Wolf unter Wölfen

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Wolf unter Wölfen
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LUNATA

Wolf unter Wölfen

Wolf unter Wölfen

© 1937 Hans Fallada

© Lunata Berlin 2020

Inhalt

Teil I

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebentes Kapitel

Achtes Kapitel

Neuntes Kapitel

Teil II

Zehntes Kapitel

Elftes Kapitel

Zwölftes Kapitel

Dreizehntes Kapitel

Vierzehntes Kapitel

Fünfzehntes Kapitel

Sechzehntes Kapitel

Teil I

Erstes Kapitel
Man erwacht in Berlin und anderswo

1

Auf einem schmalen Eisenbett schliefen ein Mädchen und ein Mann.

Der Kopf des Mädchens lag in der Ellbogenbeuge des rechten Arms; der Mund, sachte atmend, war halb geöffnet; das Gesicht trug einen schmollenden und besorgten Ausdruck – wie von einem Kind, das nicht ausmachen kann, was ihm das Herz bedrückt.

Das Mädchen lag abgekehrt vom Mann, der auf dem Rücken schlief, mit schlaffen Armen, in einem Zustand äußerster Erschöpfung. Auf der Stirn, bis in das krause, blonde Kopfhaar hinein, standen kleine Schweißtropfen. Das schöne und trotzige Gesicht sah ein wenig leer aus.

Es war – trotz des geöffneten Fensters – sehr heiß in dem Zimmer. Ohne Decke und Nachtkleid schliefen die beiden.

Es ist Berlin, Georgenkirchstraße, dritter Hinterhof, vier Treppen, Juli 1923, der Dollar steht jetzt – um 6 Uhr morgens – vorläufig noch auf 414 Tausend Mark.

2

In den Schlaf der beiden sandte der dunkle Schacht des Hinterhofs die flauen Gerüche aus hundert Wohnungen. Hundert Geräusche, sachte noch, drangen durch das offene Fenster, vor dem reglos eine gelblichgraue Gardine hing. Plötzlich schrie, auf der andern Seite des Hofes, keine acht Meter entfernt, ein Flüchtlingskind von der Ruhr angstvoll auf.

Die Lider des schlafenden Mädchens zuckten. Der Kopf hob sich ein wenig. Die Glieder spannten sich. Nun weinte das Kind leiser, eine Frauenstimme schalt schrill, ein Mann brummte – und der Kopf sank zurück, die Glieder entspannten sich neu, das Mädchen schlief weiter.

Im Haus rührte es sich. Türen schlugen, Schritte schlürften über den Hof. Auf den Treppen polterte es, Emaillekannen schlugen gegen eiserne Geländer. In der Küche nebenan lief die Wasserleitung. Im Erdgeschoß, in der Blechstanzerei, schrillte eine Glocke, Räder surrten, Riemen schleiften ...

Die beiden schliefen ...

3

Über der Stadt lag – trotz früher Stunde und klaren Himmels – ein trüber Dunst. Der Brodem eines verelendeten Volkes stieg nicht gen Himmel, er haftete träg an den Häusern, kroch durch alle Straßen, sickerte durch die Fenster, in jeden atmenden Mund. Die Bäume in den verwahrlosten Anlagen ließen fahl die Blätter hängen.

Dem Schlesischen Bahnhof näherte sich, aus dem Osten des Reiches kommend, ein früher Fernzug, mit klappernden Fenstern, zerbrochenen Scheiben, zerschnittenen Polstern – die Ruine eines Zuges. Schlagend, klirrend, stoßend fuhren die Wagen über die Weichen und Kreuzungen von Stralau-Rummelsburg.

Ein Herr, Rittmeister a. D. und Rittergutspächter, Joachim von Prackwitz-Neulohe, weißhaarig und schlank, doch mit dunkel glühenden Augen, beugte sich hinaus, zu sehen, wo man wäre. Er fuhr zurück – ein glühendes Rußteilchen war ihm ins Auge geflogen. Mit dem Taschentuch wischte er, er schalt zornig: Elende Dreckstadt!

4

Im Herd war Feuer entzündet mit lappigem gelbem Papier und Streichhölzern, die stanken oder deren Kuppe abflog. Feuchtes, schwammiges Holz oder minderwertige Kohle schwelten. Das verfälschte Gas brannte puffend, ohne zu hitzen. Langsam wurde wäßrige blaue Milch warm, das Brot war klitschig oder zu trocken. In der Hitze der Wohnung weich gewordene Margarine roch ranzig.

Eilig aßen die Leute das lieblose Essen, eilig, wie sie eilig in die zu oft entfleckten, gewaschenen, ausgebeutelten Kleider gefahren waren. Eilig überflogen ihre Augen die Zeitungen. Es hatte Teuerungskrawalle, Unruhen und Plünderungen in Gleiwitz und Breslau, in Frankfurt am Main und Neuruppin, in Eisleben und Dramburg gegeben, 6 Tote und 1000 Verhaftete. Daraufhin hat die Regierung Versammlungen unter freiem Himmel verboten. Der Staatsgerichtshof verurteilt eine Prinzessin wegen Begünstigung des Hochverrats und Meineids zu 6 Monaten Gefängnis – aber der Dollar steht auf 414 Tausend Mark gegen 350 Tausend am 23. Am Ultimo, in einer Woche, gibt es Gehalt – wie wird der Dollar dann stehen? Werden wir uns zu essen kaufen können? Für vierzehn Tage? Für zehn Tage? Für drei Tage? Werden wir Schuhsohlen kaufen, das Gas bezahlen können, das Fahrgeld –? Schnell, Frau, hier sind noch 10000 Mark, kauf was dafür. Was, ist gleichgültig, ein Pfund Mohrrüben, Manschettenknöpfe, die Schallplatte ›Bananen verlangt sie von mir‹ – oder einen Strick, uns aufzuhängen ... Nur schnell, lauf, rasch –!

5

Auch über Rittergut Neulohe leuchtete die frühe Sonne. Auf den Feldern stand der Roggen in Stiegen, der Weizen war reif, der Hafer auch. Ein paar Maschinen klapperten verloren in der Felderweite, über der die Lerchen unermüdlich ihre Wirbel und Triller schlugen.

Förster Kniebusch, rotbraunes, faltiges Altersgesicht, mit kahlem Kopf, aber weißgelblichem, rundem Vollbart, tritt aus der Hitze des offenen Feldes in den Wald. Er geht langsam, mit der einen Hand rückt er den Flintenriemen auf der Schulter zurecht, mit der andern wischt er den Schweiß von der Stirn. Er geht nicht fröhlich, nicht eilig, nicht kraftvoll; er geht in seinen eigenen, also wenigstens in den von ihm betreuten Forst sachtfüßig, mit weichen Knien, vorsichtig. Sein Auge sieht auf dem Wege jeden Ast, er vermeidet, auf ihn zu treten, er will leise gehen.

Und doch trifft er trotz aller Vorsicht bei einer Wegbiegung, hinter einem Gebüsch vorkommend, auf eine kleine Prozession von Handwagen. Männer und Frauen. Auf den Wagen liegt frisch geschlagenes Holz, nur schiere Stämme – die Äste sind denen zu schlecht. Förster Kniebusch steigt die Zornröte in die Wangen, seine Lippen bewegen sich, in die vom Alter ausgeblaßten Augen kommt ein tieferer Glanz, ein wenig Feuer, aus der Jugend her.

Der Mann am vordersten Wagen – natürlich der Bäumer – hat gestutzt. Nun geht er schon weiter. Nahe, in kaum einem Meter Abstand, klappern die Wägelchen mit dem gestohlenen Holz am Förster vorüber. Die Leute starren in die Luft oder zur Seite, als sei er nicht da, der da schwer atmend steht ... Dann verschwinden sie um die Gebüschecke.

›Sie werden alt, Kniebusch‹, hört der Förster des Rittmeisters von Prackwitz Stimme.

›Ja‹, denkt er trübe. ›Ich bin so alt geworden, daß ich gerne in meinem Bette sterben möchte.‹

Denkt es und geht weiter.

Er wird nicht in seinem Bette sterben.

6

Im Zuchthaus Meienburg schrillen die Alarmglocken, die Wachtmeister rennen von Zelle zu Zelle, der Direktor telefoniert mit der Reichswehr um Verstärkung, die Verwaltungsbeamten schnallen sich Gürtel mit Pistolen um die Bäuche und greifen nach Gummiknüppeln. Vor zehn Minuten hat Gefangener 367 dem Wachtmeister sein Brot vor die Füße geworfen: Ich verlange Brot, vorgeschriebenes Gewicht, und keinen verdammten Gipsbrei! hat er geschrien.

In der gleichen Sekunde war der Tumult, der Aufruhr losgebrochen. Aus zwölfhundert Zellen hatte es geschrien, gebrüllt, gejammert, gesungen, geheult: Kohldampf! Hunger! Kohldampf! Hunger!

Unter den strahlend weißen Mauern des hochgelegenen Zuchthauses lag geduckt das Städtchen Meienburg – in jedes Haus, in jedes Fenster drang das Gebrüll: Kohldampf! Hunger! Nun krachte es, tausend Gefangene waren mit ihren Schemeln gegen die Eisentüren gerannt.

Durch die Gänge liefen die Wachtmeister und Kalfaktoren, flüsterten beschwörend an den Türen der Aufrührerischen. Die Zellen der Gutgesinnten wurden aufgeschlossen: Seid vernünftig, niemand in Deutschland bekommt anderes Essen ... der Dollar ... das Ruhrrevier ... Es werden sofort Erntekommandos zusammengestellt, die auf die großen Güter geschickt werden. Jede Woche ein Paket Tabak, täglich Fleisch ... für die mit guter Führung ...

Mählich schwillt der Lärm ab. Erntekommandos ... Fleisch ... Tabak ... gute Führung ... Es sickert durch die Mauern, es besänftigt die knurrenden Mägen, eine Aussicht, eine Hoffnung auf Sättigung, freien Himmel, vielleicht Flucht ... Die letzten Lärmschläger, die von der eigenen Wut Wütenden schleppen die Wachtmeister in die Arrestzellen: Da, versucht, wie es sich ohne den Gipsbrei lebt!

 

Die Eisentüren fliegen krachend zu.

7

Trotz der frühen Morgenstunde ist im Bayerischen Viertel zu Berlin in der Wohnung der Gräfin Mutzbauer die Zofe Sophie schon wach. Ihre Kammer, die sie mit der noch tief schlafenden Köchin teilt, ist so schmal, daß außer für die zwei Eisenbetten nur noch Platz für zwei Stühle ist – so schreibt sie auf dem Brett des geöffneten Fensters ihren Brief.

Sophie Kowalewski hat schön gepflegte Hände, doch führen sie den Bleistift nur ungeschickt. Grundstrich, Haarstrich, Häkchen, Komma, Haarstrich, Grundstrich ... Ach, sie möchte so vieles sagen ...: wie er ihr fehlt, wie die Zeit nicht vergehen will, fast noch drei Jahre und kaum erst ein halbes herum ... Aber es wird nichts; Gefühle in Geschriebenes umzusetzen, hat Sophie Kowalewski, Tochter des Leutevogts Kowalewski in Neulohe, nicht gelernt. Ja, wenn er hier wäre, wenn es sich um Sprechen handelte, um eine Berührung –! Sie könnte alles ausdrücken, sie könnte ihn mit einem Kuss wild machen, mit einem leisen Anfassen glücklich ... Aber so!

Sie starrt vor sich hin. Ach, sie möchte es ihn spüren lassen in diesem Brief! Aus der Fensterscheibe sieht sie mattfarbig eine zweite Sophie an. Unwillkürlich lächelt sie ihr rasch zu. Ein paar Löckchen haben sich gelöst, hängen dunkel in die Stirn. Die Schatten unter den Augen sind auch dunkel. Sie müßte sich wieder einmal die Zeit nehmen, gründlich auszuschlafen – aber gibt es denn Schlafenszeit in dieser Zeit, wo alles so merklich verrinnt, kaum da es deutlich wurde –? Alles zerfällt, nutze die Minute, heute lebst du noch, Sophie!

Sie mag morgens noch so müde sein, die Füße brennen, der Mund schmeckt schal nach all den Likören, dem Wein, den Küssen – am Abend zieht es sie doch wieder in eine der Bars. Tanzen, trinken und toben! Kavaliere genug, lappig wie ihr Geld, Hunderttausende, fünfzigfacher Zofenlohn, lose in einer Jackettasche. Sie ist auch letzte Nacht mit einem von den Kavalieren mitgegangen – was kommt es darauf an? Die Zeit rinnt, läuft, jagt. Vielleicht sucht sie auch Hans, den für dreiundeinviertel Jahr verlorenen Hans (Hochstapelei) in all den immer wiederholten Umarmungen, in all den Gesichtern, die sich über das ihre neigen, so gierig-ruhelos wie das ihre ... Aber den Hans, strahlend, rasch, allen überlegen, gibt es kein zweites Mal!

Sophie Kowalewski, der harten Arbeit auf dem Rittergut entflohen, sucht in der Stadt – sie weiß nicht was, irgend etwas, das sie noch härter anfassen wird. Einmalig ist dieses Leben, vergänglich; wenn wir tot sind, sind wir so lange tot; und wenn wir alt sind, schon, wenn wir über fünfundzwanzig sind, sieht uns keiner mehr an. Hans, ach Hans ... Sie trägt das Abendkleid der Gnädigen, es ist schnurz, ob die Köchin es sieht. Was die bei den Lieferanten schmuh macht, klaut sie an Seidenstrümpfen und Seidenwäsche. Keiner hat der andern etwas vorzuwerfen. Es ist gleich sieben, schnell noch den Schluss ... Und verbleibe ich mit heißen Küssen Deine Dich ewig liebende Braut Sophie ...

Sie legt keinen Wert auf das Wort Braut, sie weiß auch gar nicht, ob sie das möchte, ihn heiraten, aber sie muß es schreiben, damit sie ihm im Zuchthaus den Brief auch aushändigen.

Und der Zuchthausgefangene Hans Liebschner wird den Brief seiner Braut erhalten, er gehörte nicht zu denen, die wegen zu wilden Gebrülls in eine Arrestzelle gebracht worden waren. Nein, trotzdem er kaum erst ein halbes Jahr im Zuchthaus Meienburg wohnte, war er ganz gegen alle Hausordnung schon zum Kalfaktor aufgerückt und hatte es verstanden, mit besonderer Überzeugung von Erntekommandos zu reden. Das konnte er, er wußte: Neulohe lag nicht weit ab von Meienburg, und Neulohe war die Heimat einer süßen Puppe namens Sophie ...

›Ich werde das Kind schon schaukeln‹, dachte er.

Das Mädchen war erwacht.

Den Kopf in die Hand gestützt, lag es und sah nach dem Fenster hinüber. Die gelblichgraue Gardine bewegte sich nicht. Das Mädchen glaubte, die riechende Hitze vom Hof her zu spüren. Es schauderte leicht.

Dabei sah es an sich herunter. Nicht daß es vor Kälte geschaudert hatte – es hatte wegen der häßlichen Hitze, wegen des üblen Geruches geschaudert. Es sah seinen Leib an; der Leib war weiß und fehlerlos; man mußte sich wundern, daß in einer Luft, die wie zersetzt, wie faulig war, etwas so fehlerlos bleiben konnte!

Das Mädchen hatte keinen genauen Begriff, welche Zeit es war, nach den Geräuschen konnte es neun oder zehn oder auch elf sein – die Vormittagsgeräusche blieben sich nach acht ziemlich gleich. Es war möglich, daß die Wirtin, Frau Thumann, gleich mit dem Morgenkaffee hereinkam. Nach Wolfgangs Wünschen hätte sie aufstehen und sich anständig bekleiden, auch ihn zudecken müssen. Nun gut, sie würde es gleich tun. Wolfgang hatte so überraschende Anfälle von Anstand ...

Es ist doch gleich, sagte sie etwa zu ihm. Die Thumann ist es so und noch ganz anders gewöhnt. Wenn sie nur ihr Geld bekommt, stört sie gar nichts ...

Stören –? hatte Wolfgang zärtlich gelacht. Stören, wenn sie dich so sieht –?!!

Er hatte sie angesehen. Immer wurde ihr unter solchen Blicken von ihm schwach und zärtlich. Sie hätte ihn an sich ziehen mögen, aber da sagte er schon ernster: Es ist doch unsertwegen, Peter, unsertwegen! Wenn wir jetzt auch drinsitzen im Dreck; richtig im Dreck sind wir erst, wenn wir nicht mehr auf uns aufpassen ...

Ein Kleid macht doch nicht anständig, kein Kleid nicht unanständig, fing sie an.

Und wenn es nur ein Kleid ist! Darauf kommt es nicht an! hatte er fast heftig gesagt. Wenn es nur irgend etwas ist, was uns erinnert. Wir sind kein Dreck, ich nicht und du auch nicht. Und habe ich es erst einmal geschafft, wird uns alles viel leichter sein, wenn wir uns hier nicht wohlgefühlt haben, in diesem Dreckloch. Wir dürfen bloß nicht mitmachen mit denen hier!

Er murmelte nur noch, seine Worte verloren sich im Unverständlichen. Er dachte wieder daran, wie er es ›schaffen‹ würde, er war weg von ihr. (Er war viel weg von ihr, seinem Peter.)

Wenn du es geschafft hast, werde ich nicht mehr bei dir sein, hatte sie einmal gesagt.

Ein Weilchen war Stille gewesen, dann hatte ihn doch in seinem Grübeln erreicht, was sie gesagt hatte.

Du wirst bei mir sein, Peter! hatte er heftig geantwortet. Immer und immer. Glaubst du denn, ich vergesse das, wie du Nacht für Nacht auf mich wartest?! Ich vergesse das, wie du hier sitzt – in dem Loch – ohne alles?! Ich vergesse, daß du mich nie fragst und nie drängst, wie ich auch komme?! O Peter!! hatte er gerufen, und seine Augen leuchteten mit jenem Glanz, den sie nicht mochte, denn es war ein Glanz, den nicht sie entzündet. Letzte Nacht war es fast soweit! Es war ein Augenblick, wie ein Berg lag das Geld vor mir ... Ich fühlte, es war beinahe soweit, nur noch ein-, zweimal ... Nein, ich mache dir nichts vor. Ich habe an nichts Bestimmtes gedacht, an kein Haus, keinen Garten, kein Auto, nicht an dich ... Es war wie eine plötzliche Helle vor mir, nein, eine strahlende Helle in mir, das Leben war so weit und klar, wie der Himmel, wenn die Sonne aufgeht, es war alles rein ...

Dann ... er senkte die Stirne ... sprach mich eine Nutte an, und von da an ging alles verquer ...

Er hatte mit gesenkter Stirn am Fenster gestanden. Sie fühlte, als sie seine zuckende Hand zwischen die ihren nahm, wie jung er war, wie jung seine Begeisterung, wie jung seine Verzweiflung, wie jung und ohne alle Verpflichtung, was er ihr sagte ...

Du wirst es schaffen! sagte sie leise. Aber wenn du es geschafft haben wirst, werde ich nicht mehr bei dir sein.

Er zog seine Hand zwischen den ihren hervor.

Du wirst bei mir bleiben, sagte er kalt. Ich vergesse nichts.

Sie wußte, er hatte eben an seine Mutter gedacht, die ihr einmal ins Gesicht geschlagen. Sie wollte nicht darum bei ihm bleiben, weil seine Mutter sie einmal geschlagen hatte.

Und nun, von heute an, würde sie doch bei ihm bleiben, für immer. Noch hatte er es zwar nicht geschafft, und sie wußte längst, auf dem bisherigen Wege würde nie etwas draus werden. Aber was tat das? Weiter dieses schmierige Zimmer, weiter nicht wissen, wovon morgen leben, sich kleiden, weiter alles unklar – aber an ihn gebunden von heute mittag ein Uhr an!

Sie griff auf den Stuhl neben ihrem Bett, faßte die Strümpfe und fing an, sie überzustreifen. –

Plötzlich überfiel sie eine schreckliche Angst, es könne nichts daraus werden, es sei gestern alles fehlgegangen, völlig fehl, bis auf den letzten Tausendmarkschein. Sie wagte nicht aufzustehen, um sich zu überzeugen, sie sah mit brennenden Augen auf Wolfgangs Kleider, die über dem Stuhl neben der Tür hingen. Sie versuchte, die Dicke der rechten Jackettasche, in der er sein Geld aufbewahrte, richtig abzuschätzen.

›Gebühren müssen bezahlt werden‹, dachte sie angstvoll. ›Wenn die Gebühren nicht bezahlt werden können, wird nichts daraus.‹

Es war ein vergebliches Bemühen. Manchmal hatte er auch sein Taschentuch in dieser Tasche. Was konnte es jetzt wieder für neue Scheine geben –? Fünfhunderttausendmarkscheine –? Millionenscheine? Was wußte sie –? Was würde eine Trauung kosten – eine Million? Zwei Millionen? Fünf Millionen – was wußte sie –?! Selbst wenn sie den Mut gehabt hätte, in die Tasche zu fassen, nachzuzählen, sie wußte immer noch nichts! Sie wußte nie etwas.

Die Tasche war nicht dick genug.

Langsam, daß die Bettfedern nicht knarrten, langsam, behutsam, angstvoll drehte sie sich nach ihm um.

Guten Morgen, Peter, sagte er mit fröhlicher Stimme. Sein Arm zog sie gegen seine Brust. Sie legte ihren Mund auf seinen Mund. Sie wollte es nicht hören, jetzt wollte sie es nicht hören, was er sagte:

Ich bin vollkommen blank, Peter. Wir haben keine Mark mehr! Und die Flamme stieg und stieg, lautlos. Ihre reine, weißbläuliche Hitze brannte die verbrauchte Luft des Zimmers rein. Immer noch hoben barmherzige Arme die Liebenden von jedem Liebeslager aus Dunst und Unruhe, aus Kampf, Hunger und Verzweiflung, aus Sünde und Schamlosigkeit hoch in den reinen, kühlen Himmel der Erfüllung.

Zweites Kapitel
Berlin macht sich schwach

1

Viele Straßen um den Schlesischen Bahnhof sind schlimm; damals, 1923, kam zu der Trostlosigkeit, den üblen Gerüchen, dem Elend der öden, dürren Steinwüste eine wilde, verzweifelte Schamlosigkeit, Feilheit aus Elend oder Gleichgültigkeit. Geilheit aus der Gier, sich einmal selbst zu fühlen, selbst etwas zu sein in einer Welt, die in sausender, irrer Fahrt jeden mitriß, unbekannten Dunkelheiten zu.

Der Rittmeister von Prackwitz, viel zu elegant in einen hellgrauen Anzug gekleidet, den ihm ein Londoner Schneider nach gesandten Maßen gefertigt, viel zu auffallend aussehend mit seiner schlanken Figur, dem schlohweißen Haupthaar über dem braun verbrannten Gesicht, mit den dunklen, buschigen Brauen und den dunkel glühenden Augen – der Rittmeister von Prackwitz geht achtsam, sehr grade aufgerichtet, den Bürgersteig entlang, besorgt, niemanden zu streifen. Er sieht gradeaus vor sich hin, auf einen imaginären Fleck, der in Augenhöhe fern von ihm die Straße hinunter liegt, um niemanden und nichts sehen zu müssen. Er möchte auch gerne mit seinen Ohren weghorchen können, etwa in das schwere Rauschen seiner immer noch kaum angemähten, erntereifen Neuloher Kornfelder hinein, er bemüht sich, wegzuhorchen von dem, was ihm Hohn und Neid und Gier nachrufen.

Plötzlich ist es ihm wie in den unseligen Novembertagen des Jahres 1918, als er mit zwanzig Kameraden – dem Rest seiner Schwadron – auch eine Berliner Straße langmarschierte, in der Reichstagsnähe – und plötzlich prasselte aus Fenstern, von Dächern, aus dunklen Torgängen eine wüste Schießerei auf den kleinen Zug herab, ein regelloses, wildes, feiges Geknalle. Auch damals waren sie so weitermarschiert, das Kinn vorgestoßen, den Mund fest geschlossen, mit den Augen einen imaginären Punkt am Ende der Straße fixierend, den sie wohl nie erreichen würden. Und dem Rittmeister ist, als sei er in den fünf Wahnsinnsjahren seitdem eigentlich immer so weitermarschiert, einen imaginären Punkt fixierend, wachend wie schlafend – denn es gab in diesen Jahren keinen Schlaf ohne Traum. Immer eine trostlose Straße voller Feinde, Haß, Gemeinheit, Würdelosigkeit hinunter, und kam, wider alles Erwarten, doch die Ecke, so tat sich nur eine neue, ganz gleiche Straße auf, mit demselben Haß und derselben Gemeinheit. Aber wieder war der Punkt da, auf den man losmarschieren mußte, dieser Punkt, den es gar nicht gab, eine bloße Einbildung – .

 

Oder war der Punkt etwas, das gar nicht draußen, außerhalb von ihm lag, sondern in ihm, in seiner eigenen Brust – sage ich es denn: in meinem Herzen? Marschierte er, weil ein Mann marschieren muß, ohne auf Haß und Gemeinheit zu horchen, sehen auch aus tausend Fenstern zehntausend böse Augen auf ihn, sei er auch ganz allein – denn wo sind die Kameraden?! Marschierte er, weil man nur so sich näher kommt, das wird, was man auf dieser Erde zu sein hat, nämlich nicht das, was die andern von einem erwarten, sondern man selbst –? Mann selbst!

Und plötzlich ist dem Rittmeister von Prackwitz, hier auf der Langen Straße am Schlesischen Bahnhof in Berlin, einer verfluchten Stadt, ist dem Rittmeister und Rittergutspächter, angesichts von zehn schreienden Kaffeehausschildern, die nichts anzeigen als Bordelle – ist dem Rittmeister und Rittergutspächter und Mann Joachim von Prackwitz-Neulohe, der hierherkam, sehr gegen seinen Willen hierherkam, um mindestens sechzig Leute für die Ernte aufzutreiben, ist ihm, als wenn nun wirklich das Ende seines Marschierens ganz nahe wäre. Als könne er nun wirklich bald einmal das Kinn zurücknehmen, den Blick senken, den Fuß ruhen und sagen wie der Herrgott: siehe da, es war alles sehr gut!

Jawohl, eine gute, fast eine Bombenernte stand auf den Feldern, eine Ernte, die diese Verhungerten in der Stadt sehr wohl hätten gebrauchen können, und er mußte alles stehenlassen, einem jungen, etwas verlotterten Bengel von Inspektor übergeben und in die Stadt fahren und um Leute flehen. Denn es war seltsam und völlig unverständlich: je größer das Elend in der Stadt wurde, je knapper dort das Brot und je mehr nur noch das Land wenigstens die auskömmliche Nahrung bot, um so mehr drängten die Leute in die Stadt. Es war wirklich wie mit den Motten, die von der tötenden Flamme gelockt werden!

Der Rittmeister lachte auf. Ja wahrhaftig, es sah wirklich so aus, als winkte ihm ganz nahebei die himmlische Herrgottsruhe vom sechsten Schöpfungstage! Eine Fata Morgana, ein Oasen-Vorgespiegel, wenn der Durst ganz schlimm wird!

Das Weibsbild, dem er gedankenvoll ins Gesicht gelacht, gießt hinter ihm her einen ganzen Kübel, ein Jauchefass, ach was, eine ganze Jauchegrube unflätiger Schimpfereien aus. Der Rittmeister aber tritt in einen Laden, über dem, verdreckt und schief, ein Schild hängt ›Berliner Schnitter-Vermittlung‹.

2

Die Flamme steigt empor und sinkt, das Feuer, das eben noch brannte, ist erloschen – glücklich der Herd, der die Glut lange bewahrt! Funken laufen über die Asche, die Flamme sank zusammen, die Glut verglomm, aber noch ist Wärme da.

Wolfgang Pagel sitzt in seinem feldgrauen, schon arg verbrauchten Waffenrock am Tisch. Er hat die Hände auf die leere Wachstuchplatte gelegt. Nun deutet er mit dem Kopf zur Tür. Sein eines Auge zwinkert, er flüstert: Pottmadamm hat's auch schon gewittert.

Was? fragt Petra, und: Du sollst doch nicht zu Frau Thumann Pottmadamm sagen! Sie setzt uns noch raus.

Bestimmt! sagt er. Heute gibt's schon kein Frühstück mehr. Sie hat's schon gewittert.

Soll ich fragen, Wolf –?

I wo. Wer viel fragt, kriegt keinen Kaffee. Warten wir.

Er kippt den Stuhl zurück, wippt und fängt an zu pfeifen: Erhebt euch von der Erde, ihr Schläfer allzumal ...

Er ist ganz unbekümmert, ganz ohne Sorgen. Durch das Fenster – der Vorhang ist nun zurückgezogen – kommt etwas Sonne in die graue, öde Höhle, was man so in Berlin Sonne nennt, was die Dunstschicht dem Sonnenlicht noch gelassen ... Wie er hin- und herschaukelt, leuchten einmal die breiten, leicht welligen Haarsträhnen auf, einmal das Gesicht mit den hellen, jetzt lustig funkelnden Augen, graugrünen.

Petra, die sich nur seinen abgeschabten Sommermantel übergezogen hat, einen noch aus der Vorkriegszeit – Petra sieht ihn an, sie wird es nie müde, ihn anzusehen, sie bewundert ihn. Sie fragt sich, wie er es fertigbringt, sich in einem Schüsselchen mit einem halben Liter Wasser zu waschen und doch auszusehen, als habe er sich eine Stunde lang in einer Wanne geschrubbt. Sie kommt sich alt und verbraucht gegen ihn vor, obwohl sie ein Jahr jünger ist als er.

Plötzlich hält er mit dem Pfeifen inne, er lauscht zur Tür: Der Feind naht. Gibt es Kaffee? Ich habe Kohldampf noch und noch.

(Sie möchte sagen, daß sie auch Kohldampf hat, schon seit Tagen, denn das bißchen Frühstück mit den zwei Semmeln ist seit vielen Tagen ihre einzige Nahrung – nein, sie möchte es nicht sagen!) Der Schlurfeschritt auf dem Flur ist verhallt, die Etagentür klappte zu. Siehst du, Peter! Pottmadamm ist bloß wieder mit dem Pott aufs Klo gegangen. Auch ein Zug der Zeit: alle Geschäfte werden auf Umwegen erledigt. Pottmadamm läuft mit ihrem Pott.

Er hat den Stuhl wieder zurückgekippt, er fängt wieder an zu pfeifen, unbekümmert, lustig.

Er täuscht sie nicht. Sie versteht lange nicht alles, was er erzählt, sie hört nicht einmal so genau darauf hin. Es ist der Klang seiner Stimme, die leiseste Schwingung, kaum ihm selbst bewußt, sie hört's doch: er ist nicht so lustig, wie er tut, nicht so unbekümmert, wie er sein möchte. Wenn er sich doch ausspräche – mit wem soll er sich denn aussprechen, wenn nicht mit ihr?! Vor ihr braucht er sich doch nicht zu schämen, sie braucht er doch nicht zu belügen, sie versteht alles von ihm – nein, nicht! Aber sie billigt alles, von vornherein und blindlings! Verzeiht es. Verzeiht? Unsinn! Es ist alles recht, und wenn es ihn jetzt überkäme, zu toben, sie zu schlagen – es wäre schon notwendig gewesen.

Petra Ledig (es gibt solche Namen, die ein Schicksal zu sein scheinen) war ein lediges Kind gewesen, ohne einen Vater. Später eine kleine Verkäuferin, von der nun verheirateten Mutter grade noch gelitten, solange sie ihr Monatsgehalt bis auf den letzten Pfennig als Kostgeld ablieferte. Aber es kam der Tag, da die Mutter sagte: Mit dem Dreck beköstige dich selbst! und nachrief: und wo du schlafen kannst, wirst du auch wissen!

Petra Ledig (es ist anzunehmen, daß der anspruchsvolle Name Petra der einzige Beitrag ihres unbekannten Vaters für ihre Lebensausrüstung war) – Petra Ledig war kein unbeschriebenes Blatt mehr mit ihren zweiundzwanzig Jahren. Ihre Reife war in keine geruhsame Zeit gefallen, Krieg, Nachkrieg, Inflation. Sie wußte schon, was es hieß, wenn die Herren im Schuhgeschäft der Verkäuferin den Schuh so bedeutungsvoll gegen den Schoß drückten. Manchmal nickte sie, traf den und jenen am Abend, nach Geschäftsschloss; und sie steuerte ihr Schifflein ein ganzes Jahr recht mutig durch, ohne völlig zu sinken. Sie brachte es sogar fertig, eine gewisse Auswahl zu treffen, eine Auswahl, die nicht so sehr von ihrem Geschmack als von der Furcht vor Krankheit bestimmt war. Stieg der Dollar einmal ganz schlimm, und entwertete sich alles für die Miete Zurückgelegte zu einem Nichts, so bummelte sie auch einmal durch die Straßen, immer in Angst vor der ›Sitte‹. Bei einem solchen Bummel hatte sie Wolfgang Pagel kennengelernt.

Wolfgang hatte seinen guten Abend gehabt. Er hatte ein wenig Geld, er hatte ein wenig getrunken. Dann war er immer vergnügt, zu tausenderlei Dingen aufgelegt. Komm mit, kleine Dunkle, komm mit! hatte er über die ganze Straße gerufen, und es hatte so etwas wie ein Wettrennen zwischen einem schnurrbärtigen Sittenpolizisten und ihr gegeben. Aber die Autotaxe, eine fürchterliche Karre, hatte sie doch entführt zu einem Abend, nett, aber doch eigentlich einem Abend wie alle solche Abende.

Dann war der Morgen gekommen, dieser graue, trostlose Morgen in dem Zimmer eines Absteigehotels, der immer so mutlos machte. Wo es einem wirklich einmal in den Kopf kommt zu fragen: Was soll das alles? Wozu lebst du?

Wie es sich gehörte, hatte sie sich noch schlafend gestellt, als der Herr sich eilig anzog, auch er recht leise, um sie nicht zu wecken. Denn Morgengespräche danach waren unbeliebt, unerquicklich, weil man entdeckte, daß man sich plötzlich nicht das geringste mehr zu sagen hatte, ja, meistens, daß man sich unausstehlich war. Sie hatte nur durch die Lider zu blinzeln, ob er ihr auch das Geld auf das Nachtkästchen legte. Nun, er hatte das Geld hingelegt. Es nahm alles seinen ordnungsmäßigen Verlauf, es war kein Wort von Wiedersehen gesagt worden, er war schon an der Tür.

Sie weiß nicht, wie es geschehen ist, was über sie gekommen ist, sie hat sich aufgesetzt im Bett und mit stockender Stimme leise gefragt: Würdest du – würden Sie – ach, darf ich nicht mitkommen?

Er hatte erst nicht verstanden, ganz verblüfft hatte er sich umgedreht. Wie bitte –?!

Dann hatte er gemeint, daß sie sich, neu in solcher Lage, vielleicht schämte, an Pensionsmutter und Portier vorbeizugehen. Er hatte sich bereit erklärt zu warten, wenn sie schnell machte. Aber während sie sich hastig anzog, hatte es sich herausgestellt, daß es sich nicht um etwas so Einfaches, wie unbelästigt auf die Straße zu kommen, handelte. Das sei sie gewöhnt. (Sie war von der ersten Minute an völlig ehrlich zu ihm.) Nein, sie wollte ganz mit ihm mitkommen, überhaupt. Ob es denn nicht ginge? Oh, bitte, bitte! Wer weiß, was er sich dachte. Plötzlich hatte er keine Eile mehr. Er stand in dem grauen Zimmer – es war grade die schreckliche Morgenstunde kurz vor fünf, die die Herren immer zum Weggehen wählen, weil sie dann die erste Elektrische in ihre Wohnung bekommen. Sie können sich dann noch vor dem Büro frisch machen, und viele tun auch so, als hätten sie in ihren Betten gelegen, drehen sich schnell noch einmal darin um.

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