Wolf unter Wölfen

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Fünftes Kapitel
Das Gewitter bricht los
1

Der Oberwachtmeister der Schutzpolizei Leo Gubalke war erst gegen drei Uhr aus seinem Schrebergarten dicht beim Betriebsbahnhof Rummelsburg in die Wohnung Georgenkirchstraße zurückgekommen. Er hatte ausreichend Zeit, sich gründlich zu waschen und sich umzuziehen für den Dienst. Aber er hatte keine Zeit mehr, noch ein Schläfchen zu tun, wie er eigentlich gewollt hatte. Denn sein recht anstrengender Dienst ging von vier Uhr nachmittags bis morgens zwei Uhr, und es war immer gut, wenn man sich vorher ein wenig auf das Ohr legte. Es kam dem Dienst, und vor allem den Nerven im Dienst zugute.

Oberwachtmeister Leo Gubalke ist ganz allein in seiner Zwei-Zimmer-Wohnung. Die Frau ist schon seit dem Morgen im Schrebergarten (Kolonie Nordpol), die beiden Gören sind von der Schule direkt dorthin gefahren. Der Polizist hat sich die große Zinkwanne, die von seiner Frau sonst für die Wäsche benutzt wird, in die Küche geholt und schrubbt sich langsam und sorgfältig von oben her ab.

Es ist ein alter Streit zwischen ihm und seiner Frau, wie man sich am besten ganz wäscht. Er tut es von oben her: Kopf, Hals, Schultern, Brust und so weiter, bis er unten bei den Füßen ist. Das ist wirklich ordentlich und sauber, denn nichts bereits Gesäubertes wird durch das Waschen des nächsten Körperteils wieder berührt. Außerdem ist es sparsam, denn das reichlich von oben rinnende, mit Seife versetzte Wasser weicht die später zu reinigenden Körperteile schon ein.

Frau Gubalke will das nicht einsehen, oder, falls sie es doch eingesehen hat, tut sie es nicht. Sie wäscht sich ganz systemlos, jetzt den Rücken, dann die Füße, jetzt die Brust, nun die Schenkel. Oberwachtmeister Leo Gubalke, der dienstlich fast alle Tage mit aufgeregten Frauen zu tun hat, ist fest davon überzeugt, daß auch Frauen Verstand haben können. Aber jedenfalls eine ganz andere Art Verstand als die Männer, und es ist völlig unnütz, sie von etwas überzeugen zu wollen, von dem sie nicht überzeugt sein mögen.

Frau Gubalke ist eine fabelhaft ordentliche Frau, die Küche blitzt nur so, und Gubalke weiß, daß in jeder sorgfältig zugeschobenen Lade, hinter jeder zuverlässig abgeschlossenen Schranktür jedes Stück in Ordnung liegt, aber System in ihre Körperpflege ist nicht zu bekommen. So etwas ist nun einmal bei Frauen so, und wenn es so ist, soll man es auch nicht zu ändern versuchen, sie werden sonst leicht böse. Aber immerhin hatte der Vater den Triumph, daß die beiden Kinder, zwei Mädchen, sich nach seiner Methode wuschen.

Oberwachtmeister Gubalke ist ein Mann Anfang der Vierzig, rotblond, schon ein bißchen fett, ein sehr ordentlicher Mann, nicht ohne Wohlwollen, wenn es nur irgend damit ging. Eine sonderliche Begeisterung empfand er nicht mehr für seinen Beruf, obwohl der eigentlich seiner Neigung zur Ordnung entsprach. Ob er Chauffeuren vorschriftswidriges Fahren verwies, ob er einen randalierenden Betrunkenen auf die Wache brachte oder ob er eine Prostituierte aus der verbotenen Königstraße wies – er hielt die Stadt Berlin in Ordnung, er sorgte dafür, daß alles auf der Straße seine Richtigkeit hatte. Natürlich konnte öffentliche Ordnung nie den Rang privater Ordnung wie etwa in seiner Wohnung erreichen. Vielleicht war es dies, was ihm die Freude an seinem Beruf vergällte.

Lieber hätte er in der Schreibstube gesessen, Register geführt, Karteien in Ordnung gehalten. Dort war mit Papier, Feder und womöglich noch mit einer Schreibmaschine etwas zu erreichen, das seinem Idealbild von der Welt am nächsten entsprach. Aber seine Vorgesetzten wollten ihn nicht von der Straße wegnehmen. Dieser ruhige, besonnene, vielleicht eine Spur langsame Mann war, zumal in dieser schwierigen, wirren Zeit, kaum zu ersetzen.

Während sich Leo Gubalke sein etwas rosiges Fett schrubbt, daß es rot wird, überlegt er wieder einmal, wie er der Sache einen Dreh geben soll, den sie nun einmal scheinbar haben muß, damit sein so oft geäußerter Wunsch auf Versetzung in den Innendienst erfüllt wird. Um diese Versetzung zu erreichen, auch wenn die Vorgesetzten es nicht wollen, gibt es mancherlei Mittel. Zum Beispiel Feigheit – aber Feigheit kommt natürlich nicht in Frage. Oder Aufgeregtheit, die Nerven verlieren – aber Oberwachtmeister Gubalke kann natürlich nicht die Nerven vor allen Leuten auf der Straße verlieren. Man könnte auch zu schneidig werden, jeden Dreck anzeigen, alles auf die Wache schleppen – aber das wäre wieder unkollegial. Oder man müßte einen Fehler begehen, einen groben, dicken Fehler, der die Polizei kompromittiert und über den sich manche Zeitungen so freuen – das würde ihn auf der Straße bestimmt unmöglich machen –, dafür aber ist ihm diese Uniform, ist ihm der Begriff ›Polizei‹, zu der er nun schon so lange gehört, zu lieb.

Der Oberwachtmeister seufzt. Betrachtet man den Fall näher, ist es wirklich erstaunlich, wie sehr die Welt für einen Mann, der auf Ordnung sieht, verstellt ist. Hundert Dinge, die ein weniger Gewissenhafter alltäglich tut, sind für ihn unmöglich. Auf der andern Seite hat man dafür ständig das Gefühl, ohne das man nicht leben möchte, daß man nicht nur die Welt in Ordnung hält, nein, daß man auch mit ihr in Ordnung ist.

Gubalke wischt die Zinkwanne sorgfältig aus, bis auch der letzte Wassertropfen aufgesogen ist, und hängt sie dann auf ihren Haken im Klo. In der Küche wird noch einmal der Boden nachgewischt, obwohl die wenigen Spritzer ohnedies in der beängstigenden Schwüle trocknen würden. Nun wird noch umgeschnallt und zum Schluß der Tschako aufgesetzt. Wie immer versucht Leo Gubalke es zuerst vor dem kaum mehr als handgroßen Küchenspiegel, wie immer stellt er fest, daß man hier nicht genau sehen kann, ob der Tschako vorschriftsmäßig sitzt. Also auf den dunklen Flur vor den großen Spiegel. Es ist ärgerlich, das elektrische Licht für einen so kurzen Augenblick einschalten zu müssen (der Stromverbrauch soll im Augenblick des Einschaltens am höchsten sein), aber es hilft nichts.

Nun ist alles fertig, zwanzig Minuten vor vier – eine Minute vor vier wird Oberwachtmeister Leo Gubalke auf dem Revier sein. Er steigt die Treppe hinab, einen weißen Handschuh hat er angezogen, den andern hält er lose in der Hand – so nähert er sich dem Torweg und dem Mädchen Petra Ledig.

Das Mädchen lehnt wieder mit geschlossenen Augen an der Wand. Als sie eben den Diener Ernst um Schrippen bat, als er fortging, sie zu holen, überfiel sie eine so lebhafte Vorstellung des jetzt ganz nahen Gebäcks … Sie meinte, es zu riechen, es war plötzlich etwas von dem frischen, nahrhaften Geschmack in dem verbrauchten, filzigen Mund eingekehrt – sie mußte schlucken. Dann würgte es sie.

Es wurde wieder schwarz in ihrem Kopf, die Glieder gaben nach, als wäre gar kein Halt mehr in ihnen, die Knie waren weich, und ein ständiges Zittern und Schlagen saß in Armen und Schultern. Oh, komm doch! Bitte, komm doch! Aber sie weiß nicht, wen sie flüsternd, ganz allein in ihrer Hungerhölle herbeiwünscht – den Diener oder den Geliebten.

Der Oberwachtmeister der Schupo Leo Gubalke hat natürlich stehenbleiben müssen, er sieht sich dies erst einmal an. Er kennt das Mädchen vom Sehen, da sie im gleichen Haus mit ihm wohnt, wenn auch hinten. Etwas Ungünstiges über sie ist ihm von Dienst wegen nicht bekannt. Immerhin wohnt sie bei einer Frau, die gelegentlich auch Prostituierte beherbergt, und lebt, ohne verheiratet zu sein, mit einem jungen Mann, der anscheinend nur spielt. Berufsmäßiger Spieler – wenn man etwas auf die Klatschereien der Frauen geben kann. Alles in allem liegt also weder zu besonderer Strenge noch zur Milde irgendein Grund vor – der Beamte beobachtet und überlegt.

Selbstverständlich hat sie zuviel getrunken – aber sie ist nahe bei ihrer Wohnung und wird die Treppen schon hinaufkommen. Außerdem beginnt sein Dienst erst um vier Uhr. Er braucht nichts gesehen zu haben, was um so eher geht, da dies nicht sein Bezirk ist und da sie ihn noch nicht bemerkt hat. Gubalke will schon fortgehen, da wirft ein neuer, heftiger Würgeanfall ihren Oberkörper nach vorn, Gubalke sieht direkt in den Mantelausschnitt hinein – und sieht fort.

Dies geht nun doch nicht. Dies kann er nicht übersehen, ein ganzes, säuberliches, ordentliches Leben steht dagegen auf. Der Oberwachtmeister geht auf das Mädchen zu, tippt die mit geschlossenen Augen Würgende mit dem behandschuhten Finger auf die Schulter und sagt: Na – Fräulein?!

Sein Beruf, der den Polizisten skeptisch gegen alle Mitmenschen macht, läßt auch das Vertrauen auf die eigenen Wahrnehmungen nicht intakt. Bis hierher hatte der Oberwachtmeister Leo Gubalke geglaubt, das Mädchen sei völlig betrunken, und ihr Anzug oder richtiger Auszug konnte diesen Glauben nur bestätigen. Kein Mädchen, das nur ein bißchen auf Ordnung an sich und um sich hielt, ging so auf die Straße.

Aber dieser Blick, der ihn aus den Augen des Mädchens traf, als er ihr die Hand auf die Schulter legte, dieser flammende und doch klare Blick, gequälte Kreatur, doch mißachtend ihre Qual – dieser Blick zerstreute jeden Gedanken an Alkohol. In einem ganz andern Ton fragte er: Sind Sie krank?

Sie lehnte an der Wand. Undeutlich nur waren ihr die Uniform, der Tschako, das rosige, volle Gesicht mit dem rötlichblonden, strubbligen Bart vor Augen. Undeutlich war ihr, wer sie fragte, wem sie antworten sollte, was sie zur Antwort sagen sollte. Doch versteht vielleicht keiner so gut wie ein ordentlicher Mensch, der alle Tage mit aller Unordnung der Welt zu kämpfen hat, welchen Umfang diese Unordnung annehmen kann. Aus wenigen Fragen, mühsamen Antworten hatte sich Oberwachtmeister Gubalke rasch ein Bild des Sachverhalts aufgebaut, er wußte auch schon, daß nur auf ein paar Schrippen gewartet werden sollte, daß das Mädchen dann vorhatte, um die Ecke zum ›Onkel‹ zu gehen, der ihr bestimmt mit einem Kleid aushelfen würde, daß dann irgendwelche Freunde oder Verwandte des Mannes aufgesucht werden sollten (das Fahrgeld hatte sie in der Hand) – kurz, daß das Ärgernis aller Voraussicht nach in wenigen Minuten beseitigt sein würde.

 

All dies erfuhr der Oberwachtmeister, wußte es nun, und schon war er im Begriff zu sagen: ›Also gut, Fräulein, dies eine Mal will ich es Ihnen noch durchlassen‹, und zu Wache und Dienst zu gehen, als ihn peinlich der Gedanke anfiel, wann er denn eigentlich auf der Wache eintreffen würde –? Ein Blick auf seine Armbanduhr belehrte ihn, daß es drei Minuten vor vier Uhr war. Vor vier Uhr fünfzehn würde er unter keinen Umständen auf der Wache sein können. Fünfzehn Minuten Dienst versäumt – und mit welcher Entschuldigung –?! Daß er mit einem recht unsittlich bekleideten Frauenzimmer diese Viertelstunde verplaudert hatte, ohne zu einer Diensthandlung zu schreiten! Unmöglich – jeder würde denken: ›Der Gubalke hat einfach verpennt!‹

Unmöglich, Fräulein, sagte er dienstlich. Ich kann Sie unmöglich so auf die Straße lassen. Erst einmal müssen Sie mit mir mitkommen.

Sanft und doch fest legte er ihr die behandschuhte Hand auf den Oberarm, sie sanft, aber doch fest haltend ging er mit ihr auf die Straße, auf die er sie unmöglich lassen konnte. (Ordnung bringt oft so Widersinniges mit sich.)

Ihnen passiert gar nichts, Fräulein, sagte er tröstend. Sie haben ja nichts ausgefressen. Aber ließe ich Sie so auf die Straße, könnte es Erregung öffentlichen Ärgernisses und Schlimmeres werden, und dann hätten Sie was ausgefressen.

Das Mädchen geht willig neben ihm her. Der Mann, der sie so nicht ohne Sorgsamkeit führt, hat nichts an sich, was einen unruhig machen könnte, obwohl er eine Uniform trägt. Petra Ledig, die sich, gar nicht lange her, noch unsinnig vor jedem Polizisten geängstet hat, damals, als sie noch unerlaubt ein wenig auf die Straße ging, Petra merkt, daß Polizisten in der Nähe nichts Beängstigendes zu haben brauchen, sie haben sogar etwas Väterliches. Auf der Wache sind wir zwar nicht darauf eingerichtet, sagt er grade, aber ich werde schon sehen, daß Sie gleich was zu essen kriegen. Die auf der Meldeabteilung haben meist nicht so viel Hunger, da werde ich schon ein Butterbrot fassen. Er lacht. So ein fremdes Butterbrot, ein bißchen angetrocknet und in zerknittertem Stullenpapier, ist grade was Schönes. Wenn ich meinen Gören mal so was mitbringe, sind sie immer ganz wild darauf. Hasenbrot nennen sie das. Sagen Sie auch so dafür?

Ja, sagt Petra. Und wenn Herr Pagel mir mal ein Hasenbrot mitbrachte, habe ich mich auch immer gefreut.

Bei der Erwähnung des Herrn Pagel macht der Oberwachtmeister Leo Gubalke sein dienstlichstes Gesicht. Trotzdem Männer einander immer beistehen müssen, und zumal gegen die Weiber, ist er gar nicht einverstanden mit diesem jungen Herrn, der noch dazu ein Spieler sein soll. Dem jungen Mädchen wird er nichts davon sagen, aber er hat doch vor, sich die Lebensführung dieses Herrchens etwas näher anzusehen. Sehr anständig hat sich dieser Herr Pagel kaum benommen, und es ist nur gut, so ein Luftikus merkt mal, man sieht ihm auf die Finger.

Der Oberwachtmeister ist verstummt, er schreitet schneller aus. Das Mädchen geht willig mit, es ist nur gut, wenn sie rasch aus dieser Anglotzerei fortkommt. So entschwinden die beiden, gegen die Wache hin – und umsonst kommt der Diener Ernst mit seinen Schrippen, umsonst wird das Mädchen Minna der Frau Gesandtschaftsattaché Pagel sich nach ihr erkundigen, umsonst fährt in Dahlem der üppige Maybach los, in dem eine Dame mit einem blinden Kind sitzt.

Umsonst auch zerstreitet sich um diese Zeit Wolfgang Pagel endgültig mit seiner Mutter.

Petra Ledig ist fürs erste einmal aller zivilen Einwirkung entzogen.

2

Wolfgang Pagel ist Schritt für Schritt, ohne sonderliche Hast, aber auch ohne einmal anzuhalten, den weiten Weg von den Villen der Reichen in Dahlem über die durchwimmelten Straßen Schönebergs bis in den alten Berliner Westen gegangen. Er kam durch viele Straßen, in denen außer ihm kaum ein Mensch ging, durch leere, verlassene, wie von der Sonne kahlgebrannte Straßen. Und wieder ging er andere Wege, die vom Verkehr durchbraust waren, wimmelte mit den Wimmelnden, trieb ziellos zwischen den Zielstrebenden.

Über ihm hing der Dunst aus Schwüle und Atem der Stadt. Als Pagel zwischen den Baumalleen Dahlems ging, warf er noch einen klaren, scharfen Schatten. Je tiefer er sich aber in der Stadt verlor, um so mehr verblaßte der Schatten, grau verschmolz er mit dem Grau der Granitplatten auf dem Gehsteig. Nicht allein die Mitwimmelnden löschten ihn aus, nicht nur die immer steiler und enger über ihm ragenden Hauswände, nein, der Dunst wurde dichter, die Sonne blasser. Die Hitze, die sie ständig in die überhitzte Stadt schleuderte, löschte sie aus.

Noch war nichts von Wolken zu sehen. Vielleicht lauerten sie schon hinter den Häuserreihen, geduckt längs dem verborgenen Horizont, bereit, hochzusteigen, sich mit Feuer, Donner und strömender Nässe zu ergießen, vergeblicher Einbruch der Natur in eine künstliche Welt.

Wolfgang Pagel geht darum nicht schneller. Zuerst ist er ohne bestimmtes Ziel losgegangen, nur aus dem Gefühl heraus, daß er in jener Herrschaftsküche nicht mehr sitzen dürfe. Dann, als ihm plötzlich das Ziel seines Marsches klar war, ging er darum nicht schneller. Er ist immer ein gemächlicher Mensch gewesen, mit Wissen und Bewußtsein war er langsam, gerne machte er eine Handbewegung, ehe er auf eine Frage Bescheid gab: das schob die Antwort ein wenig hinaus.

Auch jetzt geht er langsam; es schiebt die Entscheidung ein wenig hinaus! In der Küche, beim Gespräch mit dem blinden Kind hatte er noch gemeint, die Sorge um Petra andern Menschen überlassen zu müssen. Er hatte nämlich gedacht, er könne Petra nicht helfen. Hilfe für ein Mädchen ohne Kleider, ohne Essen, mit Schulden konnte nur Geld heißen, er aber hatte kein Geld. Dann aber war ihm eingefallen, daß er doch Geld hatte, oder wenn auch nicht Geld, so doch etwas, das ebensoviel wert war wie Geld. Um es genau zu sagen, hatte von Zecke ihn auf den Gedanken gebracht: er besaß ein Bild. Dieses Bild, junge Frau am Fenster, gehörte unbestreitbar ihm. Er erinnerte sich wohl, wie seine Mutter, als er ins Feld ging, gesagt hatte: Dieses Bild gehört jetzt dir, Wolf. Denke im Felde immer daran: Vaters schönstes Bild wartet hier auf dich.

Er fand es nicht sehr schön, aber es würde seinen Marktpreis haben. Zecke würde er den Gefallen nicht tun, aber es gab Kunsthändler genug, die einen Pagel gerne nahmen. Wolfgang entschied sich für einen großen Kunsthändler in der Bellevuestraße. Dort würde man es bestimmt verschmähen, ihn zu übervorteilen, ein Pagel war auch ohne Übervorteilung ein Geschäft.

Es würde zahlenmäßig eine unerhört große Summe dafür geben, Hunderte von Millionen vermutlich (eine Milliarde?!), aber er würde nichts von dem Geld anrühren, nicht ein Schein sollte gewechselt werden! Sogar zu Fuß würde er in die Georgenkirchstraße gehen – ist man von Dahlem in die Stadt zu Fuß gegangen, kann dieses letzte Stückchen Weg auch nichts bedeuten. Nein, kein Schein wurde gewechselt – mit der ganzen ungeheuren Summe wird er die Wartende überwältigen!

Pagel geht dahin durch die glühende Stadt Berlin, ohne Eile und ohne anzuhalten. Er denkt seine Pläne viele Male durch, es gibt mancherlei dabei zu erwägen. Aber am besten gefällt ihm doch der Augenblick, wenn er ihr eine Unsumme, Scheine über Scheine, auf den Tisch legt, besser noch: auf die im Bett Liegende herabregnen läßt, daß sie ganz im Gelde verschwindet, in der Dreckhöhle mit Geld zugedeckt wird. Diesen Augenblick hat er oft geträumt. Früher hatte er gemeint, es würde der Spielgewinn sein. Nun wird es anderes Geld sein, aus dem Verkauf eines väterlichen Bildes. Erspieltes, den drei Raubvögeln gewissermaßen entrissenes Geld – das wäre freilich noch schöner gewesen. Nun, der Gedanke ist endgültig vorbei, ›daran‹ wird nicht mehr gedacht!

So geht er dahin, Wolfgang Pagel, Fahnenjunker a. D., Spieler a. D., Liebhaber a. D. Er hat wieder mal nichts getan, er geht nur, geht von hier nach dort, von dort nach hier. Vormittags ist er noch gefahren, auch da hatte er Pläne, aber erst diese jetzt sind die richtigen. Er hat die vorzüglichsten Absichten, er geht ohne Hast. Er ist behutsam, im Gleichgewicht mit sich, völlig zufrieden mit sich. Er wird ein Bild verkaufen, zu Geld machen, das Geld wird er dem Peter bringen – großartig! Nicht einen Augenblick kommt ihm der Gedanke, daß seinem Peter vielleicht gar nichts an dem Gelde liegen könnte. Er bringt ihr Geld, viel Geld, mehr Geld, als sie je in ihrem Leben besessen hat – kann man mehr für sein Mädchen tun?! Die Welt jagt, der Dollar steigt, das Mädchen hungert – er geht gemächlich, denn was er tun wird, ist so gut wie getan. Er hat keine Eile, es hat alles seine Zeit, wir sind noch immer zurechtgekommen!

Und nun biegt er in die Tannenstraße ein, die nur eine Sackgasse ist. Er geht die paar Schritte, schließt die Haustür auf und steigt die alte Treppe zur Wohnung der Mutter empor. Das alte Porzellanschild mit dem Gesandtschaftsattaché an der Tür, älter als er selbst, mit der abgeschlagenen Ecke, die er einmal, endlos lange her, mit seinem Schlittschuh abschlug. Der alte Geruch auf dem Flur mit seinen dunklen Truhen, eichenen Schränken, der alten, launischen Standuhr und den eiligen, großen Skizzen des Vaters hoch an den Wänden, die hell wie Wolken über der dunklen Welt zu schweben schienen.

Aber neu sind die beiden großen festlichen Asternsträuße auf dem altmodischen Spiegeltisch, und als Wolfgang sie ansieht, findet er einen Zettel der Mutter zwischen den beiden chinablauen Vasen. ›Guten Tag, Wolf!‹ liest er. ›Kaffee steht in Deinem Zimmer. Mach es Dir gemütlich, ich muß nur schnell noch einmal fort.‹

Einen Augenblick steht er unschlüssig vor diesem Gruß. Er weiß aus Minnas Berichten, daß die Mutter ihn jeden Tag, jede Stunde erwartet – aber dies ist ihm doch zu viel. Er hat sich dieses Warten anders gedacht, nicht so zielbewußt, mehr beiläufig. Ihm kommt der Gedanke, den Kaffee im eigenen Zimmer ungetrunken zu lassen, das Bild zu holen und zu gehen. Aber das mag er auch wieder nicht, wie ein Dieb in der Nacht – nein! Er zuckt die Achseln, der Blasse ihm gegenüber im grünlichen Spiegel tut es auch, und lächelt sich fast verlegen zu. Dann knüllt er den Zettel zusammen und steckt ihn in die Tasche. Nun errät die Mutter aus dem Fehlen des Zettels: er ist da – und sucht ihn. Je eher, je besser.

Er geht auf sein Zimmer.

Auch dort sind Blumen, diesmal Gladiolen. Er erinnert sich dunkel, einmal der Mutter gesagt zu haben, er möge Gladiolen gerne. Natürlich hat sie das behalten und ihm welche hingestellt, jetzt soll er sie abermals gerne mögen. Aber auch fühlen: wie liebt dich deine Mutter, daß sie an all dies denkt –!

Jawohl, darin war sie groß: sie rechnete in der Liebe: tue ich das, hat er so zu fühlen. Er dachte gar nicht daran, die Gladiolen waren nicht schön! Sie waren steif und künstlich mit ihren dünnen Farben – bepinseltes Wachs! Peter würde nie in der Liebe rechnen –!

›Warum denke ich nur plötzlich so gereizt an Mama?‹ überlegt er, während er sich den wirklich noch heißen Kaffee eingoß. (Sie mußte ihn eben erst hingestellt haben. Ein Wunder, daß sie sich auf Treppe oder Straße nicht begegnet waren!) ›Ich bin direkt wütend auf sie. Ob es das Haus ist, der alte Geruch, all die Erinnerungen –? Ich weiß ja erst richtig, seit ich mit Peter hause, wie sie mich immer gegängelt und bevormundet hat … Alles, was sie wollte, war gut; jeder Freund, den ich mir aussuchte, taugte nichts. Und nun dieser aufdringliche Empfang … Jawohl, ich habe es längst gesehen: dort auf dem Schreibtisch liegt schon wieder ein Zettel. Und über dem Stuhl hängt der frisch gebügelte Zivilanzug und die Wäsche. Ein seidenes Oberhemd, in das sie natürlich auch schon die Knöpfe gesteckt hat …‹

Er macht sich seine dritte Schrippe zurecht, es schmeckt ausgezeichnet. Der Kaffee ist stark und milde zugleich, sein voller Geschmack erfüllt sanft die ganze Mundhöhle. Etwas anderes als das flaue und doch krätzige Gebräu der Pottmadamm. (Ob Peter jetzt auch Kaffee trinkt? Hat sie natürlich längst hinter sich! Vielleicht Nachmittagskaffee!)

Während Wolfgang Pagel sich behaglich auf die Chaiselongue streckt, versucht er zu erraten, was da auf dem Zettel stehen könnte. Natürlich irgend etwas wie: ›Den Schlips mußt Du Dir selbst aussuchen, sie hängen an der Innenseite der Schranktür.‹ Oder: ›Badewasser ist heiß.‹

 

Natürlich, so etwas wird daraufstehen, und wie er nun doch nachsieht, liest er, daß der Badeofen geheizt ist. Ärgerlich schiebt er den einen zerknüllten Zettel zum andern. Daß er die Mutter so gut erraten hat, freut ihn nicht, es macht ihn nur noch ärgerlicher.

›Natürlich‹, denkt er, ›kann ich sie so gut erraten, weil ich sie so gut kenne. Besitzergreifung. Bevormundung. Immer, wenn ich aus der Schule kam, mußte ich sofort die Hände waschen und einen frischen Kragen umbinden. Ich war ja mit den andern zusammen gewesen – wir aber waren anders, besser! Es ist eine glatte Frechheit gegen mich, aber vor allem gegen Peter, die sich die Mama da wieder mal ausgedacht hat! Diesmal genügt ihr Umziehen nicht, ich muß auch noch baden! Ich bin ja mit so einer zusammen gewesen, der Mama glatt eine Schelle gehauen hat! Frechheit – dies lasse ich mir aber nun doch nicht gefallen!‹

Er starrt wütend sein Jugendzimmer an mit dem gelbbirkenen Schreibtischchen, den birkenen Bücherregalen, vor denen halb ein dunkelgrüner, seidener Vorhang hängt. Das birkene Bett schimmert wie Silber und Gold. Licht, Freude – es stehen ja auch Bäume vor dem Fenster, alte Bäume. Alles ist so aufgeräumt, so sauber, so frisch – wenn man an die Thumannsche Höhle denkt, entdeckt man sofort, warum dies alles so adrett und parat gehalten wird. Der Herr Sohn soll vergleichen: so hast du es bei diesem Mädchen, hier aber sorgt für dich deine treu liebende Mutter! Glatte Frechheit und Herausforderung!

›Halt!‹ sagt er wieder und versucht, sich zu bremsen. ›Halt! Du läufst mit dir selber fort. Die Pferde gehen dir durch. Manches stimmt, Blumen und Zettel sind ekelhaft, aber das Zimmer hat nie anders ausgesehen. Warum bin ich also so wütend? Weil ich daran denken mußte, daß Mama den Peter geohrfeigt hat? I wo, so was muß man bei Mama nicht tragisch nehmen, und Peter hat es auch nicht einen Augenblick tragisch genommen. Es muß etwas anderes sein …‹

Er tritt ans Fenster. Ferner stehen die Nachbarhäuser, man sieht hier den Himmel. Und wirklich, hoch am Horizont aufgehäuft liegen schwarze, geduckte Wolken. Das Licht ist fahl, kein Wind rührt sich, kein Blatt bewegt sich am Baum. Auf dem Mansardendach drüben sieht er ein paar Spatzen sitzen, die streitlustigen Gesellen hocken aufgeplustert, regungslos dort, auch sie schon geduckt unter der nahen Drohung des Himmels.

›Ich muß schnell sehen, daß ich weiterkomme‹, denkt er. ›Mit dem Bild unter dem Arm durch ein Gewitter zu laufen, wäre nicht angenehm …‹

Und plötzlich weiß er es. Er sieht sich mit dem Bild, das in irgendein schon beschmutztes Packpapier geschlagen ist, durch die Straßen zu dem Kunsthändler laufen. Nicht einmal eine Taxe kann er sich leisten. Ein Millionen-, vielleicht ein Milliardenobjekt, aber unter den Arm geklemmt, wie ein Dieb! Heimlich, wie ein Säufer seiner Frau die Betten heimlich aus dem Hause trägt zum Onkel.

›Aber es ist mein Eigentum‹, wendet er sich ein. ›Ich brauche mich nicht zu schämen!‹

›Ich schäme mich doch‹, sagt er. ›Es ist nicht recht.‹

›Wieso ist es nicht recht? Sie hat es mir geschenkt!‹

›Du weißt genau, wie sehr sie an diesem Bild hängt. Darum hat sie es dir ja geschenkt, sie wollte dich noch fester an sich binden. Du wirst sie tödlich verletzen, nimmst du es ihr fort.‹

›Dann mußte sie es mir eben nicht schenken. Nun kann ich damit tun, was ich will.‹

›Es ist dir schon öfter schlecht gegangen. Du hast schon öfter an diesen Verkauf gedacht, und hast es doch nie getan.‹

›Weil es uns noch nie so schlecht ging. Jetzt ist es eben soweit.‹

›So, ist es das? Wie finden denn andere heraus, die so etwas nicht in Reserve haben?‹

Andere hätten es nicht so weit kommen lassen. Andere hätten nicht alles gleichgültig treiben lassen, bis es ganz schlecht ging. Andere hätten nicht als letzten Ausweg die Mutter verletzt, um der Geliebten Brot zu geben. Andere hätten nicht bedenkenlos gespielt – bedenkenlos, weil das Bild als Reserve da war. Andere hätten sich beizeiten nach Arbeit umgesehen und hätten Geld verdient. Andere wären nicht gleichgültig versetzen, pumpen und betteln gegangen. Andere hätten nicht von einem Mädchen nur genommen und genommen, ohne sich je Gedanken zu machen: was gibst du?

Der Himmel ist jetzt höher hinauf schwarz. Vielleicht wetterleuchtet es da hinten bereits, man sieht es nicht durch den Dunst. Vielleicht grummelt auch schon ferne der Donner, aber man hört ihn nicht. Es donnert, zischt und schreit noch lauter die Stadt.

›Du bist feige‹, sagt es. ›Arm bist du, vertrocknet mit dreiundzwanzig Jahren. Es war alles da für dich, Liebe und sanfte Sorge, du aber liefest davon. Gewiß, gewiß, du bist jung. Jugend ist ruhelos, Jugend fürchtet sich vor dem Glück, sie will das Glück gar nicht. Denn Glück heißt Ruhe, und Jugend ist ruhelos. Aber wohin bist du gelaufen? Bist du denn zu der Jugend gelaufen? Nein, grade dorthin, wo die Alten sitzen, die den Stachel des Fleisches nicht mehr spüren, die keinen Hunger mehr haben … in die schwelende, trockene Sandwüste der künstlichen Leidenschaften liefest du – schwelend, trocken, künstlich – unjung!‹

›Feige bist du! Jetzt sollst du dich einmal entscheiden. Schon stehst du und zauderst. Du willst die Mutter nicht verletzen und doch dem Peter helfen. Ach, am liebsten wäre es dir, wenn dich die Mutter bitten würde, inständig, mit aufgehobenen Händen bitten würde, doch ja das Bild zu verkaufen. Aber sie wird das nicht tun, sie wird dir die Entscheidung nicht abnehmen, du selbst bist der Mann! Es gibt kein Mittelding, keinen Ausweg, keinen Kompromiß, kein Kneifen. Du hast es zu lange treiben lassen, nun entscheide – eine oder die andere!‹

Die Wolke steigt höher und höher. Wolfgang Pagel steht noch immer entschlußlos am Fenster. Er ist gut anzusehen, mit schmalen Hüften und breiten Schultern, eine Kämpferfigur. Aber er ist kein Kämpfer. Er hat ein offenes Gesicht, mit einer guten Stirn, einer kräftigen, graden Nase – aber er ist nicht offen, er ist nicht grade. In ihm kommen und gehen viele Gedanken, alle sind sie unangenehm, peinigend. Alle verlangen sie etwas von ihm, er ist böse, daß er solche Gedanken denken muß.

›Andere haben es besser‹, denkt er. ›Die tun, was ihnen paßt, und machen sich keine Gedanken. Bei mir ist alles schwierig. Ich muß es mir noch einmal überlegen. Gibt es denn keinen Ausweg – Mutter oder Peter?‹

Eine Weile hält er sich stand, er gibt sich Mühe, will dieses Mal der Verantwortung nicht ausweichen. Aber allmählich, wie er keinen Ausweg findet, wie alles immer wieder die Entscheidung von ihm fordert, wird er müde. Er brennt sich eine Zigarette an, er trinkt noch einen Schluck Kaffee. Er öffnet leise die Zimmertür und lauscht in die Wohnung. Es ist alles still, Mutter ist noch nicht zurück.

Er hat blondes, gekräuseltes Haar, sein Kinn ist nicht sehr stark – er ist weich, er ist schlaff. Er lächelt, er hat seinen Entschluß gefaßt. Wieder einmal ist er der Entscheidung ausgewichen. Er wird die Abwesenheit der Mutter benutzen und ohne Auseinandersetzung mit dem Bild gehen. Er lächelt, plötzlich ist er völlig zufrieden mit sich, die quälenden Gedanken sind fort.

Er geht schnurstracks über den Flur, auf Vaters Zimmer zu. Er hat keine Zeit zu verlieren, das Gewitter ist am Losbrechen, Mama kann jeden Augenblick zurückkommen.

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