Heilung aus der Begegnung

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Der transzendentale Seinsgrund im Menschen und seine Verdunkelung

Wir wollen nun an dieser Stelle unseren anthropologisch-personalistischen Aspekt noch in einer besonderen Richtung vertiefen und verdeutlichen.16

In der partnerischen Situation, im ganzheitlichen Gegenübertreten von Arzt und Patient, aktualisiert sich die für das Menschsein konstitutive, von Gott geschaffene und von Ihm immerzu angesprochene Seelenmitte: das Selbst. Das Selbst entsteht und wird also, gemäß unserer Auffassung, zu dem, was es ist, nicht erst im unendlichen Prozess der seelischen Einung, wie es auf Grund der Jungschen Darstellung der psychologisch intendierten Selbst-Werdung missverstanden werden kann, sondern es begründet recht eigentlich den Menschen und bestimmt ihn »von Anfang an« – als Person.

Im Selbst, als seinem Seinsgrund, ist der Mensch darauf angelegt, sich in Begegnung mit dem Andern und in Antwort auf ihn hin zu verwirklichen. In dieser Bestimmung, die des Menschen ichbewusste Existenzweise transzendiert und die von metapsychischem Rang ist, ist das Selbst auch dann latent da, wenn sich der Mensch, wie in der Neurose und Psychose, der geforderten Zwiesprache grundhaft entzieht. In diesem Sinne erkennen wir den Menschen zutiefst als religiös bestimmt: als das von einer transzendenten Macht angesprochene Du, das sich in der Annahme dieses Anrufs zum Selbst aufrichtet und in der zulänglichen Antwort, die es auf Grund seines Vertrauensverhältnisses auf jene Macht hin gibt, seine Seele eint.17

Als angesprochenes Du und antwortendes Selbst steht der Mensch somit grundhaft im Glauben. Das heißt: er steht, solange er in der Antworthaltung auf die ihn ansprechende Stimme aus der Transzendenz vertrauend lebt, in der sein Selbst konstituierenden und seine Seele einenden Wirkmächtigkeit des Glaubens, und kraft dieser Grundhaltung partnerischer Bereitschaft bleibt er fähig, aus seiner Mitte heraus in die konkrete Weltbegegnung einzutreten und die Anrufe dieser Welt sinn- und situationsgemäß zu beantworten. Verweigert er sich jedoch in offener oder verdeckter Entscheidung seines Selbst dieser partnerischen Grundsituation, lässt er sich aus der dialogischen Haltung der Duverbundenheit und des Vertrauens herausfallen, dann verliert er sogleich auch das Vermögen, der Welt wahrhaft partnerisch zu begegnen – mag auch eine partielle Begegnungsfähigkeit, als Nachklang gleichsam jener verlorenen Urverbundenheit, noch wirksam bleiben.

Der ursprüngliche Eintritt des Selbst in die echte Beziehung zur Welt erfolgt in vielen möglichen Daseinsweisen und Aktionsformen – wechselnd nach Alter, Geschlecht, Umwelt und Schicksal –, und diese echte Beziehung bezeugt sich uns beispielhaft und eindrucksvoll: in der vertrauensseligen Welthinnahme des Kindes, in der opferbereiten Hingabe der Mutter, im verantwortlichen Welteinsatz des Vaters, in der beglückenden Selbstvergessenheit der Liebe und Freundschaft und so fort.

In all diesen lebensgemäßen Daseinsweisen west und wirkt das Selbst in den verschiedensten Abwandlungsformen der Seele: in der Duform dessen, der hört und sich anrufen lässt, in der Ichform des Antwortenden, Verantwortenden und Gebietenden, in der Wirform derer, die von der mitmenschlichen Gemeinschaft ergriffen sind und in ihr mithandeln, in der Esform allzeit dort, wo es musisch oder hymnisch in den Kosmos von Natur und Geschichte einschwingt und sich gleichsam als ein Ton in der Symphonie der Schöpfung fühlt und weiß.

So kann im Spiel, im Liebesleben, im nüchternen Alltag, in jedem beschwingenden Augenblick das partnerische Geschehen in echter Weise am Werk sein und sich entfalten.

Anders in der katastrophalen Situation der Weltflucht und der Selbstverschlossenheit! – ein Vorgang, der unser aller tragisches Schicksal zu sein scheint und der sich nicht etwa nur in bewusster Auflehnung, sondern viel häufiger wohl noch in verdeckten, vom Bewusstsein nicht registrierten Selbst-Entscheidungen vollzieht.

Im Stande der Selbstverschlossenheit wird, scheinbar schuldlos und dennoch schuldhaft, das ursprüngliche Vertrauensverhältnis zur Transzendenz und damit auch zur geschaffenen und geschichtlichen Welt von der eigenen Mitte. her ausgeschaltet. Der Mensch zieht sich auf sich selbst zurück, wird selbstbezogen und dokumentiert damit seine trotzige Absage an Gott und die Welt, wenngleich er in der inneren verborgenen Entfaltung seiner Selbstbezogenheit zu Gott und Welt eine neue, sekundäre Art von Beziehung aufnimmt. Hinter dieser »neuen« Form der Beziehung aber steht nunmehr wirkend eben dieser Selbstbezug, dem die religiöse Erfahrung und alle Erfahrungen an der Welt dienstbar sein sollen. In der konkreten biographischen Entwicklung dieses Bemächtigungs- und Einbewältigungsprozesses gegenüber Gott und der Welt entwickelt sich, je nach individueller Anlage, nach Milieu und Schicksal, der ganze Komplex der Neurosen in seiner Vielfalt. Durchsichtig werden uns aber diese krankhaften Entwicklungsformen erst von ihrer personalistisch verstandenen Wurzel her.

Neurosen bieten sich uns also dar als mehr oder weniger missglückende Versuche, die Selbstrealisierung aus eigener Machtvollkommenheit erzwingen und behaupten zu wollen. Sie haben zwei Hauptanliegen: erstens das isolierte Selbst zu einer eigenen Welt auszubauen und zweitens die Begegnungsansprüche Gottes wie auch der konkreten Welt abzuwehren und beide, Gott und Welt, dem autistischen Bedürfnis nach persönlicher Sicherheit und selbstherrlicher Entfaltung dienstbar zu machen.

Im neurotischen Menschen regt sich aber noch jene tiefe »Unruhe des Herzens«18 in welcher das ursprüngliche, der transzendenten Hilfe bedürftige und gewärtige Selbst sich heimlich bemerkbar macht. In dieser Unruhe des Herzens wird das selbstbezogene, aus Misstrauen errichtete Sicherungssystem schließlich fragwürdig. Denn mit ihr beginnt die mehr oder weniger offene Konfliktsituation der Neurose: das Leiden des Menschen – das Leiden an sich selbst und an der Welt, welch letztere nunmehr als »Fremdwelt« gegen ihn andringt und seine Existenz zu bedrohen scheint.

Es ist verständlich, dass der an sich selbst und an der Welt leidende Patient die Schuld an seinem Leiden auf die Anderheit der Welt oder Gottes abzuwälzen versucht. Und es ist von hier aus fast ebenso selbstverständlich, dass er seine störenden und beängstigenden Krankheitssymptome dazu benutzt, um den Therapeuten für sich als den schuldlos Kranken persönlich in Anspruch zu nehmen. Auch dieses Arrangement ist für ihn charakteristisch, denn auch es steht im Dienst der von der Welt her bedrohten Selbstbehauptung.

Der Arzt soll diese seelischen Störungen heilen, das heißt er soll den Patienten von ihnen befreien, ohne ihm die radikale Lebensumkehr, deren er im Kern seiner selbst bedarf, zuzumuten.

Dies jedoch ist die therapeutische Situation, in die hinein der Arzt zur Erfüllung seiner Aufgabe gestellt ist: nicht nur nach dem Willen des Patienten die seelischen Spannungen in ihm beruhigend auszugleichen, sondern partnerisch durchzustoßen zum personalen Seinsgrund dieses Menschen, zum eigentlichen Ursprung also seiner grundhaften Selbstbezogenheit, aus dem alle Neurose genährt wird und aus welchem erst, in der Umkehr und im Durchbruch des Selbst zur mitmenschlichen Gemeinschaft, die Heilung zu erwarten ist.

Die Bewältigung dieser therapeutischen Aufgabe kann praktisch bis zur Unmöglichkeit erschwert sein.19 Das im Patienten schwelende Misstrauen gegen Gott und die Welt, die ja gemäß seiner neurotischen Deutung an ihm schuldig geworden sind, kann so tief sitzen und der heimliche Lustgewinn, den er aus seiner Vertrotzung und seinem Selbstmitleid zieht, so groß sein, dass beides zusammen jede echte partnerische Bemühung und Hilfe des Therapeuten zuschanden werden lässt.

*

Diese aufgrund der personalen Existenz des Selbst und zufolge seiner verdeckt vollzogenen Begegnungsabsage an die Welt derart erschwerte therapeutische Situation erzwang seinerzeit das Postulat des Unbewussten, durch dessen tiefenpsychologische Ergründung unsere Pioniere bis zur Wurzel des neurotischen Selbstbezugs vorzudringen hoffen.

Hierzu ist, späteres vorwegnehmend, schon jetzt in Kürze folgendes auszuführen.

Anknüpfend an Freud, dessen Durchbruch in die unbewussten Seelenbereiche sich noch nicht sammelte zum konzentrischen Vorstoß in Richtung auf das Selbst, ging Jung diesem Geheimnis in radikalster Weise zu Leibe. Erst Jung machte mit der Selbstsuche, mit der Suche also nach der transzendentalen Ursache jenes neurotischen Selbstbezugs, als Tiefenpsychologie völlig ernst – ohne zu erkennen, dass er durch sein radikales Vorgehen die Spaltung im menschlichen Subjekt womöglich vertiefte und noch verewigte: in der nun sich bildenden Zweiteilung nämlich eines quasi diesseitigen Bewusstseins-Ich und eines jenseitigen, in den kollektivunbewussten Abgründen der Seele verschollenen Selbst.

Im Aspekt dieser durch Jung unwillentlich herbeigeführten Zweiteilung spielt sich das menschliche Drama nunmehr wesentlich innerseelisch ab. Denn das Selbst des Menschen west jetzt drüben, im Kollektiven Unbewussten, und bekundet sich nur aus dieser »Transzendenz« dem diesseitigen peripheren Ich, das jetzt nach ihm zu forschen beginnt. Das Selbst gibt sich diesem forschenden Ich heimlicherweise zu erkennen in den bildhaften Bekundungen archetypischer Art. Im Prozess der psychologischen Verarbeitung dieser archetypischen Bilder, das heißt in ihrer symbolisch synthetisierenden Betrachtung soll sich darum, nach Jung, das Selbst des Menschen progressiv verwirklichen.

Wir misstrauen, wie wir es wiederholt ausgesprochen haben, dieser introversiven Selbstverwirklichung von Grund aus. Aber wir müssen hier dennoch Jungs besonderes Verdienst für die Sache der Verwirklichung des Menschen ins Licht stellen. Wir sehen Jungs Verdienst darin, dass er in heiligem Ernst das Selbst in der Seele suchte – wo anders hätte er es suchen sollen? – und dass er, was uns jetzt sehr beeindruckt, diesen hoffnungslosen Weg nach innen forschend bis ans Ende gegangen ist.

 

In seinem endlosen Bemühen, das Selbst des Menschen im introversiven Erlebnisprozess zu finden, hat uns Jung schließlich doch auf den Ort des existentiellen Durchbruchs genau hingewiesen. Obwohl es ihm nicht glückte, vom Ich aus durchzubrechen zum Selbst, erweckte er doch in uns – die wir nun in der anthropologischen Blickrichtung stehen – die Erkenntnis, dass nur von eben diesem Ort aus, dem Selbst, der Durchbruch zum Weltkonkretum hin je und je zu erwarten ist.

Jung ist in seiner Erforschung des Kollektiven Unbewussten und in ihrer therapeutischen Anwendung so weit vorgedrungen, als eine introspektivpsychologische Betrachtungsweise überhaupt vordringen kann, nämlich bis zu jener Stelle, wo das Psychische, über sich hinausweisend, ans Metapsychische stößt.20

Hier, an eben dieser Stelle, setzen wir also mit der anthropologischen Betrachtung und der daraus sich ergebenden therapeutischen Bemühung ein.

Für uns ist das »Selbst« nicht drüben: als ein höherer, höchster seelischer Archetypus, der eine ewige Realisierungsaufgabe des konkreten Menschen darstellt. Das Selbst ist uns vielmehr jedes Menschen immer vorhandener existenzieller Seinsgrund, auch wenn der Mensch als dieser jeweilige Einzelne dies nicht wahrhaben will und sich darum mit sich entzweit.

In unserer anthropologischen Sicht gründet das Menschsein des Menschen im Selbst als seiner personalen, partnerisch ansprechbaren Mitte, in der er auf kreatürliche Begegnung, auf Anruf und Antwort von allem Anfang an angelegt ist. Von dieser seiner personalen Mitte aus steht er je und je als dieser namentliche Mensch dem außer ihm Seienden, Gott und der Welt, gegenüber. In diesem partnerischen Gegenüber findet er seine menschliche Wirklichkeit.

Jungs psychologischer Vorstoß in die archetypische Welt der Seele

Die Psychotherapie der letzten vier Jahrzehnte ist, wie wir heute feststellen müssen, zu ausschließlich nur den innerseelischen Ursachen der Neurose nachgegangen. Darüber vernachlässigte sie, worauf wir erst später noch eingehen wollen, weitgehend die wissenschaftliche Erforschung der für die Entstehung und den Bestand der Neurose mitverantwortlichen sozialen Weltbedingungen und so drang sie auch nie wirklich durch zur Erkenntnis jener ursprünglichen partnerischen Weltbezogenheit des menschlichen Selbst, deren Wiederherstellung ihre letztentscheidende Aufgabe ist.

Dieses Versäumnis der modernen Psychotherapie ist zu beklagen, aber doch auch zu verstehen. Denn die Frage, in was für ein Versteck sich denn eigentlich das vor der Welt zurückschreckende Selbst des Patienten verkrochen habe und wie es sich dort »binnenräumlich« verhalte, stellte sich dem Psychotherapeuten so akut und eindringlich, dass ihre Beantwortung zunächst gefördert werden musste – und dies eben mit allen Mitteln einer introspektiv orientierten Psychologie.

Auf dieser Suche nach dem entschwundenen Selbst hat sich der Begriff des Unbewussten ausgezeichnet bewährt. Er garantierte zuerst einmal die wissenschaftliche Unvoreingenommenheit und erwies sich sodann ungemein fruchtbar als heuristisches Prinzip.

In Bezug auf das Selbst, das sich aus seiner Selbstverfangenheit heraus mit merkwürdigen, schwerbegreifbaren Symptomen manifestiert, wurde damit angesetzt, dass es sich in seinen eigenen autonomen Wirkbereich zurückgezogen hat – wo ihm mit Vorsicht und Umsicht nachzuspüren ist, wenn wir über sein geheimnisvolles Verbleiben Auskünfte gewinnen wollen.

Sigmund Freuds klassischer Ausspruch, dass der Traum die »Via regia zum Unbewussten« sei, leitet vorzüglich hin zum Verständnis des Weges, den die tiefenpsychologische Forschung bis hin zu C. G. Jungs Komplexer Psychologie gegangen ist.

In kurzen Zügen nachgezeichnet stellt sich uns dieser Weg etwa folgendermaßen dar: in der therapeutischen Sicht Freuds wurden die Traumberichte des Patienten entgegengenommen und verwertet als Kundgabe einzelner vom Bewusstsein abgetrennter, aus ihm verdrängter seelischer Komplexe, deren Sonderexistenz sich im Leben des Patienten pathogen auswirkt und für deren Bewusstmachung und Re-integration der Patient als Analysand gewonnen und methodisch angeleitet werden soll. Auf dieser Grundlage funktionierte das »Unbewusste« gewissermaßen noch als ein relativer, das heißt als ein vom Bewusstsein her bestimmter und auf dieses bezogener Begriff. Mit anderen Worten: der Hauptakzent fiel hier noch auf die negative Charakterisierung und rein funktionale Bedeutung der partiellen »autonomen Komplexe«, deren tiefenpsychologische Erschließung und Verarbeitung im Interesse einer neuen, gesunderen Anpassung an die Umwelt lag.

Von dieser Freudschen Position ging auch C. G. Jung aus. Er stieß dann aber vor zu seiner den metapsychischen Seinsgrund im Menschen berührenden Konzeption des Kollektiven Unbewussten.

Im Aspekt dieser neuartigen Konzeption Jungs ist entscheidend nicht mehr die Relation von Bewusstsein und Unbewusstem. Der Schwerpunkt verlegt sich vielmehr nun in ein als absolut gekennzeichnetes Unbewusstes, mit welchem die Psyche zufolge dieser Zentrierung anscheinend »identisch« wird.

In seinem inneren Zusammenhang mit dieser absoluten »wesentlich« unbewussten Psyche, in deren Mitte das »Selbst« verborgen haust, funktioniert das Bewusstsein des Menschen – in der Konfiguration des »Ich« oder »Ego« – nur noch als ein Randphänomen, gewissermaßen als ihr nach außen abgesetztes Orientierungsorgan. Autonom ist in diesem Verband von Ich und Unbewusstem demnach einzig die unbewusste Psyche in ihrer geheimnisträchtigen Komplexität und Totalität.

Jungs »Unbewusstes« als ein das Selbst des Menschen umfassendes Kontinuum ist somit nicht mehr vorwiegend und wesentlich psychische Funktion, wie bei Freud, sondern es ist gleichsam die psychische Grundsubstanz in Potenz, von der das Bewusstseins-Ich als Randfunktion abgehoben und sodann als zuständiges Subjekt des psychologischen Erkenntnisprozesses angesprochen wird.

Auf Grund dieser Konzeption einer ganzheitlich unbewussten und autonomen Psyche eröffnete Jung deren wissenschaftliche Erforschung als des »Objektiv-Psychischen«, das seine unergründliche Existenz in einem archaischen Grundbefund hat, der sich in Traumerlebnissen und in autogenen Phantasieerzeugnissen archetypischer Art kundgibt. Diesen objektiv-psychisch sich manifestierenden Quellgrund – eben das Kollektive Unbewusste! – stellt er dem Ichbewusstsein des Analysanden gegenüber als den eigentlichen Forschungsbereich der psychologischen Analyse und zugleich als das entscheidende »Prinzip« des therapeutischen Realisierungsprozesses.

Mit den jeweils zur Anschauung kommenden archetypischen Kundgebungen des Kollektiven Unbewussten hat sich der Analysand unter Anleitung des Analytikers in psychologischer Verarbeitung auseinanderzusetzen. Diese bewusstseinsmäßige Auseinandersetzung, die durch die initiale Konfrontation des Egos mit seinem »Schatten« eingeleitet wird, hat jenen Prozess introversiver Begegnungen und Ereignisse zum Inhalt, der schließlich zur Aktivierung und Objektivierung der ganzheitlichen Psyche im Bild des zentralen »Archetypus des Selbst« hinführt.

Diesen introversiven Prozess des ganzheitlichen Erlebnisses der menschlichen »Psyche« und dessen psychologische Realisierung im Bewusstsein des Analysanden versteht und interpretiert Jung als die Individuation des Menschen schlechthin.

Das Objektiv-Psychische, das schon zu Beginn der komplexpsychologischen Analyse mit methodischer Absicht konstelliert wird, ist für das Bewusstsein des Analysanden nur in Bildern erfahrbar und erfassbar. Diese Bilder werden, sofern sie an Biographisches persönlich anknüpfen, im Prozess der psychologisch-dialektischen Interpretation ihrer dem mitweltlichen Leben entnommenen Eigenbedeutung allmählich entkleidet und als überpersönliche Gehalte in das archetypisch charakterisierte Leitbild der Individuation hineinsynthetisiert.

Die in Bildern sich manifestierenden kollektiv-unbewussten Erlebnisse des Analysanden nimmt und behandelt Jung als ebenso real und objektiv wie irgendwelche konkreten Begegnungen zwischen Mensch und Mensch, Mensch und Welt. Sie gelten ihm in seiner ausschließlich psychologischen Bewertung als ebenso »real« wie diese, weil sie sich im menschlichen Leben mit der Welt – im Medium der psychischen Projektion – als real wirkende Mächte bekunden und als solche auch nachweisen lassen; und sie gelten ihm als ebenso »objektiv«, weil sie dem Bewusstseinssubjekt, dem Ego gegenüber ihre selbsteigene Autonomie und Dignität besitzen und behaupten.21

In Jungs Neurosentherapie ist die psychologische Anstrengung, wo immer Gelegenheit und Veranlassung sich bietet, darauf gerichtet, möglichst jede konkrete Wirklichkeitserfahrung dem introversiven Erlebnisprozess einer Ganzwerdung der Seele konzentrisch zuzuführen. Sie erreicht dies, wie schon angedeutet, indem sie die bewusste Erwartung und Aufmerksamkeit des Patienten primär auf die innerseelischen, kollektiv-unbewussten Geschehnisse und deren Manifestationen lenkt und so die verfügbare psychische Energie der introversiven Selbstrealisierung in methodischer Weise dienstbar macht.

In diesem eindeutig introspektiven Verfahren wird also mittels der libidinösen Aktivierung des Unbewussten gleichsam aller Weltstoff in »Psychisches« umzuwandeln gesucht. Das heißt: alle lebendige Beziehung des Menschen zu den Dingen und Wesen der wirklichen Welt soll hier innerlich erscheinen – erscheinen im psychischen Abbild und Gleichnis- und derart vom Analysanden bewusst realisiert werden.

Diese Welt der wirklichen Wesen und Dinge, das Weltkonkretum, erscheint ja dem Menschen tatsächlich, entblößt und nackt, in den Träumen der Nacht wie auch des Tags. Sie erscheint ihm hier mit dem ihr einwohnenden Schöpfungsgeheimnis. Und er, der Mensch, erlebt so heimlicherweise die wahre geschöpfliche und geschichtliche Welt in tief innerlicher Begegnung: in eindrucksvollster dramatischer Bewegtheit, in objektiv anschaulicher Gestalt.

Diese innerseelisch erlebten, auf konkreteste Wirklichkeit hinweisenden Begegnungen und Ereignisse durchlaufen, nach Jung, eine hierarchische Stufenordnung. Die Bahn der methodisch aktivierten und deshalb dem Bewusstsein zugänglich werdenden innerseelischen Ereignisse nimmt ihren Anfang im Erlebnis der Scham und Furcht erregenden Begegnung mit dem eigenen Schatten. In dieser Schattengestalt, von der er sich schon vor langen Zeiten zugunsten seiner taghellen weltlichen Anpassung losgesagt hat, stößt der Patient schon irgendwie, wenigstens randhaft, mit sich selbst zusammen.

Dieses schattenhafte Selbst erscheint dem flüchtigen, selbstverlorenen Menschen in seinen Träumen etwa als arglistiger Verfolger, der ihn, den Träumer, genauestens zu kennen scheint und es gerade auf ihn abgesehen hat. Mit diesem aufdringlichen Verfolger, der nächtens immer wiederkommt, hat sich der Analysand um der zu erreichenden seelischen Ganzheit willen persönlich einzulassen, er hat sich mit ihm ehrlich und redlich auseinanderzusetzen und mit ihm Frieden zu schließen.

Die eindringliche und gewissenhafte Sinnerschließung dieses spannungsvollen Initialerlebnisses ist für die hernach sich ereignenden, in den archaischen Schichten des Unbewussten sich abspielenden Begegnungen und Begebenheiten von ausschlaggebender Bedeutung. Die einsichtige Bejahung und Integration des eigenen Schattens gibt dem Analysanden sozusagen das Rückgrat, gibt ihm die erforderliche personale Festigkeit, um den nun erst noch andrängenden archetypischen Ereignissen im kollektiv-unbewussten Bereich der »Psyche« verständnisbereit standzuhalten.

Wir können auch sagen: in dieser initialen persönlichen Bewährungsprobe legt der Analysand den Grundstein oder gleichsam die Basisterrasse, auf der der hierarchische Aufbau der introversiven Individuation pyramidenartig seiner Spitze zustrebt. In diesem Bild ordnen sich sowohl der weitere Verlauf der innerseelischen Begebenheiten als auch deren auf die seelische Einung hinzielende therapeutische Bedeutung sinnvoll ein.

Die über die Stufen dieser Pyramide hinweg sich nunmehr ereignenden archetypischen Begegnungserfahrungen sowie deren bewusstseinsmäßige Realisierung haben – wir betonten dies schon früher – rein mystischen Charakter. Zu diesen mystischen Erfahrungen gehört vornehmlich die Begegnung mit dem königlichen Geschwisterpaar: dem »Animus« und der »Anima«. Diese zwei Figuren bezeichnen jenes im Jungschen Individuationsprozess äußerst bedeutsame, von Eros und Thanatos umschwebte innerseelische Geschehen, das in Tod und Wiedergeburt zur Pyramidenspitze hinaufzuführen ermächtigt ist – hinauf zum Ziel der individuellen Vollendung des Menschen im Archetypus des Selbst.

 

Dieser Archetyp des Selbst, dem sich der Analysand im Verlauf der introspektiven Analyse vorschreitend nähert und dessen Führung er sich immer eindringlicher und ausschließlicher zu unterstellen hat – dieser Archetyp ist es, der in der Lehre Jungs den originären Anspruch auf die ganzheitliche Gestalt des Menschen schließlich vertritt. In ihm ist die vollkommene menschliche Individualität gleichsam im Keime angelegt und drängt von da aus zur Verwirklichung. Sache des jeweiligen einzelnen Menschen ist es, diesen Anspruch gläubig anzuerkennen und ihm Folge zu leisten.

Deshalb legt die Jungsche Therapeutik eben darauf ihr Gewicht, dass der an seiner Zerrissenheit leidende Patient die latente Bestimmung dieser archetypischen Anlage in sich erwecken und ihr seelisch einigendes Werk an sich wirken lasse.

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