenen Kinderkarre rum und brüllte die Leute an. Ja, Marlene brüllt eigentlich pausenlos. Das ist das Schlimmste. Dabei hat die Frau einen Wortschatz, überhaupt eine Art zu reden, - unbeschreiblich. Und noch an einer anderen Stelle, da ist sie ganz notorisch: Sie riecht immer nach Parfum, allerdings nach sehr viel Parfum, also schon von weitem, so, wie man sie auch von weitem schon hört. Irgendwie paßt das bei Marlene zusammen.

Und sie trägt immer einen langen, weißen Schal, möglichst mit breiten Fransen. Im Sommer, wenn es heiß ist, legt sie ihn über Schultern und Arme, nimmt die langen Enden locker in die Hände und geht dünn und kerzengerade auf dem Plattenweg vor dem Bunker hin und her, dass es nur so weht, sagt Maul. Und zum Klappern ihrer Absätze ruft sie dazu manchmal einzelne Wörter in die Luft, im selben Rhythmus, sagt Maul, nur ganz kurze, wie "ruck zuck", "weg" und "auf der Streck". Ich bin noch nicht so lange dabei, daß ich sie schon so gesehen hätte. Ich kenne nur den Mann mit dem weißen Bart, der mich seit dem Tag im Oktober immer ausschimpft, als er in seinen Pantoffeln an uns vorbeigeschlurft kam und die Flasche Zitronenlimonade unter seinem Arm vergessen hatte, als er Maul militärisch grüßte.

Als ich hier anfing, trug Marlene den weißen Schal jedenfalls immer um den Kopf, wie einen gewaltigen Turban, mit den herunterhängenden Fransen oder Quasten rechts und links als Ohrenschützer. Wo sie bleibt, wenn es richtig kalt wird, weiß auch Maul nicht. Den Frühling hört man jedenfalls schon früh an der "Nizza" und der "Schönen Aussicht", auch wenn man von ihm noch nichts sieht. Da rennt sie dann wieder rum und wütet.

Marlene füttert nicht einfach Vögel, sondern nur die Tauben. Gerade in den Altbaugebieten haben die Leute aber wieder Angst vor Taubenzecken. Junge Mütter glauben, ihre Kinder kriegen Hirnhautentzündung, Milben , Krätze oder beschweren sich beim Schornsteinfeger, weil ein Kamin nicht zieht. Natürlich hat sich irgendwo eine tote Taube verklemmt. Auch das Denkmalamt macht schon mal Meldung, weil "Goethe I" in der Taunusanlage wieder dermaßen mit Taubenschissen zugedeckt ist, daß die Busse von der Stadtrundfahrt nur noch vorbeirollen. Kein Halt mehr zum Fotografieren.

Trotzdem: Ältere Leute zeigen Pennerinnen eigentlich nie wegen Taubenfütterei an. Eher schon wegen unflätiger Beschimpfungen oder heruntergelassener Strümpfe. Diesmal war es jedenfalls eine jüngere Tagesmutter, die darauf bestanden hatte, daß Marlene in Gewahrsam genommen wird, sagt Maul. Was war passiert? Natürlich war es nicht nur der schleimige, weißliche Kot mit dem grauen Endkringel auf den Gehwegen und bei den Sandkästen, und bestimmt war das mit der besonderen Verantwortung für die drei fremden Kinder von der Tagesmutter auch nur vorgeschoben. Wahrscheinlich sind die beiden Frauen irgendwie persönlich aneinander geraten. Denn Maul sagte mir noch vor der Vernehmung, daß er die beiden mühsam trennen mußte, damit sie sich nicht vor den Kindern verdreschen. Dann ist die Marlene aber gleich auf ihn losgegangen, und da hat er sie dann eben vorläufig festgenommen.

Tatsächlich hat Marlene, kaum war sie auf dem Revier, sofort dermaßen getobt, daß wir sie erst mal in die Arrestzelle gesteckt haben, zur Beruhigung. Trotzdem glaube ich heute, daß Maul sie eigentlich für sich mitgenommen hat, weil er seinem Fräulein Zeugin von der Erweckung mal vormachen wollte, wie man einen Menschen richtig erleuchtet. Aber erst mal mußte ich noch Protokoll führen.

Kaum saß Marlene, war das Zimmer auch schon randvoll mit dem Geruch von fünf Operndivas und mindestens drei Primadonnen. Die ganze Zeit hatte sie die Hand an ihrem achträdrigen Geländebuggy und schob ihn unablässig hin und her, daß die herumbaumelnden Plastiktüten laut raschelten und knisterten. Mich machte das wahnsinnig, aber Maul ließ sie reden und musterte den Plunder, der sich im Laufe der Zeit in der Karre angesammelt hatte. Maul dachte wohl, das Reden gibt sich. Vielleicht versuchte er auch, ihr nervtötendes Gelärme zu überstehen, indem er sich tot stellte. Denn wenn Marlene redete, dann redete sie so laut, daß niemand, wirklich niemand sie nicht hören könnte.

Gleich zu Anfang kam Jordan, der Vertreter von Bannasch, ganz erschrocken rein. Der kümmert sich sowieso nur um unsere Arbeit, wenn sie ihn stört. Also tippte er sich an die Stirn und verschwand sofort wieder. Wenig später brachte dann auch noch Kollege Holtz einen Zettel: 'IDIOT! ' stand drauf. Wirklich: mit Marlene in der Nähe war an Arbeit nicht mehr zu denken. Das wußte Maul doch, aber wahrscheinlich hatte er ja von Anfang an was ganz anderes mit ihr vor.

 

"Kopulation statt Kompromiß" keifte sie los. "Hören Sie? Marlene hat der Dame nur gesagt: Kopulation statt Kompromiß! Was für ein Schwachsinn, fremder Leute Kinder zu hüten, statt selbst welche zu kriegen. Marlene würde sofort noch mal, wenn sie nicht schon eines gehabt hätte. Sofort. Anstatt sich als Kinderputzer zu verkaufen, an wildfremde Frauen. Marlene putzt nur ihren eigenen Hintern, außer früher natürlich, den von ihrer Maria. Natürlich, Freundchen. Also: Keine Kompromisse. Hör zu! Sie meinte, 'Kompromiß ist Koproschiß"'.

Marlene redet von sich immer wie von einer anderen Person. Das hatte Maul mir schon beim ersten Mal gesagt. Jetzt wollte Maul wissen, was die Tagesmutter an Marlenes Aufforderung zur Kopulation denn so aufgeregt hätte. Aber die Frage kam ziemlich ungeschickt, so daß Marlene anhaltend wie ein Esel in ihr Rauchergelächter ausbrach, überhaupt nicht aufhören wollte, dann plötzlich aufstand und: "Doppelverlierer" rief. "Sie Doppelverlierer, Sie", mit einer vernichtenden Handbewegung dazu. "Natürlich denken Sie nur an Tennis, Sie Traumbell! Man sieht es an Ihren Augen. Aber alles Quatsch, Sie Polizei, Sie! Keine Ahnung von Verbrechen, aber einfangen. Jeder normale Mensch macht seine Erfahrungen und wendet sie auch an. Aber Ihr wollt ja sauber bleiben. Also seid Ihr die Dummen. Bis viertel nach acht, dann ist endlich Euer Tatort. Muß doll sein, jede Nacht mal richtig auf Mord zu gehen, - natürlich nur mit den Augen. Ein Bulle, der Krimis sieht, das ist doch wie ein Wichser vorm Spiegel. Also sagt sie ‚Doppelverlierer!’ Die Penner seid Ihr. Ihr seid die Penner."

"Du hast wieder die Tauben gefüttert, Marlene, auf dem Spielplatz." "Was geht es Euch an?" "Wo die Kinder am Boden rumkrabbeln und in die Taubenschisse fassen." "So?" "War es so?" "Woher soll sie das wissen, kann sein, kann nicht sein. Haben Sie denn noch nie Tauben gefüttert?" "Vielleicht, aber nicht auf dem Spielplatz." "Sie hat recht! Sie haben eben keine Ahnung, überhaupt keine Ahnung, was das für ein Spielchen ist. Aber uns Vorschriften machen, abfischen, einseifen, wegschließen, das könnt Ihr. Mensch, Maul, merkst Du denn nicht, daß Du überhaupt keinen Aufschlag hast?" "Was soll das heißen: Aufschlag?" "Na Aufschlag eben, das Spiel machen, gib mir mal 'ne Zigarette rüber. Keinen einzigen hast Du. Rennst nur rum und belästigst alte Frauen." "Marlene, Du weißt doch genau, weshalb Du hier bist." "Marlene weiß alles genau, Herr Maul. Sie sind der Doppelverlierer, und Marlene ist zum Tode verurteilt."

So ungefähr ging das Gespräch. Es war ganz und gar unmöglich, mit Marlene eine normale Vernehmung zu machen. Man kam einfach nicht an sie ran. Ich meine, für sich war sie nie da, wo sie für uns war. Ich notierte mir trotzdem ein paar Stichworte, für den Fall, daß es kritisch werden sollte. Aber Maul gab mir auch kein Zeichen zum Mitschreiben, sondern lehnte sich jetzt mit einem Seufzer wieder zurück, als hätte er sich an einen früheren Vorsatz erinnert und ließ sie reden. Wenn sie nicht gerade an der Zigarette zog oder mit der Umschichtung ihrer Habe beschäftigt war oder den weißen Schal über die Schulter zog oder den Buggy umdrehte oder ans Fenster ging oder, oder, oder... Mir wurde nicht klar, worauf Maul hinauswollte.

"Warum fütterst Du die Tauben, Marlene?", fragte er ganz freundlich. Sofort schrie sie los: "Unrat, Walrat, Polizeirat!" sie fuchtelte mit der brennenden Zigarette vor seinem Gesicht herum. "Sie ist von Idioten umgeben. Sie hören nicht, was man sagt. Sie sagt: Walrat, Lampenöl, Erleuchtung. Hört sie denn keiner?" Sie wurde noch lauter, sprang in die Höhe. "Und da fragen Sie, warum sie die Tauben füttert, die Tauben, hören Sie, die Tauben? Man muß sie mit lauteren Worten füttern, damit sie genießbar werden. Aber sie wollen nicht hören, also muß man brüllen, bis man heiser ist."

Sie rannte zur Tür und trommelte mit den Fäusten dagegen. "Auch die Tauben brauchen doch Wörter, sonst denken sie nicht, Herr Maul. Aber man kommt so schwer in ihre kleinen Ohren, und dann machen sie lauter Unsinn aus dem, was man ihnen gesagt hat. Laufen einfach fort. Auch Nachrufe nutzen dann nichts. Also muß man sie wieder anfüttern. Marlene nimmt nur die besten Wörter, reine Wörter, kontrollierte Wörter. Die sollen sie fressen. Und dann wollen wir mal sehen, ob sie genießbar sind, die Tauben. Und da kommen Sie und wollen ihr das Rufen und Füttern verbieten, nur weil die armen sich gern an Spielplätzen versammeln. Und dann nimmt man Marlene mit, und sie muß die Tauben allein lassen, nur damit Sie fragen können, weshalb Marlene die Tauben füttert!"

Sie war rot angelaufen, zitterte und rang nach Luft. Dann stieß sie sich von der Tür ab und ging auf Maul los, so daß ich in meinem Schrecken nach Holtz und Frau Stödter rief. Aber Maul blieb sitzen, fing die dürren Arme von Marlene ab, wie ein widerspenstiges Geäst, und sagte zu den beiden Kollegen, als die Tür hastig aufging: "Okay, okay! Unsere Kleine muß sich noch ein bißchen beherrschen lernen. Alles in Ordnung, wirklich!"

Ich kriegte natürlich einen roten Kopf, und Marlene sagte: "Sie machen mir Spaß, Mädchen, haben Sie was gehört?" Ich nickte, und Marlene sah mich auf einmal richtig lieb an. Da platzten die beiden an der Tür los, daß es im Flur gellte und machten schnell wieder zu, damit man es nicht so laut hörte und sah, glaube ich.

"Wer lacht, hört erst recht nichts", sagte Marlene. Es war klar, daß an normales Arbeiten nicht zu denken war, so lange Maul sich mit ihr befaßte. Jetzt stand sie vor ihm, Pullover und Wollrock schlotterten, als sie heftig nach einer neuen Zigarette winkte. Auf dem weißen Schal lag ihr verschwitztes, bleiches Haar. Mit dem weiten Mantel hatte sie noch stark und sicher gewirkt. Jetzt sah ich aber, daß sie ein Klappergestell war und ein Ziegengesicht hatte, knochig, mit harten Kaumuskeln und schlaffen Falten den Hals herunter.

Sie setzte sich wieder und beugte sich vor. Maul gab ihr Feuer. Sie paffte, hielt die Zigarette zwischen ihrem knotigen Mittelfinger und dem Ringfinger. Ich sah die rissigen Schwielen auf den Fingergelenken.

"Schnöbe das Pferd oder böge und ginge der Atem ihm vom Maul, und feldwärts läge der Reif auf Fell und Schweif, dann wüßten wir: 'Winter' und salbten die Ski oder feilten die schnittigen Kufen der eisernen Gleiter." Sie sah zu mir herüber. "Man muß reden, meine Liebe, reden ersetzt dem Einsamen die Erfahrung, und woher weiß man schon als Einsamer, was eine richtige Erfahrung ist? Mit Reden ist man immer in Sicherheit, darauf kommt es an. Wenn Marlene nicht reden würde, dann wäre sie ein Sicherheitsrisiko, und Ihr wüßtet gar nicht, was Ihr tun könntet oder sagen oder machen. Einmal, früher, war sie sehr traurig, meine Kleine, da hat sie das Reden verschlafen, das war sehr gefährlich. Aber Marlene hat es überstanden, weißt Du, sie hat ihr selbstgebautes Sicherheitssystem angeschlossen, so ein wörterbetriebenes Satzkraftwerk, in dem sie sich ablebt, bis sie zu müde ist für die Angst. Verstehst Du? Der Arzt damals hat gesagt, sie soll mit dem Autistengequatsche endlich aufhören, weil sie doch gar nicht eingesperrt ist in diesem Innerweltskasten. Aber das war einer von den Leuten, die jeden Tag leben. Marlene nicht. Sie ist ein inniger Schiffbruch. Sieht der Seife an, wie sie nach Frömmigkeit schreit, und den Ästen, da vor Euerm Fenster, wie sie telefonischen Kontakt mit den Laternen aufnehmen. Ihr habt es denen doch vorgemacht. Sie haben es Euch abgeschaut. Aber Ihr hört einfach nicht zu."

Sie drückte die Zigarette aus. "Mit Euch zu reden, ist wie das Absenden unzustellbarer Briefe. Marlene weiß, sie redet zu Tauben, aber sie füttert Euch. Jeden Tag wirft sie Euch jede Menge pralle Wörter hin, und wir bleiben am Leben. Obwohl: Vielleicht braucht Ihr ganz was Anderes. Sie weiß es nicht. Vielleicht hört Ihr nur nachts gut. Wenn die Mondlampen an sind, hört Ihr die Lichter ganz laut, oder wenn nichts zu erklären ist, mimt Ihr ein tosendes Lächeln."

Weil es wohl leise geworden war, hatte Bannasch's Vertreter angenommen, daß Marlene endlich weg war und kam mit fürsorglicher Chefmine ins Zimmer. Kaum sah sie sich aber nach ihm um, ging es sofort los, wie am Anfang: "Sie Stummfilmplakat, Sie! Was stören sie uns hier beim Füttern? Sehen Sie zu, daß sie an Ihren Galgen kommen, den dreischläfrigen, damit sie Marlene auch kriegen, den Kopf und die Hüften und besonders die Beine!" Er machte eine völlig verwirrte Handbewegung: "Schreien sie doch nicht so laut." "Soll sie vielleicht leise schreien? Außerdem schreit sie überhaupt nicht, sie wirft nur weit. Sie wollen ja die Tauben nicht in der Nähe haben. Man darf nicht einmal mehr auf dem Spielplatz die Tauben füttern. Was kann sie dafür, daß Ihr Euch Eure Schreisieger selbst züchtet. So hundertfünfzehn Dezibel schreit sie bestimmt, damit sie genug kriegen, die Tauben."

Der Mann war schon erledigt, als Marlene sich mit Verachtung an Maul wandte. "Es geht auf zwölf", rief sie, "Marlene hat Hunger." Darauf schien Maul gewartet zu haben: "Wir können zum Bäcker gehen, drüben, im Stehen was essen." "Wir? Was meinen sie mit wir?" Maul sah zu mir herüber, ich nickte. "Nun, wir gehen eben rüber und essen 'ne Kleinigkeit zusammen. Sie, Frau Judatz und ich." Sie nickte und ging sofort zu dem Haken, an dem ihr Mantel hing. Maul half ihr, ganz Gentleman. Dann packte Marlene ihren Geländebuggy und rief: "Also! Wir gehen zum Bäcker!". Maul sagte nichts, ich ließ Stift und Protokollbogen liegen und nahm meine Jacke. Mir war schon hier drinnen kalt, und auch in der Sonne konnte es Anfang Mai draußen noch überraschend kalten Wind geben. Ich konnte mich nicht erinnern, daß Maul jemals in Begleitung einer aufgegriffenen Person Mittagspause gemacht hatte. Ich war auf alles gefaßt, was mit Marlene zusammenhing und die Dienstvorschriften außer Kraft setzte. Umgekehrt war Bannasch's Vertreter wahrscheinlich froh, daß die Vorschriften nun wenigstens auf dem Revier wieder zur Geltung kommen würden, wenn wir gegangen wären.

Auch in dem steinernen Treppenhaus gönnte Marlene ihrem Organ keinen Moment Ruhe, so daß ich schon dachte, ich kriege Zustände in dem lichtlosen Gemäuer. Aber als wir draußen waren, hörte der Druck auf den Ohren plötzlich auf. Marlene redete zwar pausenlos weiter, wahrscheinlich sogar noch lauter wegen des Verkehrs und der vielen Leute. Trotzdem schien es mir weicher und freundlicher, vielleicht hatte sie so das Sprechen gelernt. Ich meine: im Freien oder in großen Sälen vor Menschenmengen. Dazu quietschten die Räder von dem Buggy mit ihrem ganzen Hausstand. Ich fand wieder, daß alles zusammenpaßte und nichts Besonderes war.

Als wir gerade unter der neuen Eisenbahnbrücke waren, dröhnte oben drüber so ein klappriger Vorortszug aus Hanau oder Fulda. Aber Marlene schaffte es trotzdem, daß die Leute sich umdrehten und ihr zuhörten, als gäbe es sonst keinen Laut. Einige verglichen auch meine leichte Uniform mit ihrem Wintermantel und schauten nach dem Wetter. Man kann nicht sagen, daß ich mich richtig wohl fühlte in dieser Gesellschaft, aber doch gut genug, um schrecklich neugierig zu sein, wie das nun weitergehen würde. Dabei überquerten wir zunächst einmal die Hedderichstraße, und zwar so, daß der Buggy mit lautem Gepolter kopfüber ein paar Tüten in den Rinnstein entlud, worauf Marlene sich gestikulierend und schimpfend hinhockte und begann, mit dem langen Mantel im Straßendreck, alles neu zu verstauen.

Als der 961er sich näherte, gab sie dem Busfahrer nur ein Zeichen, etwas vor der Haltestelle zum Stehen zu kommen, und fuhr dann fluchend und schwitzend fort, ihre Wortkanonade auf die Tüten und Taschen abzufeuern. Als Passanten zu kichern begannen, stürzte sie mit hochgezogenen Schultern auf eine solche Gruppe los und redete eigentlich ganz normale Gedanken, aber so laut, daß jeder nur das Schlimmste dachte und erschrocken zu entkommen versuchte. Maul stand herum und tat unbeteiligt, machte höchstens mal mit dem Kopf ein Zeichen, daß man die Frau in Ruhe lassen sollte. Die Uniform sagte wohl den Leuten den Rest.

Schon von weitem sah ich auf der anderen Seite des Platzes die schöne Zeugin mit ihrem "Wachtturm" vor der Brust unter dem Vordach vom Bäcker, diesmal allein. In den geschützten Unterstand fiel schräg die Sonne und beleuchtete die streng zusammenstehenden Beine der jungen Frau hinauf bis zum Rocksaum. Kein Lüftchen bewegte ihre dunklen Haare. Ich dachte noch, daß sie mich an einen Star aus der Stummfilmzeit erinnerte, als eine lange Straßenbahn mit blitzenden Rädern das Bild zerschnitt. Die Frau war weg. Von diesem Moment an geschah alles wie im Flug.

 

Marlenes Gezeter schwoll plötzlich zu einer Art Ohrplattler an, und ich sah, daß Mauls Augen ganz irritiert nach der Zeugin suchten. Als wir über die eingepflasterten Bahngleise gingen, stolperte er, sagte aber nichts. Drüben vor dem großen Schaufenster faßte er Marlene am Arm und deutete nach drinnen. "Sag ihr, daß sie sich benehmen soll, vor allem nicht so schreien, wenn wir da drin sind." Marlene nickte. "Und laß bloß ihren Müllwagen draußen, ja?" Marlene schüttelte den Kopf. Maul ließ sie los und packte die Griffe vom Buggy. "Hör zu! Ich hab mir das vorgenommen und lasse es mir von niemandem kaputt machen. Wir haben nur die Chance, was zu essen zu kriegen, wenn das mein Wagen ist. Ich schieb ihn rein, Frau Judatz bestellt, und wir essen im Stehen, da am Tisch! Verstanden?" Marlene schüttelte wieder den Kopf. Aber sie schimpfte plötzlich nicht mehr, und was noch erstaunlicher war: Sie ließ Maul den Wagen, trotz der Angst um ihre Habe.

Maul schob den Wagen auf die gläserne Eingangstür zu; hinter ihm hielt sich Marlene sehr gerade und ließ ihren weißen Schal weiter über die Schultern in den Nacken gleiten. Dann kam ich. Im Laden war es voll und laut, und es roch gut. Ein runder Tisch am Fenster war noch frei. Maul schob den Wagen so vorsichtig durch das Gewühl dorthin, daß auch ein schlafendes Kind nicht aufgewacht wäre. Marlene stellte sich mit dem Rücken zur Theke, ich daneben und Maul uns gegenüber mit dem Rücken zum Fenster. Ich sah, dass die schöne Frau draußen mit ihrem Zeugenblättchen wieder an ihrem Platz stand. Maul redete leise mit Marlene. Die Zeugin vor dem Fenster sah lange auf Mauls Uniform. Dann sah sie mich an. Ich hatte das Gefühl, ganz allein zu sein, so still war es. Das wurde mir aber erst klar, als Maul mich von der Seite anstieß. "Haben sie verstanden? Einen Zwiebelkuchen, ein Viertel von der Pizza, zwei Tassen Kaffee und das, was Sie wollen." Er konnte nicht wissen, was ich gesehen hatte. Bei der Pizza nickte Marlene. Maul mußte mir etwas angemerkt haben und sah sich um, als ich mich am Tresen anstellte. Gleich darauf sprach er aber wieder mit Marlene und blieb so und kehrte der schönen Zeugin den Rücken zu. Einen Moment dachte ich, er hat Angst vor der Frau da draußen. Aber wahrscheinlich wollte er nur Marlene und mich im Auge behalten.

Ich weiß nicht, was inzwischen passierte. Irgendeine instinktive Stimme sagte mir, daß ich nicht hinsehen sollte. Ich versuchte, aus dem Gewirr Marlenes Stimme herauszuhören. Das gelang mir aber nicht. In der dichtgedrängten Schlange kam ich mir ohne Marlenes Stimme mit einem Mal hilflos vor, richtig verlassen, wie im Nebel. Ich hatte auch noch nicht verstanden, warum Marlene so einfach aufgehört hatte mit ihrem Gekeife. Nur weil Maul sie zum Essen mitnahm? Oder hatte sie nur Angst, zum Beispiel, daß sie sonst ihren Wagen nicht wiederbekam? Ich war an der Reihe, bestellte alles und für mich einen Kracher mit Fleischwurst, zahlte und nahm das volle Tablett.

Maul stand plötzlich neben Marlene und starrte aus dem Fenster. Die Schöne zeigte mit einem ganz langen, blassen Zeigefinger auf den "Wachtturm" und sah durch die Scheibe. Als sie mich kommen sah, lächelte sie wie gemalt. Ich weiß nicht, wie ich es anders beschreiben soll: wir waren verzaubert! Maul schob wie von selbst die Karre voran, dahinter Marlene mit ihrem weißen Schal, dann ich mit dem Tablett. Draußen stellten wir uns zu einem Kreis zusammen, und Marlene gab der Schönen die Hälfte von der Pizza, obwohl die Zeugin sagte, sie sei im Dienst. Maul sagte das auch und fing an, ihr zu erklären, daß er sehr gern mit Pennern zu diesem Bäcker geht. So wie letzten Samstag, als die Schöne mit ihrem Glaubensbruder Dienst tat und daß er sich als Polizist sehr um diese Leute sorgt, so wie jetzt. Und dabei sah er sie unentwegt über seinen Zwiebelkuchen hinweg an, während sie sich das Heft wie einen Panzer vor die Brust hielt und langsam Marlenes Pizzahälfte aß.

Eine ganze Weile redete Maul. Ich merkte, wie aufgeregt er war. Als er anfing zu erzählen, daß er Marlene beim Taubenfüttern festgenommen hatte, sah die Schöne ihm von unten in die Augen. Maul war sofort still. "Dürfen Sie das?" fragte sie. "Ja, aber natürlich. Die Tagesmutter… " "Ich meine, dürfen sie mir das erzählen? Sie ermitteln doch noch, oder?" Maul schluckte. "Das ist alles eine Verwechslung", sagte Marlene wie nebenbei, aber sehr vernehmlich. Immerhin schrie sie nicht. "Eine ganz gewöhnliche Verwechslung." Die Schöne sah Marlene an. Es war, als blühten Rosen zwischen beiden oder als rauschte Applaus auf in einem weiten Saal.

"Ich hab nur zugesehen, wissen Sie. Wenn man dort auf der Bank sitzt, halten einen die Leute leicht für das, was sie brauchen, und ich mache es Ihnen leicht, das stimmt. Ich war mal ein Star." "Sie füttert die Tauben! Die schmutzigen Taubenvögel, sie weiß es nur nicht mehr", sagte Maul. "Ein Star, ja, das war ich. Die Welt liebte mich, aber nicht alle. Das war sehr schwer zu verstehen. Als ich zurückkam, nach dem Kriege, um sie wieder in die Arme zu nehmen, da erkannten sie mich nicht mehr. Und ich sang so schön für sie. Ich sang doch so schön. Aber sie hörten mich nicht. Ach, das Lied vom Mai - das Lied...! Ach, dieses Lied!..." Und sie fing wirklich an zu singen, brüchig, mit verzogenem Mundwinkel: "This morning May, I felt like dying. This no expression day, it caused no crying..." Und die Schöne nahm ganz langsam Marlenes Hände und fing an, mit ihr zu beten.

Sie standen ganz dicht voreinander. Marlene bewegte lautlos die Lippen. Sie hatte den Kopf gesenkt, fast an die Brust ihrer Beterin. Der Schal lag um Marlenes Hals wie eine priesterliche Stola. Passanten schauten zur Seite. Die Leute drinnen an den Tischen waren geblendet von der Sonne. Ich sah, daß Mauls Mundwinkel zu zittern anfingen und machte ihm ein Zeichen, daß wir hier nichts mehr verloren hätten. Aber er versuchte immer noch, mir den Polizisten vorzumachen. "So ist das, Kleine, wenn man sich wirklich kümmert", sagte er und schluckte und hielt der Schönen den "Wachtturm".

Ich ging allein zurück aufs Revier. Einmal sah ich mich um. Da standen sie immer noch, Maul neben der Schönen, die betete, und vor ihnen Marlene, ganz dünn, nach vorn gebeugt. Ich glaube, es waren auch Tauben in der Nähe, aber vielleicht bilde ich mir das auch nur ein. Eigentlich müßten die Tauben aber dagewesen sein, finde ich, weil dann alles ganz normal ist.

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