Die kleine Stadt

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Heinrich Mann

Die kleine Stadt

Roman

Heinrich Mann

Die kleine Stadt

Roman

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2021

EV: Insel-Verlag, Leipzig, 1909

1. Auflage, ISBN 978-3-962818-51-7

null-papier.de/714


null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

An­mer­kun­gen zur Be­ar­bei­tung

I.

II.

III.

IV.

V.

Dan­ke

Dan­ke, dass Sie sich für ein E-Book aus mei­nem Ver­lag ent­schie­den ha­ben.

Soll­ten Sie Hil­fe be­nö­ti­gen oder eine Fra­ge ha­ben, schrei­ben Sie mir.

Ihr

Jür­gen Schul­ze

Anmerkungen zur Bearbeitung

Schreib­wei­se und In­ter­punk­ti­on des Ori­gi­nal­tex­tes wur­den über­nom­men; of­fen­sicht­li­che Druck­feh­ler wur­den kor­ri­giert.

Die Or­tho­gra­fie wur­de der heu­ti­gen Schreib­wei­se be­hut­sam an­ge­gli­chen.

Grund­la­ge die­ser Ver­öf­fent­li­chung sind fol­gen­de Aus­ga­ben:

 Auf­bau-Ver­lag, Ber­lin, 1961

 In­sel-Ver­lag, Leip­zig, 1909

I.

Der Ad­vo­kat Be­lot­ti trat schwän­zelnd an den Tisch vor dem Café »Zum Fort­schritt«, wisch­te mit dem Ta­schen­tuch um sei­nen kur­z­en Hals und sag­te er­stickt:

»Die Post hat wie­der Ver­spä­tung.«

»Ja­wohl«, mach­ten Apo­the­ker und Ge­mein­dese­kre­tär; und da nichts Tat­säch­li­ches mehr zu sa­gen blieb, schwie­gen sie.

Der Rei­sen­de warf hin:

»Ihr wird doch nichts zu­ge­sto­ßen sein?«

Die an­de­ren stie­ßen un­wil­lig den Atem aus. Der Leut­nant der Ca­ra­bi­nie­ri leg­te mit Nach­sicht, weil es sich um einen Frem­den han­del­te, die große Si­cher­heit der Stra­ßen dar. Zwei sei­ner Leu­te be­glei­te­ten stets zu Pfer­de die Post, und nur ein­mal hat­ten sie ein­zu­grei­fen ge­habt. Da­mals woll­te ein Bau­er sei­nen Platz nicht be­zah­len und zog ge­gen den Kut­scher das Mes­ser.

»Sol­che Leu­te ha­ben we­nig Er­zie­hung«, er­klär­te der Leut­nant.

»Ein lang­wei­li­ges Hand­werk, das eure«, rief der Apo­the­ker Ac­qui­sta­pace mit sei­ner bra­ven Stim­me.

»Be­trun­ke­ne aus dem Gra­ben zie­hen und eine ent­lau­fe­ne Kuh zu­rück­scheu­chen. Als wir da­bei wa­ren, ging’s an­ders zu. Wie, Ge­vat­ter Achil­le?«

Der Wirt rief von drin­nen: »Zu­ge­gen.«

Er stampf­te her­aus, stütz­te die Last sei­nes Bau­ches auf eine Stuhl­leh­ne und war­te­te mit of­fe­nem Mun­de, worin die Zun­ge um­her­roll­te.

»Wie, mein Al­ter?« und der Apo­the­ker klopf­te ihn auf den Bauch, »vor un­se­ren Fü­ßen ist man­che Gra­na­te ge­platzt. In Bez­zec­ca war’s, als gleich bei uns bei­den der Ge­ne­ral Ga­ri­bal­di sel­ber stand. Die Gra­na­te platzt, wir sprin­gen zu­rück, ver­steht sich; der Ge­ne­ral aber rührt sich nicht; er sieht in den Dampf, als ob er sinnt. ›Kei­ne Furcht, Freun­de‹, sagt er zu uns, und, Achil­le, wir hat­ten kei­ne mehr.«

»Das ist die rei­ne Wahr­heit«, sag­te der Wirt; und mit Wucht: »Der Ge­ne­ral war ein Löwe.«

»Er war ein Löwe«, wie­der­hol­te der an­de­re Alte, fuhr mit der Hand durch sei­nen rie­sen­haf­ten Schnauz­bart und sah alle von oben an. Plötz­lich mach­te er sich klein und tat eine Ge­bär­de, als strei­chel­te er ein Kind.

»Aber auch ein En­gel war er: ja, un­wis­send in man­chem, wie ein En­gel. Man­ches ge­sch­ah, wie, Ge­vat­ter? was er nie er­fah­ren hat. Alle wuss­ten, dass je­ner Nino ein Weib war, nur der Ge­ne­ral nicht.«

Der Ad­vo­kat Be­lot­ti frag­te: »War er ei­gent­lich ein schö­nes Weib, je­ner Nino?«

Der Apo­the­ker zisch­te lei­se. »Sol­che Frau­en gibt es nicht mehr! Und als ihr Ge­lieb­ter ge­fal­len war, da kam’s her­aus, dass sie eine war. Aber sie ver­ließ uns dar­um nicht. Hat­te sie nun ihn nicht mehr, um des­sent­wil­len sie mit­ge­zo­gen war, hat­te sie doch uns alle. Und uns alle hat sie ge­liebt!«

Sei­ne brau­nen Hun­deau­gen ju­bel­ten in der Erin­ne­rung. Der Wirt lach­te laut­los, dass sein Bauch den Stuhl um­her­warf. Sein Sohn, der schö­ne Alfò, war her­zu­ge­tre­ten, der jun­ge Sa­vez­zo mit frisch ge­brann­ten Lo­cken vom Bar­bier her über den Platz ge­kom­men; – und alle, alle hat­ten, wie der Alte en­de­te, ein nei­di­sches Ge­sicht.

Gleich dar­auf er­in­ner­ten sie sich, dass die Ge­schich­te sehr alt war und dass sie alle, so­gar der Rei­sen­de, sie kann­ten, wie sie die Hüh­ner­lu­cia kann­ten. Ihre Stun­de war da: schon klap­per­ten ihre Holz­schu­he in der Gas­se ne­ben dem Café. Mit ih­rem Ge­ga­cker, das lau­ter war als das der Hen­nen, mit ih­rer Nase, die schär­fer war als die Hüh­ner­schnä­bel, flü­gel­schla­gend mit ih­ren lan­gen Ar­men, scheuch­te sie das Fe­der­vieh zum Brun­nen und ließ es aus der Pfüt­ze trin­ken. Die Kin­der kreisch­ten um sie her, stie­ßen sie, zupf­ten an ihr und spran­gen vor Lust, wenn die Alte in ih­ren bun­ten Lap­pen wie ein großes ma­ge­res Huhn kopf­los kreuz und quer flat­ter­te. Rings­um gin­gen Fens­ter­lä­den auf; an der Ecke schräg vor dem Café dräng­ten über den Ar­ka­den des Rat­hau­ses drei Be­am­te sich in eins der al­ten Pfei­ler­fens­ter; die di­cke Mama Pa­ra­di­si sah aus ih­rem Hau­se her­ab; da­hin­ten im Cor­so so­gar streck­te Rina, die klei­ne Magd des Ta­bak­händ­lers, den Kopf her­aus, und dem Ad­vo­ka­ten Be­lot­ti schi­en es, dass sie ein neu­es Hals­tuch tra­ge. Er über­leg­te nicht ohne Un­ru­he, wer ihr nun das wie­der ge­schenkt ha­ben kön­ne. In­zwi­schen schloss die Klei­ne ihr Fens­ter, Mama Pa­ra­di­si das ihre; die Hüh­ner­lu­cia und all ihr Lärm wa­ren bis mor­gen da­hin in die Gas­se; und der Platz schlief wei­ter in sei­ner wei­ßen Son­ne, wink­lig be­leckt von den Schat­ten. Der des Palaz­zo Tor­ro­ni, am Ein­gang des Cor­so, lief spitz hin­über zum Dom, und vor der buck­li­gen Kir­chen­front mal­ten die bei­den säu­len­tra­gen­den Lö­wen ihr schwar­zes Ab­bild aufs Pflas­ter. Wild­ge­zackt sprang der Schat­ten des Glock­en­tur­mes bis an den Brun­nen vor. Ne­ben dem Turm aber wich das Dun­kel zu­rück, tief in den Win­kel, worin man das Haus des Kauf­man­nes Man­ca­fe­de wuss­te. Kaum dass die Um­ris­se sei­ner Fens­ter zu er­ken­nen wa­ren; – hin­ter ei­nem stand aber si­cher auch jetzt, wie sie im­mer dort stand, die Un­sicht­ba­re, das Rät­sel der Stadt: Evan­ge­li­na Man­ca­fe­de, die nie­mals aus­ging und den­noch al­les wuss­te, was ge­sch­ah, es frü­her als alle wuss­te. In der Stadt tat je­der, was er tat, un­ter den Au­gen der Un­sicht­ba­ren. Durch alle Häu­ser am Plat­ze schi­en sie, aus ih­rem Schat­ten­win­kel her­vor, hin­durch­se­hen zu kön­nen: nur eins ver­deck­te ihr der Turm, den Palaz­zo Tor­ro­ni. Auch hieß es, dass sie von dort nichts wis­sen woll­te, dass ihr Va­ter und ihre Magd – denn sonst er­blick­te nie­mand sie – den Na­men des Barons vor ihr nicht nen­nen durf­ten, seit er, den sie ge­liebt hat­te, die an­de­re ge­hei­ra­tet hat­te. Seit­dem ging sie nicht mehr aus! Sie war da­mals vier­und­zwan­zig ge­we­sen und war jetzt drei­und­drei­ßig.

»Eine schö­ne Frau«, wis­per­te der Ad­vo­kat dem Rei­sen­den ins Ohr. »Vom Still­sit­zen soll sie ju­no­ni­sche For­men be­kom­men ha­ben.«

Sei­ne Hän­de, die die­se For­men nach­bil­den woll­ten, ließ er rasch wie­der sin­ken, denn zwei­fel­los sah sie ihn. Der Rei­sen­de frag­te:

»Ist sie, seit ich zu­letzt hier war, noch im­mer nicht aus­ge­gan­gen?«

»Was den­ken Sie!«

Alle be­ka­men ge­kränk­te Mie­nen.

»Sie ver­spricht es, so­oft der Alte es will, dann lässt er ihr schö­ne Klei­der kom­men, so­gar von Rom her, denn schließ­lich ist sie das reichs­te Mäd­chen hier und hät­te hun­dert­tau­send Lire mit­be­kom­men; lädt ihre ehe­ma­li­gen Freun­din­nen ein, be­stellt den Wa­gen zur Aus­fahrt … Die Stun­de ist da, der Wa­gen mit den Freun­din­nen steht vor dem Hau­se, Evan­ge­li­na in ih­ren schö­nen Klei­dern steigt die Trep­pe hin­ab. In der Mit­te aber hält sie an, sagt ›Nicht heu­te, ein an­de­res Mal‹ und geht zu­rück in ihr Zim­mer.«

Meh­re­re lug­ten aus den Au­gen­win­keln hin­über nach dem ge­heim­nis­vol­len Hau­se. Un­ten, wie in schwar­zer Höh­le, glomm ein Licht, und vor sei­nem La­den ging der Kauf­mann hin und her: lang­sam im­mer hin und her. Die Gäs­te des Cafés »Zum Fort­schritt« konn­ten ihm zu­se­hen und bei sei­ner Be­we­gung füh­len, dass die Zeit ver­ge­he.

Der Apo­the­ker er­hob sich, denn ein Kun­de war bei ihm ein­ge­tre­ten: der Jun­ge des Gast­wir­tes Ma­land­ri­ni. Was konn­te bei Ma­land­ri­ni vor­ge­fal­len sein? Ge­wiss han­del­te es sich um die Frau, die der Ta­bak­händ­ler erst ges­tern mit dem Baron Tor­ro­ni in ziem­lich ver­däch­ti­ger Un­ter­hal­tung ge­se­hen hat­te. Wer weiß, was sie jetzt aus der Apo­the­ke brauch­te.

»Nun –?« und alle Bli­cke so­gen an dem al­ten Ac­qui­sta­pace, der, sein höl­zer­nes Bein schwin­gend, zu­rück­kam.

»Die Schwie­ger­mut­ter hat Sod­bren­nen.«

Alle Köp­fe senk­ten sich.

»We­nig Be­we­gung ist hier am Ort«, sag­te der Leut­nant der Ca­ra­bi­nie­ri zu dem Rei­sen­den und nick­te hin­über, wo sich der Kauf­mann Man­ca­fe­de hin und her be­weg­te. Der Rei­sen­de woll­te höf­lich den Ort ent­schul­di­gen, aber der Ad­vo­kat Be­lot­ti sag­te er­stickt:

 

»Was kann man tun, wenn die­se ver­damm­te Post eine Stun­de Ver­spä­tung hat! Sonst sähe hier viel­leicht al­les an­ders aus. Denn schließ­lich – sa­gen wir nur die Wahr­heit! – kön­nen doch je­den Tag die größ­ten Din­ge ge­sche­hen. Die Stadt steht vor Er­eig­nis­sen, die …«

»– nicht ein­tre­ten«, schloss der Ge­mein­dese­kre­tär und lehn­te sich zu­rück, um sei­ne Tail­le zu zei­gen.

»Wer sagt Ih­nen das?« Der Ad­vo­kat fuch­tel­te, be­vor er spre­chen konn­te. »Bin nicht etwa ich der Vor­sit­zen­de des Ko­mi­tees und muss ich nicht als ers­ter wis­sen, ob et­was ge­schieht, ob et­was, sage ich, ge­sche­hen kann?«

»Be­vor die Post da ist?«

»Die Post! Die Post, mein Herr, war schon öf­ter da. Die Post hat zum Bei­spiel mir: ver­ste­hen Sie wohl, mein Herr, mir, dem Vor­sit­zen­den des Ko­mi­tees, einen Brief Ih­rer Ex­zel­lenz der Frau Fürs­tin Ci­pol­la ge­bracht, mit der gü­ti­gen Er­laub­nis der Frau Fürs­tin, das Schloss­thea­ter zu be­nut­zen für die Vor­stel­lun­gen der Trup­pe, die wir, das Ko­mi­tee, hier­her zu ver­schrei­ben ge­däch­ten. Und das war be­reits kein ge­rin­ger Er­folg, wenn Sie be­den­ken …«

Der Ad­vo­kat wen­de­te sich zum Rei­sen­den; einen sei­ner mür­ben Fin­ger, die ihn äl­ter mach­ten als sein Ge­sicht, reck­te er hin­ter sich, wo die Trep­pen­gas­se zum Kas­tell hin­auf­bog.

»– dass das Thea­ter seit fünf­zig; sei­en wir ge­nau, seit achtund­vier­zig und drei­vier­tel Jah­ren un­be­nutzt steht, näm­lich seit der Ver­mäh­lung des ar­men Fürs­ten …«

»War die Vor­stel­lung gut, Ad­vo­kat?« frag­te bei­ßend der Ge­mein­dese­kre­tär. »Sie ha­ben doch schon da­mals den Im­presa­rio ge­macht? Denn wann wa­ren Sie un­tä­tig? Ge­wiss nicht ein­mal in den Win­deln.«

Und der Ad­vo­kat, mit ver­ächt­li­chem Ach­sel­zu­cken:

»– des ar­men Fürs­ten, um den Ihre Ex­zel­lenz noch trau­ert. Da­rum darf ich auch die Be­wil­li­gung un­se­res Ge­suchs mir ganz per­sön­lich zu­schrei­ben und dem Um­stan­de, dass ich der Sach­wal­ter der Frau Fürs­tin bin.«

»Aber der Ka­pell­meis­ter?« frag­te sein Geg­ner. »Soll­te nicht auch er ei­ni­ges Ver­dienst ha­ben? Alfò, sage un­se­rem Freun­de, ob du und die an­de­ren alle in der ›Ar­men To­ni­et­ta‹ eure In­stru­men­te spie­len könn­tet, wenn nicht un­ser Mae­stro Dor­leng­hi wäre!«

»Wer leug­net sei­ne Tüch­tig­keit? Üb­ri­gens zahlt die Ge­mein­de ihm hun­dert Lire mo­nat­lich und die Kir­che fünf­zig. Aber scheint es den Her­ren nicht, dass wir auf die Künst­ler, die er uns ver­schaf­fen woll­te, recht lan­ge war­ten müs­sen?«

»Ich wet­te, dass sie heu­te in der Post sit­zen wer­den!« rief der Apo­the­ker. Der Ad­vo­kat be­zwei­fel­te es.

»Vi­el­leicht wer­de ich als Vor­sit­zen­der des Ko­mi­tees mich noch selbst nach ih­nen um­se­hen müs­sen. Wer weiß, wo­hin ich fah­ren wer­de: bis nach Rom viel­leicht.«

»Aber, Ad­vo­kat«, sag­te der Ge­mein­dese­kre­tär, »was ver­ste­hen Sie vom Thea­ter?«

»Ich? Sie ver­ges­sen, Herr Ca­muz­zi, dass ich in ei­ner Stadt wie Pe­ru­gia stu­diert habe. Dort hat­ten wir oft ge­nug eine Trup­pe von Ko­mö­di­an­ten, und wir Stu­den­ten ver­kehr­ten mit ih­nen, kann ich den Her­ren sa­gen, nicht an­ders, als ich mit Ih­nen ver­keh­re. Die Cho­ris­tin­nen: ah! ich sage nur dies Wort, die Cho­ris­tin­nen … Na­tür­lich hat­te auch die Pri­ma­don­na den ih­ren, aber man muss­te reich sein, sehr reich; ich er­in­ne­re mich, ein Herr aus der Stadt gab ihr drei­hun­dert Lire im Mo­nat. Be­grei­fen Sie das? Drei­hun­dert Lire für eine Frau!«

Da der Ad­vo­kat in lau­ter ach­tungs­vol­le Ge­sich­ter sah, blüh­te er auf. Er öff­ne­te sei­nen schwar­zen Rock, ob­wohl kei­ne Wes­te dar­un­ter war. Die Arme in der Luft ge­run­det, mit rau­en gel­ben Man­schet­ten, die bis über die Koral­len­knöp­fe her­aus­fie­len, und mit ei­ner Flüs­ter­stim­me, aus der manch­mal ein hei­se­res Bel­len brach:

»Aber so ist die große Welt: man muss sie ken­nen. Die Her­ren Künst­ler sind die Groß­ar­tigs­ten von al­len. Man hat kei­nen Be­griff von dem Le­ben, das die­se Schau­spie­ler und Li­te­ra­ten füh­ren. Jede Nacht Cham­pa­gner, schö­ne Wei­ber, so viel sie mö­gen, und nie vor zwölf aus dem Bett.«

»Als ich in For­lì1 stand«, sag­te der Leut­nant der Ca­ra­bi­nie­ri, »zeig­te man mir einen Ma­ler, der zwei Fia­schi trin­ken konn­te. Frei­lich war er ein Deut­scher.«

»Wozu auch«, schloss der Ad­vo­kat, »da sie spie­lend mehr Geld ver­die­nen, als sie brau­chen, und kei­ne Sor­gen ha­ben. Für uns Bür­ger ists an­ders ein­ge­rich­tet auf der Welt. Aber es ist nicht übel, dass es auch Men­schen gibt, die ein so leich­tes Le­ben ha­ben, nach Her­zens­lust über die Strän­ge schla­gen dür­fen und im­mer gu­ter Lau­ne sind. Ha­ben wir erst ei­ni­ge der Art hier bei uns, wird es lus­tig wer­den.«

»Das kann nicht scha­den!« rief der Apo­the­ker. Gleich dar­auf hielt er sich den Mund zu und schiel­te nach sei­nem Hau­se hin­auf. Man lä­chel­te. Er ent­schul­dig­te sich.

»Im­mer sind Leu­te in der Nähe, die es mit den Pries­tern hal­ten.«

Der Ad­vo­kat be­haup­te­te: »Wenn wir uns die Ko­mö­di­an­ten nicht zu un­se­rem Ver­gnü­gen kom­men lie­ßen, soll­ten wir es tun, um die Pries­ter zu är­gern.«

Der Ge­mein­dese­kre­tär hob die Schul­tern, der Wirt aber sag­te dröh­nend:

»Sind wir denn noch im­mer un­ter dem Papst?«

Man schrie: »Bra­vo, Achil­le!« – und da­hin­ten sah man aus der Ka­the­dra­le über den Cor­so und in den Palaz­zo Tor­ro­ni eine schwar­ze Ge­stalt hu­schen. Der Apo­the­ker seufz­te.

»Ar­mer Baron! Auch ihn hal­ten sie mit­tels der Frau. Da kann man sich dann nicht rüh­ren, ohne dass es weh tut. Glaubt mir, ihr Jun­gen, nehmt nie eine Frau, die es mit den Pries­tern hat!«

Der Ad­vo­kat stell­te die Hand an den Mund.

»Und den­noch ist Don Tad­deo be­tro­gen, und der Baron hat mir heim­lich, Sie ver­ste­hen: un­ter ei­nem Deck­na­men sei­nen Bei­trag ge­schickt für das Thea­ter.«

Fun­kelnd be­trach­te­te er sei­ne Wir­kung, leg­te sich den Fin­ger auf die Lip­pen und mach­te eine Pau­se. Dann:

»Der Bei­trag ist so­gar be­deu­tend ge­nug, dass wir den des al­ten Nar­di­ni ver­schmer­zen kön­nen.«

»Eine schö­ne Fa­mi­lie, die Nar­di­ni« – und der Apo­the­ker stieß den Stock aufs Pflas­ter.

»Ihre Mit­bür­ger hal­ten sie ih­res Ver­kehrs nicht wür­dig, nie woll­ten sie dem Klub bei­tre­ten, und die En­ke­lin ste­cken sie ins Klos­ter!«

»Noch ist sie nicht dar­in«, sag­te der jun­ge Sa­vez­zo, mit plum­per Ele­ganz an das Haus ge­lehnt. »Und als ich im Klub mei­nen Vor­trag über die Freund­schaft hielt, hat sie ihre Magd hin­ge­schickt und sich dar­über be­rich­ten las­sen.«

»Ah, Totò möch­te sie drau­ßen be­hal­ten.«

Un­ter den spöt­ti­schen Bli­cken be­gann das lin­ke Auge des jun­gen Men­schen auf sei­ne po­cken­nar­bi­ge Nase zu schie­len.

Der schö­ne Alfò, des Wir­tes Sohn, sag­te:

»Ist sie schön, die Alba!«

Dann sah er un­be­irrt und ei­tel um­her.

»Ihr bei­de wer­det kei­nen Er­folg ha­ben« – und der Ge­mein­dese­kre­tär lach­te auf. »Hat doch nicht ein­mal der Se­ve­ri­no Sal­va­to­ri sie be­kom­men, ob­wohl er mit ei­nem Korb­wa­gen um­her­fährt. Vi­el­leicht, wenn ihr kei­ne Mit­gift ver­langt. Denn der Alte will sie bil­lig los sein. Er ist noch gei­zi­ger als fromm.«

»Auch fromm ist er«, ver­si­cher­te Sa­vez­zo. »Und wohl­tä­tig. Der alte Brabrà lebt ganz vom Nar­di­ni, seit drei­ßig Jah­ren bald. Je­den Sonn­tag nach der Mes­se wird dort un­ten in Vil­las­cu­ra den Ar­men das Mehl aus­ge­teilt. Alba selbst tut es.«

»Alba selbst«, wie­der­hol­te Alfò.

»Aber als ich ihm die Lis­te brach­te«, sag­te der Ad­vo­kat mit stei­lem Fin­ger, »wis­sen Sie wohl, was der Nar­di­ni mir geant­wor­tet hat?«

Alle wuss­ten es, lie­ßen sich aber gern zum zehn­ten Mal da­durch auf­brin­gen.

»Er hat mir geant­wor­tet: wenn er da­für zah­len sol­le, dass die Ko­mö­di­an­ten fort­blei­ben, dann wol­le er zah­len.«

Der Apo­the­ker schlug auf den Tisch; das Schwei­gen der an­de­ren war stür­misch. Da sag­te der schö­ne Alfò, und das ein­fäl­tigs­te Lä­cheln leg­te sei­ne wei­ßen Zäh­ne frei:

»Den­noch will ich Alba hei­ra­ten.«

Nie­mand wür­dig­te ihn ei­ner Ent­geg­nung.

»Auch sei­nen Was­ser­fall«, er­in­ner­te sich der Ge­vat­ter Achil­le, »hat er der Stadt ein we­nig teu­er ver­pach­tet.«

»Un­se­re Schuld« – und der Ge­mein­dese­kre­tär hob die Schul­tern; »ich war ge­gen die Elek­tri­zi­täts­an­la­ge und bin es noch. Aber man hört nicht auf mich«, sag­te er mit ei­nem Blick auf den Ad­vo­ka­ten, der die Arme in die Luft warf.

»Wol­len wir, ja oder nein, den Fort­schritt?« schrie der keu­chend.

»Und wem ver­dan­ken wir ihn«, ant­wor­te­te der jun­ge Sa­vez­zo, »als ein­zig dem Ad­vo­ka­ten?«

»Ist es ei­ner Stadt wie der uns­ri­gen wür­dig«, frag­te der Ad­vo­kat wei­ter, »die öf­fent­li­chen Plät­ze mit Pe­tro­le­um zu er­leuch­ten? Und wie sol­len wir vor den Frem­den da­ste­hen, die uns be­su­chen wer­den, wenn un­se­re Thea­ter­sai­son be­gon­nen hat?«

»Ver­steht sich«, mach­ten die an­de­ren; nur der Se­kre­tär schüt­tel­te die zu­sam­men­ge­leg­ten Hän­de.

»Da ha­ben wirs. Weil wir eine Thea­ter­sai­son ha­ben, müs­sen wir elek­tri­sches Licht an­le­gen, und weil wir wie Ve­ne­dig oder Tu­rin das Ver­fas­sungs­fest fei­ern, muss­ten wir in ei­nem Feu­er­werk fünf­tau­send Lire ab­bren­nen. So zieht eine Tat des Grö­ßen­wahns die an­de­re nach sich, und das Ende, das ich vor­aus­se­he, ist der Bank­rott. Ah, Ihr Her­ren, un­sern Bür­ger­meis­ter, den wür­di­gen Herrn Au­gus­to Sal­va­to­ri, der das Haus nicht mehr ver­lässt, trifft kei­ne Schuld: sie trifft nur einen!«

Und er stieß mit dem Fin­ger nach dem Ad­vo­ka­ten, der sich auf dem Stuhl um­her­warf.

»Wol­len wir, ja oder nein, den Fort­schritt?«

Da run­de­te der Leut­nant die Hand am Ohr:

»Mir scheint, ich höre sie knar­ren.«

So­gleich be­ka­men alle lau­schen­de Mie­nen. Sa­vez­zo und Alfò stürz­ten an die Hau­se­cke und späh­ten die Gas­se hin­ab. Plötz­lich schri­en sie durch die ge­run­de­ten Hän­de:

»He! Ma­set­ti! Lang­sa­mer!«

Und un­ter wü­ten­dem Peit­schen­knal­len hör­te man die Post drun­ten auf der Land­stra­ße vor­bei­ras­seln. In­des sie den Bo­gen zum Tor mach­te, wur­den Ma­set­tis fan­tas­ti­sche Ver­spä­tun­gen auf­ge­zählt; er habe kei­ne Eile, zu sei­ner Frau zu kom­men; – und nun er auf den Platz bog, be­gan­nen alle zu pfei­fen. Die bei­den Ca­ra­bi­nie­ri lie­ßen sich von ih­ren Pfer­den her­ab und ho­ben die Drei­mas­ter, um sich die Köp­fe zu trock­nen. Die Di­li­gen­za fuhr mit Kra­chen beim Post­amt vor: da zeig­te sich, dass sie ganz ge­füllt war. Drin­nen sa­ßen acht Per­so­nen, und eine klet­ter­te so­eben vom Bock: ein ge­drun­ge­ner Mann mit ei­nem Cäsa­ren­pro­fil, den der Hand­lungs­rei­sen­de fast für einen Be­rufs­ge­nos­sen ge­hal­ten hät­te. Nur hat­te er blau­ra­sier­te Wan­gen und Be­we­gun­gen von un­be­kann­ter Spann­kraft und Form.

Kaum dass die Pfer­de still­stan­den, stürz­ten über die Füße der an­de­ren hin­weg zwei Non­nen aus dem Wa­gen und eil­ten, so­dass die Kreu­ze der Ro­sen­krän­ze von ih­ren Hüf­ten auf­flo­gen, nach dem Trep­pen­weg zum Klos­ter. Dann stieg ein schö­ner blei­cher jun­ger Mensch her­aus, der un­be­tei­ligt um­her­sah.

»Nel­lo!« rief eine Frau­en­stim­me. »Hilf mir her­aus!«

»Lass lie­ber mich«, sag­te ein ha­ge­rer Al­ter, weiß an­ge­zo­gen und ra­scher als ein Jüng­ling; – und er streck­te eine fal­ti­ge Hand aus, wor­auf ein großer Bril­lant blitz­te.

Der Ad­vo­kat be­merk­te:

»Aber das sind sie! Das sind die Ko­mö­di­an­ten. Ich als Vor­sit­zen­der des Ko­mi­tees muss sie be­grü­ßen.«

Er er­hob sich und schwän­zel­te über den Platz. Die an­de­ren folg­ten im Ab­stand.

Aus der Post ward eine schwar­ze la­chen­de Per­son ge­ho­ben, aber wer sie von hin­ten un­ter den Ar­men hielt – der Ad­vo­kat muss­te auf hal­b­em Wege ste­hen­blei­ben – das war, mit dem blon­den Schnurr­bart über dem ro­ten Ge­sicht, der Baron Tor­ro­ni! Er wand­te sich um; aus sei­ner Jagd­ta­sche sa­hen die Vo­gel­schnä­bel; und er setz­te noch eine Frau aufs Pflas­ter: ein klei­nes un­an­sehn­li­ches We­sen in ei­nem schmutz­far­be­nen Man­tel, wie ein Sack, und die Haa­re voll Staub. Hin­ter­her, mit ei­nem aus­ge­las­se­nen und den­noch be­stürz­ten Ge­sicht, kam der Ta­bak­händ­ler Pol­li.

 

»He! Pol­li! Was ist denn mit dir ge­sche­hen?« rief der Apo­the­ker.

Der Ta­bak­händ­ler ge­sell­te sich ih­nen zu.

»Ach ja, das fragt nur! Die eine hät­te mir fast einen Kuss ge­ge­ben: jene große Schwar­ze.«

»Ein pracht­vol­les Weib. Die wird eine Stim­me ha­ben!« mein­te der Ad­vo­kat.

»Ich sage euch, sie kann schrei­en! Ge­schich­ten sind heu­te in dem al­ten Kar­ren er­zählt wor­den! Ich möch­te wis­sen, ob die bei­den Non­nen sie schon kann­ten. Im­mer lau­ter ha­ben sie ge­be­tet, – und seht nur, wie sie lau­fen!«

»Wozu müs­sen die­se hei­li­gen Un­ter­rö­cke im­mer un­ter­wegs sein?« frag­te der Ad­vo­kat. »Auf al­len Stra­ßen sieht man nur sie.«

Pol­li raun­te:

»Und seht euch den Al­ten an: er ist ge­schminkt!«

Die Grup­pe der Bür­ger schiel­te zu den Ko­mö­di­an­ten hin­über. Der Ad­vo­kat fand es schwe­rer als in sei­nen Stu­den­te­nerin­ne­run­gen, mit ih­nen an­zu­knüp­fen. Der un­ter­setz­te Mann vom Bock, der ihm noch am meis­ten Ver­trau­en ein­gab, ließ den Kut­scher das Ge­päck her­ab­he­ben. Den üb­ri­gen schüt­tel­te der Baron Tor­ro­ni die Hän­de. Er ver­sprach, ih­nen sei­ne Vö­gel ins Gast­haus zu schi­cken, mach­te sei­ne ecki­gen Ka­val­le­ris­ten­ver­beu­gun­gen und brach sich einen Weg durch die Kin­der und Mäg­de, die her­um­stan­den. Wie er in sei­nen Le­der­ga­ma­schen auf sein Haus zu­ging, schlüpf­te eine schwar­ze Ge­stalt her­aus und in die Kir­che.

Meh­re­re Ge­schäfts­leu­te stell­ten sich ein, um nach ih­ren Pa­ke­ten zu se­hen. Der Kauf­mann Man­ca­fe­de be­müh­te sich längst um die sei­nen. Trotz al­ler Spät­som­mer­hit­ze war er in sei­ner di­cken brau­nen Ja­cke. Das ge­wölb­te Auge in sei­nem al­ten Ha­sen­pro­fil such­te ängst­lich und zäh un­ter den Kör­ben dort oben.

»Und das Pe­tro­le­um?« frag­te er ge­las­sen und rich­te­te sei­nen tro­ckenen Fin­ger auf den Kut­scher Ma­set­ti. Der tat dro­ben einen er­bos­ten Sprung. Er schrie hin­ab, für so viel Mühe sei er nicht be­zahlt; die­se Frem­den hät­ten Ge­päck für einen gan­zen Ei­sen­bahn­zug; noch ein Wa­gen kom­me mit Leu­ten und Kof­fern: dar­auf wer­de, wenn Gott es wol­le, auch das Pe­tro­le­um sein. Und durch den ab­fäl­li­gen Empfang, der ihm be­rei­tet wor­den war, noch tiefer ge­färbt als sonst, schwenk­te er die aus­ge­brei­te­ten Arme to­bend über der Men­ge, vor dem blau­en Him­mel.

Der Kauf­mann prüf­te ihn blin­zelnd und wand­te sich an den Ta­bak­händ­ler.

»Pol­li, dei­ne Magd ist die letz­te Nacht nicht zu Hau­se ge­we­sen.«

Der Ta­bak­händ­ler rö­te­te sich.

»Sagt die Evan­ge­li­na es?«

»Ja«, er­klär­te Man­ca­fe­de mit Ruhe und Si­cher­heit.

»Und dann sagt mei­ne Toch­ter auch, die Ko­mö­di­an­ten wer­den kom­men … Das sind sie wohl?« – und zum ers­ten Mal schi­en er sich um­zu­se­hen.

»Mei­ne Lina weiß, dass der be­rühm­te Te­nor Gior­da­no da­bei ist.«

Plötz­lich dreh­te der weiß an­ge­zo­ge­ne Alte sich um. Leicht und doch groß sag­te er: »Das bin ich: der Ca­va­lie­re Gior­da­no.«

Ein Au­gen­blick, und der Ad­vo­kat war über die Hand des al­ten Sän­gers her­ge­fal­len.

»Sie, Ca­va­lie­re! Welch Wie­der­se­hen! Sie er­in­nern sich doch un­se­rer Be­kannt­schaft in Pe­ru­gia? Be­lot­ti, Ad­vo­kat Be­lot­ti. Wir ver­kehr­ten bei­de im Café ›Zur al­ten Treu­e‹. Wir spiel­ten Do­mi­no, und ich be­sieg­te Sie im­mer, Sie zahl­ten all mei­nen Punsch … Wie, Sie wis­sens nicht mehr? Ach ja, das sind wohl drei­ßig Jah­re her, und was ha­ben Sie seit­dem er­lebt! Der Ruhm, die Frau­en, die großen Rei­sen! Das nen­ne ich Le­ben. Hier in der klei­nen Stadt: – nun, Sie wer­den uns ken­nen­ler­nen; auch wir kön­nen lus­tig sein, auch wir wis­sen die Kunst zu schät­zen. Mei­ne Freun­de wer­den glück­lich sein, Sie ken­nen­zu­ler­nen.«

Er wink­te sie her­bei.

»Herr Ac­qui­sta­pace, un­ser Apo­the­ker; Herr Pol­li, mit dem Sie die Rei­se ge­macht ha­ben; Herr Can­ti­nel­li, der bra­ve An­füh­rer un­se­rer be­waff­ne­ten Macht …«

Und um nicht sei­nen Geg­ner, den Ge­mein­dese­kre­tär, vor­stel­len zu müs­sen, griff er aus den Um­ste­hen­den einen an­de­ren her­aus.

»Herr Chia­ra­lun­zi, höchst ge­schick­ter Schnei­der, der im Or­che­s­ter das Te­nor­horn bla­sen wird.«

»Und wie!« me­cker­te das hä­mi­sche Stimm­chen des Bar­biers No­nog­gi.

Aber der lan­ge stark­kno­chi­ge Schnei­der trat vor, sah sich lang­sam und ehr­lich die Frem­den an, – und dann ver­beug­te er sich mit Wucht, dass die Spit­zen sei­nes hän­gen­den, rostro­ten Schnurr­bar­tes schau­kel­ten vor dem klei­nen un­an­sehn­li­chen We­sen im schmutz­far­be­nen Man­tel. Sie stand, in­des ihre Ka­me­ra­den zu­sam­men flüs­ter­ten und lach­ten, ganz al­lein; durch die Ta­schen­wän­de sah man, dass sie Fäus­te mach­te; und ihre weit von­ein­an­der ent­fern­ten Au­gen gin­gen kalt über die wach­sen­de Men­ge, als prüf­te eine Macht die an­de­re. Beim An­blick des vor ihr ge­krümm­ten Schnei­ders be­kam sie un­ver­mu­tet ein Kin­der­lä­cheln und gab ihm eine klei­ne graue Hand.

Da­rauf schüt­tel­te er die Rech­te des al­ten Te­nors, der über die an­de­ren Sän­ger eine Ge­bär­de be­schrieb, ohne dass er da­bei hin­sah: wie ein Fürst, der sein Ge­fol­ge vor­stellt.

»Herr Vir­gi­nio Gad­di, Ba­ri­ton.«

Der un­ter­setz­te Mann mit dem Cäsa­ren­pro­fil misch­te sich, eine Hand in der Ho­sen­ta­sche, un­ter die Bür­ger.

»Fräu­lein Ita­lia Mo­le­sin, So­pran.«

Die der­be Schwarz­haa­ri­ge lach­te mit großen Zäh­nen al­len zu und stieß da­bei ko­kett mit den Schul­tern, um den Schal zu­rück­zu­wer­fen; denn sie trug einen Schal, wie die Mas­se der Mäd­chen, und kei­nen Hut.

»Herr Nel­lo Gen­na­ri, ly­ri­scher Te­nor.«

Da sa­hen die Frau­en das matt­blei­che Ge­sicht des jüngs­ten Man­nes sich ih­nen zu­wen­den. Weil es ein­fach und stark ge­mei­ßelt war, er­kann­ten die am wei­tes­ten Ent­fern­ten es, reck­ten sich und sag­ten laut:

»Oh! Ist er schön!«

Sei­ne Au­gen dank­ten ih­nen al­len, ohne Über­ra­schung und ohne Ei­fer, mit ein we­nig schwer­mü­ti­gem Spott.

Nun aber wen­de­te der Ca­va­lie­re Gior­da­no sich nach dem Mäd­chen um, das für sich stand, beug­te leicht vor ihr den Rumpf und sag­te mit ent­zück­ter Stim­me:

»Und dies ist un­se­re Pri­ma­don­na as­so­luta, das Fräu­lein Flo­ra Gar­lin­da, eine Künst­le­rin von un­er­mess­li­cher Zu­kunft, die Hoff­nung der ly­ri­schen Büh­ne Ita­li­ens.«

Dann sah er er­war­tungs­voll die Bür­ger an. Der Ad­vo­kat, der ihr am nächs­ten stand, fuhr ein we­nig zu­rück; und dann hul­dig­te er der Pri­ma­don­na umso ehr­furchts­vol­ler, je we­ni­ger er sie vor­her be­ach­tet hat­te. Er frag­te sie, ob sie schon in der Sca­la ge­sun­gen habe. Sie zuck­te die Ach­seln und krümm­te den Mund, als ver­ach­te­te sie die Sca­la. Da­rauf mach­te er einen großen Kratz­fuß.

»Ein Fräu­lein wie Sie muss wohl Lieb­ha­ber ha­ben, so vie­le es nur will.«

Sie lach­te auf und ließ ihn ste­hen. Er schiel­te nach rechts und nach links, ob man es ge­se­hen habe; – aber in die­sem Au­gen­blick schwank­te die Men­ge: je­mand teil­te sie, mit den Ar­men stür­misch über ih­ren Schul­tern ru­dernd.

»Der Mae­stro!«

Er war an­ge­langt; er keuch­te. Sei­ne hel­le Ge­sichts­haut war un­ter sei­nem leich­ten blon­den Bart ganz ro­sig be­wölkt, sein ver­le­gen ehr­gei­zi­ges Lä­cheln zer­ging manch­mal, und dann sah man, dass er zor­nig war. Er setz­te an:

»Das ist aber … Ich den­ke doch, ich bin hier der Ka­pell­meis­ter … Die von mir en­ga­gier­ten Künst­ler sind da, und nie­mand ruft mich? Herr Ad­vo­kat, ich muss Sie …«

Der Ad­vo­kat klopf­te ihm auf den Rücken.

»Mein lie­ber Dor­leng­hi, al­les geht gut, ich habe mich als Vor­sit­zen­der des Ko­mi­tees mit die­sen Her­ren be­reits ins Ein­ver­neh­men ge­setzt.«

»Aber ich be­grei­fe nicht, wie man ohne mich … Dann füh­ren doch Sie den Ka­pell­meis­ter­stab!«

»Sei­en Sie gut, Dor­leng­hi!« sag­te der Apo­the­ker, und Pol­li, der Ta­bak­händ­ler, mein­te:

»Das al­les ist doch nicht der Mühe wert.«

Der Mu­si­ker warf die Arme noch hö­her.

»Nicht der Mühe wert! Ah! Ca­va­lie­re: denn ich irre mich nicht, Sie sind der Ca­va­lie­re Gior­da­no, und ich hei­ße En­ri­co Dor­leng­hi und bin Di­ri­gent ei­ner Dorf­ka­pel­le, nichts wei­ter. Ich habe in mei­nem Zim­mer ge­ses­sen, da hin­ten in ei­nem Win­kel der Stadt, wo man nichts hört noch sieht, und habe an ei­ner Mes­se ge­schrie­ben, die ich noch die­sen Herbst in der Kir­che auf­füh­ren soll. In­zwi­schen ern­ten die­se Her­ren die Frucht mei­ner Be­mü­hun­gen; denn ich bin stolz, Sie, Ca­va­lie­re, un­se­rer Büh­ne ge­won­nen zu ha­ben, Sie und Ihre Kol­le­gen. Nicht der Mühe wert! Wenn Sie ahn­ten, welch ein Er­eig­nis für einen Ver­bann­ten, Ge­op­fer­ten …«

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