Der junge Goedeschal

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7

Der eisige, die Straße hindurchjagende Luftzug biß in sein erhitztes Gesicht. Kai griff empor, strich deckend darüber hin, aber nun war es doch, als ob Risse in seinen Wangen aufgegangen seien, ein tiefer, zackiger Spalt schien in der Stirn zu klaffen, und drinnen sang Blut, Blut preßte aus allen Adern, weißlich schäumend verhöhnte es die Kälte, und jeder Herzschlag trieb es zu immer wilderem Toben an. Es sang, es schrie, es jagte in ihm. Gegen jedes Fleckchen der Aderwände preßte es sich und erhitzte sein Fleisch.

Bilder waren plötzlich da und schon wieder ins Dunkel gerissen von dem Wind, der um die Ecken jagte: die anspringenden Brüste; ein geschlossener, roter, schmiegsamer Mundwinkel Ilses, den mit dem Finger zu durchdringen und auseinanderzutun Versuchung war; das Gesäß eines Jungen, an dem eine Sekunde lang seine Hand geruht – unter dem glatten Wollstoff schlug ein sich strammender Muskel wie der Schwanzschlag eines Fisches –, die rasende Lust überfiel ihn, sich hineinzukrallen in dieses Gesäß und es aufzubrechen wie einen mürben Apfel. Und wieder ergriff Kai jenes Unwohlsein, dieser Schwindel, der ihn ohne Zugriff die Treppe hinabgedreht hätte, dieses atemraubende Herzklopfen, das die Brust zerbrechen zu wollen schien, als er, die Stufen zu seinem Zimmer hinaufsteigend, die starken Beine von Erna gesehen hatte, über deren gestrammten Kniekehlen der weiße Rand einer Hose erschienen war.

Er taumelte. Wie von einem rasenden Zug aus gesehen enttauchten Häuser grell beleuchtet dem Dunkel und entzogen sich mit einer eigenwilligen und düsteren Gebärde seinem Blick. Kein Ruhepunkt! Stolpernd, vornüber fallend, fing er zu laufen an, streifte an Wänden vorbei, deren Poren einen klebrigen Schleim abzusondern schienen, ein O-förmiger Torbogen suchte ihn anzusaugen, die Luft war erfüllt von einem verdeckten, durchdringenden Geruch, der ihn zittern machte, aber da war die Brücke, der Park, er eilte unter Bäumen, das Eis einer dünn überzogenen Pfütze zerklirrte an seinem Schuh, eine Bank und nun ein Zusammensinken, ein Stillwerden.

»Wovor bin ich geflohen? Wer jagte mich? Was war das? Bin ich krank? Werde ich wahnsinnig? Was frisst an mir und empört mich gegen mich? Diese sich hebenden Fleischmassen, atmend, bedrängend, duftend! – Da ist es wieder!«

Er sah ins Dunkel. Irgendwo schlug der Wind einen losgebrochenen Ast trocken hölzern gegen seinen Stamm. »Nein, schon wieder fort, es läßt sich nicht fangen. Es bestürmt mich, macht mich rasen und ist von neuem verschwunden.«

Ein ungewisser Schein zeichnete auf dem Boden die Schatten der Äste über ihm, sein Fuß tastete dem einen nach und fand sein Bild plötzlich versickert, geendet. »Unbegreiflich, und doch – dies alles hat eine Wurzel: Erna, Ilse, der Junge, die Brüste. Aber ich begreife es nicht. Damals, als ich nichts wußte – aber jetzt? Damals, als ich entdeckte, daß die Frauen nicht so sind wie wir, anders gebaut. Habe ich nicht alles darüber nachgelesen im Meyer? Und nun? Was denn noch? Gibt es noch anderes? Oder muß dies so sein? Eine Krankheit, die jeden packte?«

Er hob sein Gesicht zum Himmel, stand auf; dann, rasch sich im Kreise drehend, griff er zu, und: »Ja, so war es. Sie flüsterten von Periode damals, in der Pause, auf dem Lokus. Dies wäre dann die Periode?«

Er setzte sich wieder, überlegte, rief Gesichter: Arnes, Klotzschens, das seines Vaters. »Nein, unmöglich, sie so aussehend, dem ausgeliefert! Unmöglich! Also ich allein? Ich allein krank an einer unnennbaren Krankheit, von der ich nie sprechen kann? Was wäre zu sagen? Nichts. Alles zu verbergen!«

In der Ferne sprang der Motor eines Autos an, erst ungleich, dann regelmäßig schlagend warf er zwischen die Bäume die Strophen eines Liedes von unfaßbarer Sicherheit. Kai strich mit der Hand durch die Luft, rasch, wieder und wieder. »Nein! Nein! Nicht für mich! Was denn nun? So, immer so weiter? Nein, nicht so weiter! Immer tiefer hinein, ich fühle es wohl. Bin ich nicht schon ganz gefangen, ganz vergiftet?«

Er horchte. Alles war still geworden, nur der Wind hämmerte seine trockene Melodie, irgendwo dorthinten. »Keine Rettung. Nirgends.«

Seine Arme hängen lassend, übergab er sich ganz der bitteren Stimmung tiefsten Entmutigtseins. Seine von Eiswasser gefeuchteten Füße schmerzten. Hier, so allein mit dem Wind und den namenlos fremden Bäumen, schien er sich der einzige Mensch auf der Welt.

Nein, nicht der einzige: rasche Schritte wurden laut, er schob sich zurück, eine Frau, ein Mädchen kam, unsicher spürte er ihren Blick nach ihm tasten, dann war sie vorüber. Kai sprang auf. Plötzlich fühlte er es: »Sie, sie weiß alles, sie, die dort geht, kann mir helfen. Ich muß nur den Mut haben, sie zu fragen, anzuflehen, dann bin ich gerettet. Und ich habe den Mut.«

Er stürmte los, er stolperte über Schneehaufen, vorn ihre Gestalt, er raste, er fühlte nichts als seinen Lauf, näher, näher. Sie warf den Kopf herum, spähte nach dem springenden Schatten und schrak zusammen. Aber schon war er heran, stolpernd umklammerte er ihre Arme, hinfallend hielt er sich an ihrem Kleid. »Sie! Sie! Hilfe!«

Da riß sie sich von ihm los. Er sah ihr erschrockenes Gesicht, einen halb geöffneten Mund, in dessen Feuchte ein Schrei ertrunken zu sein schien, dunkle Augen, deren klein gewordene Blicke über ihn weg in die Nacht irrten, aber schon war sie fort, und nun in der Ferne brach es aus ihr, spitz, überschlagend und dann lang wimmernd: »Hilfe! Hilfe! Hilfe!«

Er stand, strich mit den Händen über seine durchnäßten Knie. »War ich das? Was schreit sie? Ich habe sie erschreckt ... Auch sie schreit nach Hilfe, nach Hilfe vor mir. Was nun?«

Aber Rufe, näherkommende Schritte zwangen ihn zur Eile, er lief den Weg zurück, dort seine Bank, nun der hallende Schritt auf den sandgestreuten Platten der Straße, ein Platz, wieder Straßen, dort eine elektrische Bahn. »Seltsam! Noch immer fahren sie, so viel ist geschehen und noch fahren sie!«

Dann das Haus, der Schlüssel will nicht greifen, schon meint er den hastigen Schritt der Verfolger zu hören, da empfängt ihn das beruhigende wärmere Dunkel der Vorhalle, die Treppe, die er schleichend emporklimmt, um die Eltern nicht zu wecken, und nun sein Zimmer. Schon ist es erhellt, Menschen, Welt liegen hinter den gelben Vorhängen, und was um ihn ist, ist sein.

8

Er griff ein Buch aus den Reihen, schlug es auf, blätterte, las diesen und jenen Satz. Sein Wortsinn schien gleichgültig, tiefer tastend fühlte er: »Es sagt nur, daß ich zu Haus bin. Du dort hinten, du Ferne, du Erschrockene, und ihr, die ihr nach mir jagtet, bleibt draußen. Hier – der Schrank, der Sekretär, wieder umringt ihr mich und jenes fernere Leben, von dem ich Rettung erflehte, bleibt hinten.«

Er schlug die Vorhänge zurück. Auf dem Güterbahnhof glänzten die gleichgültigen Sterne der roten und grünen Lampen. Anfahrende Rangierlokomotiven schrieen aufgeregt, schwiegen, und nun ertönte das rasche, trockene Klappern der abgestoßenen Wagen. »Dort arbeiten sie. Die kleinen Pfiffe der Rangiermeister, ihr Laufen nach den Weichen, die zurückfallenden Kuppelungen der Wagen betreffen mich nicht. Sie alle, die dort draußen arbeiten, lachen und schlafen, haben nichts mit mir zu tun. Ich bin frei! Kein Weg führt von ihnen zu mir. Ich kann sie um Hilfe anflehen, Böses kann ich ihnen tun, sie verfolgen mich, aber am Ende bin ich doch immer hier im Geborgenen – allein. Verantwortungslos. Unerreichbar. Unsere Leben sind so getrennt, daß ich sie töten könnte, und nicht einmal das klebrige Gerinnsel des Blutes schüfe eine Brücke zwischen uns.«

Er ließ die Gardinen fallen, schob ihre Falten zurecht. Dem sich Umwendenden sprangen wieder die altbekannten, ruhigen Dinge entgegen.

Er entkleidete sich. Im Bett liegend, im Dunkel, fand er den Schlaf nicht. Den vergessenen Aufruhr des Körpers meinte er im Geist sich erneuen zu fühlen. Eine lässige Schwere dehnte seine Glieder in die Länge und rieb ihre Haut gegen die erhitzte Glätte der Laken. »Genügt ihm sein Sieg noch nicht? Immer noch nicht? Was hat er aus meinem Körper gemacht, scheinen nicht alle Glieder verwandelt?«

Er warf sich herum; das Kissen gegen seine Brust pressend, sein Gesicht darin vergrabend, meinte er das gleichmäßige Wogen ferner Wellen zu fühlen, schlanke Schiffe schaukelten im dunkelblauen Wasser eines Hafens, und ihre bewimpelten Masten neigten sich gegeneinander. »Ich werde hinuntergehen, in den Salon, und im Stehspiegel mich ansehen.«

Er hob den Kopf, lauschte in das Dunkel, die Augen weit aufgerissen horchte er auf zwei Stimmen, die sich begegneten:

»Welch Wahnsinn! Was für ein Vorschlag!«

»Ich bin verändert, eine Krankheit verzehrt mich. Vielleicht finde ich ihre Male und bin gerettet.«

»Jetzt in der Nacht! Die Treppen hinabschleichen, unten in nächster Nähe das Zimmer der Eltern!«

»Keiner hört es, ich werde nackt sein.«

»Habe ich nicht gestern erst gebadet, sah ich mich nicht?«

»Ich achtete nicht auf mich.«

»Habe ich mich nicht abgetrocknet, wo waren da die roten Flecke, die ich, von anstürmendem Blut gebildet, fürchte?«

»Sie können erst gekommen sein.«

»Seit gestern! – Ich bleibe!«

»Du gehst.«

»Nein.«

»Doch.«

Die Stimmen wurden still, nichts war entschieden, aber dann war es doch, als sei alles Reden nur nebenher gewesen, Kai stand auf und tastete die Stufen hinab.

Er hob die Hand. Auf den weißen Schimmer seines Leibes im großen Spiegel deutend, erkannte er: »Das bin ich, das ist mein. Das ist mein Leib, mein, das geht und läuft, wie ich will, das ißt und trinkt, Muskeln und Sehnen straffen und lockern sich – hierdurch lebe ich – und – so fremd, oh!, so fremd!«

 

Den rechten Fuß vorsetzend, stützte er die Hand auf die Hüfte und übersah rasch das leichte Auf- und Abwellen der Linien. Er füllte seine Lungen mit Luft. Der gleich einer Trommel im Ausatmen gespannte Bauch war ein Plateau, zu dem von den Seiten und unten das Fleisch herandrängte. Dem prüfenden Blick auf das Gesicht war auch dies nun fremd geworden, es war Fleisch; Fleisch, das sich rötete und erblaßte, das man immer vergaß, an das man nie dachte und das doch sein war – sein, sein: »Kai Goedeschal kann damit tun, was er will.«

»Und all dies ist vergessen gewesen, schien nie dazusein! Aber dies bin doch ich, hier, die Haut, kühl und gestrafft, dort von heißerem Blut gedehnt und weich, dieser Arm, der Fuß, das bin ich! Gehört mir allein! Nie wieder darf ich es vergessen.«

In jeder Linie, in jeder Falte und Muskel meinte er die Physiognomie seiner Innerlichkeit, Begründung seines Geschmacks und seiner Neigungen zu entdecken. Halb sinnlos murmelte er vor sich hin: »Ich muß meine Nacktheit erleben. Nacktheit erleben. Erleben? Was ist das?« sann er weiter. »Erleben, ist das nicht ...?« Er sah vor sich einen aufsteigenden Weg, er wollte »emporleben« sagen, aber da fand er das richtige Wort und sagte rasch: »Teil werden lassen an mir. Ich darf nie wieder meine Nacktheit, meinen Leib vergessen, immer muß ich an ihn denken. Er muß teil werden in mir.«

Ein freieres Gefühl überkam ihn. Wo waren die Schüchternheiten des Abends! Durch das Erkannte stolzgemacht, seines Eigentums gewiß, hob er sich auf dieselbe Höhe mit den Beneidetsten, ja, isolierte sich auch von ihnen.

Dann warf er sich herum. Über die Schulter schauend verwirrte ihn plötzlich heiß das schräge Anschaun der kleinen Rundungen seines Gesäßes. Wie es kam, er wußte es nicht – plötzlich lag er am Boden, er wälzte sich auf dem Teppich, mit einem seltsam schmerzlich wilden Gefühl erfüllten ihn die stacheligen Streicheleien der borstigen Unterlage. Er weinte haltlos, aber immer von neuem umschlang er mit den Armen seine Glieder, er verknäuelte sie, er biß sich in die Schenkel, seine ahnungslosen Hände umschlangen die Fesseln, streichelten die Haut der Brust. Bis zur Sinnlosigkeit erschütterte ihn die plötzliche Überwältigung seines Fleisches. Er versuchte seinen Nabel zu küssen.

Aber dann war er zu Tode erschöpft. Langsam wieder zu Atem kommend, auf der Erde liegend, fand er sich tief gefallen, der er sich eben noch so sehr erhoben hatte. Mit gesenktem Blick löschte er das Licht. Im Dunkeln tastete er zum Zimmer empor. Er wagte nicht, ein Hemd anzuziehen, aus Furcht, seinen Leib zu berühren. Man durfte ihn nicht wieder aufwecken. Alles war Lüge gewesen. Dieser Leib war kein Freund, kein Ich, er war der Feind.

9

In das schwere Einschlafen meinte Kai vor dem Fenster die Töne eines Liedes zu hören, der Wind warf sie getrennt gegen die Scheiben. Er hob den Kopf, er lauschte. Aber alles blieb still, und nur im Kopf klang der Widerhall dieser Frauenstimme. Eine törichte, rasende Hoffnung trieb ihn hoch, er lachte, aber dann: »Warum nicht? Sie will mir ein Zeichen geben. Vielleicht liebt sie mich: Ilse oder jene Erschrockene.«

Er stieß gegen einen Stuhl, lauschte: Stille. »Auch ich liebe sie, jene, die mich lieben mag.«

Er schlug die Vorhänge beiseite. Der kleine Schmuckplatz vor dem Fenster, unsicher erhellt von den entfernten Lampen des Bahnhofs, schien zwischen seinem Gebüsch Gestalten zu verbergen. Hörte er nicht reden? Leise öffnete er die Fensterflügel. Die Kälte ließ ihn erschauern, aber die Wange gegen die von Schnee geraute Scheibe gelehnt, lauschte er:

»Liebe Schwester, ich komm ja nicht wieder, Liebe Schwester, ich kann nicht zurück, Meine Ehre hab ich verloren, Denn ich bin nur ein Mädchen fürs Geld.«

Und nun, zwischen Lachen und Beifallsklatschen wiederholt, klang es höhnischer und stolzer für ihn allein:

»Denn ich bin nur ein Mädchen fürs Geld!«

»War es nicht so gewesen: verspottet, feige, krank, im Schmutze liegend, verworfen, gedemütigt – und eine ganze Welt verachten? Fühlen auch sie so? Ein Nichts sein und triumphieren. Ach, ich bin nicht allein! Ich, du dort, viele, viele, ein endloser Zug, Verwandte, Menschen, Schwestern, ersehnen und verachten die Umarmungen eines Lebens, das uns erdrücken will.«

Und er schwor es sich wieder, kraftlos und schwach, durch tausend Demütigungen hindurch, dies zu suchen, immer von neuem, geknechtet, verraten, niedergeworfen – das Leben.

10

Dann, ehe noch die Weckuhr schepperte, war in seinem Halbschlaf der Wind vor den Fenstern und das schräge Stricheln des Regens auf die großen Scheiben. Und ein wenig Schule trat in seinen Traum und das Graue, das mit Nassem abgewischte Kalte – Sallust, »Bellum Catilinae« (»so sterben! so sterben!«), und nun der Wind (»mutterwindallein«), aber schon war dies blässer geworden, die lockeren Gedanken vergingen, eine Wärme stieg auf, sein Bett war erfüllt von Hitze, seine Arme und Beine lösten sich und hoben sich irgendwie auf, einen Augenblick war ein Druck von innen gegen die Stirn da, die Augäpfel drehten sich unter den Lidern ganz um, als wollten sie nach innen schauen. Und während ein Kreisen begann aus vielen Farben, ein Summen wie von der fern durch den Sommer sausenden Trommel einer Dreschmaschine, gingen Blüten in seinen Lenden auf, fleischige, rot verknorpelte Blüten, die zu atmen schienen. Nun lockte es, sie mit den Fingern zu betasten, doch verkrampfte eine Angst die Hände zu einem unlöslichen Knoten, denn diese runden, fleischigen Blumen –

Der Wecker klingelte, schrie, bellte. Ein plötzlicher Schwung warf Kai im Bett herum, so daß er, auf dem Rand sitzend, um sich tastete. »Still du! Der Tag ist wieder da. Wieder ein Tag!«

Vor den Fenstern kaum ein Dämmern. Die Bäume auf dem Schmuckplatz am Hause verwaschen, trostlos. Ein halb abgerissener Ast hing mit gespreizten Fingern zur farblosen Erde, eine weiße, lange Wunde, von geschlitzter Rinde umhängt, war stumpf wie der Geschmack an seinem Gaumen.

»Wieder in die Penne. Das da draußen, vorhin die Träume, und wieder in die Penne. Gestern Abend, die Nacht, Ilse, die Erschrockene, meine Flucht, der Spiegel – nun, da eine Nacht darüber hinging, sind sie schon so weit fort. Nichts blieb. Keine Änderung? Keine Änderung!«

Die Grauheit dieses Morgens, diese Trostlosigkeit, die Kälte, die mit einer wie gerupften Haut die ihm noch vorhin zu eigen geschenkte Wärme verhöhnte, ließen sein Gesicht schwer werden. In seinen Augen lastete ein Druck. Während er sich anzog, dachte er: »Nur Ziele könnten über solche Morgen helfen. Ziele. Etwas tun. Leben beweisen. Sich selbst. Wo sind die Ziele der Penne? Weg, weg, draußen, irgendwo, ich sehe sie nicht.«

Trostlosigkeit, Trauer um nichts, die Wunde am Baum, graue, stichlige, irgendwie verfettete Kleider, die bei Berührung in den Fingerspitzen schmerzten – eine Lust überkam ihn, ein Bein auszurecken, strecken, dehnen, wie er es auf dem Bild einer Tänzerin gesehen, daß er aufrisse, aufspalte zwischen den Beinen, ein neuer Mund, atmend, blutig, Leben. Er trat ans Fenster. Ein zerstreutes Licht fiel durch die Wolken auf den Platz, es wurde heller, ein herausfahrender Windstoß jagte in der Ecke am Tor einen Haufen verwelkter Blätter auf, trieb sie auseinander und wirbelte sie die Straße hinab. Ein weißer Spitz lief rasch auf drei Beinen über die Rasenfläche, zwängte sich unter dem Gitter durch und verschwand in einer offenen Haustür. Die Schritte der Vorübergehenden schienen fester, ihre Bewegungen entschlossener und stärker.

»Was nutzt es, heute das Pennal zu schwänzen! Besser, ich gehe. Es kommen noch so viele Tage. Und es wird auch heller.«

11

Staatsrat Goedeschal, noch im Bett liegend, drehte sich zum Waschtisch um, an dem seine Frau stand, und sagte, indem er auf die Zimmerdecke wies: »Er ist schon wieder auf. Halb Sieben. Jeden Morgen früher. Das geht nicht, der Junge braucht seinen Schlaf.«

Sie, das Gesicht über die Waschschüssel gesenkt, antwortete nicht.

»Wenn er um Viertel acht aufsteht, kommt er zeitig genug zur Schule. Hast du ihn gefragt, was er so früh schon treibt, Margrit?«

Sie schwieg. Dann, das von Wasser überströmte Gesicht ihm zukehrend: »Er sagt, er kann morgens am besten arbeiten.«

Das Gehen der Schritte oben wurde lauter. Kai hatte wohl seine Schuhe angezogen.

»Er arbeitet! Das ist etwas anderes. Ich glaube mich zu entsinnen, als junger Mensch lernt ich auch morgens am besten.«

Sie wandte ein: »Wenn er aber abends auch so lange arbeitet. Gestern mit Arne ...«

Er hörte nicht darauf. »Das ist recht. Das freut mich, daß er selbständig zu dem Entschluss gekommen ist. Selbständigkeit ist Hauptsache. Und überrascht mich eigentlich bei ihm. Er ist sonst so unfertig, kindlich. Immerhin – wir wollen ihn deswegen nicht mehr behelligen. Ernst werden! Die Wichtigkeit der Pflichterfüllung erkennen! Das ist ein großer Schritt vorwärts!«

Frau Goedeschal setzte das Wasserglas beiseite. »Kindlich, sagst du? Kai – kindlich?«

»Was denn anders, Margrit? Wie unfertig ist er mit seinen sechzehn Jahren! Wenn ich mich auch nicht mehr genau zu erinnern vermag, wie ich in dem Alter war, so vergleiche ich ihn doch mit seinen Freunden. Nimm zum Beispiel Arne, der schon etwas ausgesprochen Männliches hat. Und Kai – noch vor beinahe einem halben Jahr diese Puppengeschichte! Wenn das nicht kindlich ist!«

Sie blieb dabei. »Grade diese Puppengeschichte –« Aber er fiel ihr ins Wort: »Was heißt das: grade diese Puppengeschichte? Überlege doch, Margrit: seine Schwestern merken, daß in der Plättstube die Kästen mit ihren alten Spielsachen durchstöbert sind. Die Puppen, Kleider et cetera fehlen. Sie passen auf, suchen und entdecken –: daß Kai seine Kommodenschieblade als Puppenbett eingerichtet hat! Der große Junge spielt mit Puppen!! Ich begreife nicht, wie du da sagen kannst: grade diese Puppengeschichte!«

Sie murmelte: »Sie lief böse genug ab!«

Staatsrat Goedeschal wurde ärgerlich. »Warum lief sie böse ab? Weil ich auch da noch den Jungen überschätzte! Ich dachte, es ist eine verdrehte Jungensdummheit; ich zeige ihm kühl und klar, wie unsinnig für einen Obersekundaner, der Homer liest, derartiges ist, eine Kinderei, über die man nur lachen kann. Sollte ich es etwa ernst und tragisch nehmen? Dann hätte ich ihm vor allen Vorhaltungen über die einbrecherische Entwendung der Spielsachen seiner Schwestern machen müssen. Also, ich denke, nun wird sich der Junge, vernünftig geworden, über die Hänseleien seiner Schwestern hinwegsetzen. Statt dessen wirft er in sinnloser Wut nach Lotte mit dem Messer! Bei Tisch! In meiner Gegenwart! Wie ein kleines Kind, das überhaupt noch kein Verantwortungsgefühl hat. Daß ich da nun streng eingreifen mußte, ihm das Verbrecherische seines Tuns klarmachte man greift nicht zur Selbsthilfe, in Notlage wendet man sich an die zuständige Autorität, also mich! – und ihn schließlich mit Zimmerarrest bestrafte, war gegeben. Ich denke aber, er hat sein Unrecht eingesehen: er ist seitdem viel ruhiger geworden.«

Frau Goedeschal kämmte am Toilettentisch das Haar. Den Arm mit der Bürste sinkenlassend, war sie mehrmals im Begriff gewesen, ihren Mann zu unterbrechen, besann sich dann und schwieg.

Eine Weile war es still, dann fuhr er fort: »Also kindlich, oder, daß ich besser sage, kindisch ...«

Aber nun sprach sie rasch: »Ja, Heinz, was soll ich sagen? Ich weiß doch nicht! Sieh diese Puppengeschichte. Ob wir da so richtig vorgegangen sind? Vielleicht hätten wir grade das Kindliche stützen sollen. Du sagst: ›Warum hat er sich nicht an mich um Hilfe gewendet?‹ Aber grad, weil du's so obenhin verlachtest ..., ich weiß nicht, ich bin selber so gar nicht klar ...« Sie atmete rascher. Schließlich: »Es ist furchtbar schwer mit Kindern! Es ist so lange her, daß wir jung waren. Und ich war auch anders.«

Sie schwieg wieder. Auch Staatsrat Goedeschal sagte nichts, er sah sie an, aber sie vermied seinen Blick. Er fühlte, daß sie Wichtigeres noch verschwieg, und um ihr zu Hilfe zu kommen, sagte er endlich: »Du hast etwas auf dem Herzen, sprich!«

Frau Goedeschal machte eine ungeduldige Bewegung. »Da liegst du und sagst: ›Sprich‹, als wenn es wer weiß wie leicht wäre.« Schon verwusch Weinen die Worte. »Und sitzt dabei auf deinem Richterstuhl und willst im Grunde nur das hören, was deiner Meinung recht gibt, und ändern ... Grad, als wär ich angeklagt ...«

 

Er richtete sich im Bett auf. »Aber Margrit, ich verstehe dich nicht! Ich will doch nur sein Bestes. Du sagst: es ist schwer mit Kindern. Gewiß ist es das. Aber du machst es mir zum Vorwurf, wenn ich ruhig überlege. Wir müssen doch Vertrauen haben!«

Schon hatte sie sich besonnen. »Sei nicht bös. Aber natürlich habe ich Vertrauen, es ist nur schrecklich schwer, ich ängstige mich so um den Jungen. Man hat ja den besten Willen ... Du meinst: ruhiger ist er geworden. Ja, ruhiger, er redet kaum noch ein Wort, was wissen wir denn noch von ihm? Die Wochenzensuren! In Griechisch ist er auch wieder schlechter. Aber, die Hauptsache ist, er redet nichts. Kein Wort. Es war schon immer nicht leicht mit ihm, das rechte Vertrauen war nie da. aber seit diesen Puppen ... Vor dir nimmt er sich noch zusammen, aber bei mir ...«

»Mault er? Tückscht er?«

»Das wäre viel besser, das ginge vorbei, aber es ist einfach, als wären wir Fremde für ihn. Ich mag ihn noch so sehr fragen: ›Kai, was hast du? Ich sehe doch, daß du etwas hast, sprich dich aus.‹ Aber dann sagt er nur: ›Was soll ich haben? Gar nichts!‹ und geht raus. Und scheint sogar manchmal, als höhnte er: ›Mir geht's ausgezeichnet. So ausgezeichnet, davon hast du keine Ahnung!‹ Und sieht dabei aus, als wollte er weinen. Und wenn man seine Hand nimmt und ihn streicheln will, reißt er sich los, als haßte er mich. Es ist, als liebte er uns überhaupt nicht mehr ...«

Staatsrat Goedeschal hatte immer erregter zugehört. »Gut, daß du sprichst! Das kann so nicht weitergehen, darf nicht. Wir müssen etwas tun ...«

Aber sie unterbrach ihn. »Und morgens arbeitet er auch nicht! Das weiß ich genau.«

»Ja, aber was dann?«

»Er ist im Keller.«

»Im Keller?« fragte er verständnislos. »Was tut er denn da?«

»Ich weiß nicht, ich habe ihn gefragt. Er sagt, er müsse den Kessel nachsehen.«

»Und du hältst das für ausgeschlossen?«

»Ich bitte dich, jeden Morgen eine Stunde! Gerad er, der so gern lang schlief.«

»Aber was dann?«

»Ich sage dir doch – ich weiß nichts. Und der Schlüssel zum leeren Kellerzimmer ist auch verschwunden!«

»Und du meinst ...?«

»Ich weiß doch nicht! – Ich bitte dich um eins, Heinz, sei nicht erregt, erschrecke ihn nicht.«

Schritte, die man schon auf der Treppe gehört, tasteten leise an der Zimmertür vorüber. Staatsrat Goedeschal rief laut: »Kai!« Die Schritte wurden still, aber niemand kam. Er rief wieder: »Kai!« Nichts rührte sich. Er machte eine Bewegung zu seiner Frau. »Bitte, sieh nach!«

Auf dem Gang stand Kai, die Schultern hochgezogen, das Gesicht halb zurückgewendet. »Bitte, Junge, komm rein. Sag uns guten Morgen!«

Er trat ein. »Guten Morgen, Papa! Guten Morgen, Mama!« Und er gab jedem von beiden einen Kuss, dem Vater auf die Stirn, der Mutter auf die Wange.

»Guten Morgen, mein Junge. Nun, wo pilgerst du schon so früh hin? Wir hörten dich wie einen ruhelosen Geist über uns wandern.«

»Störte ich euch? Verzeiht.«

»Nein, nein, du siehst, deine Mutter ist beinahe schon in Gala.« Staatsrat Goedeschal sah seinen Sohn heiter lächelnd an. Der aber schien die Frage vorhin überhört zu haben, und so mußte sie denn der Vater, schon gezwungener, wiederholen: »Und wo wolltest du jetzt hin, Kai? So leise?«

»In den Keller. Zur Heizung.«

»Aber ...« Er besann sich. »Dazu ist doch der Heizer da!«

»Er kann morgens so früh noch nicht.«

»Und darum stehst du auf?«

Schweigen. Der Vater wartete und sagte dann: »Ich werde mit dem Mann reden. Er geht um sieben Uhr zur Arbeit, da kann er ruhig vorher noch einmal vorbeikommen. Wofür bekommt er sein schönes Geld!«

»Ich bitte dich, Papa ...« Aber Kai schwieg schon wieder.

»Nun, was denn?«

»Ach nichts.«

»Aber ...«

»Ja, wenn du es ihm sagst, machst du ihn nur wütend. Er kommt dann zweimal und bleibt doch wieder fort. Und schließlich platzt wie neulich ein Wasserstandsglas, und wir haben den Keller voll Wasser.«

»Sehr richtig, sehr vernünftig«, und Staatsrat Goedeschal sah befriedigt lächelnd zu seiner Frau hinüber. »Aber deinen Morgenschlaf sollst du deswegen doch nicht verlieren. Weißt du was? –: du lernst Erna an. Das Mädchen kann das ruhig machen.«

»Die findet nie mit den Hähnen Bescheid.«

Der Vater wurde ungeduldig. »Es scheint dir doch sehr viel daran zu liegen, sonderbar.«

»Mir? Gar nichts! Meinetwegen kann es Erna machen, ich reiß mich nicht drum, aber wenn was passiert, ich lehne jede Verantwortung ab.«

»Verantwortung! Ich möchte wissen, wer dir welche übertragen hat!«

»Wenn ich's ihr doch zeigen soll!«

»Junge ...!«

Aber Frau Goedeschal rief rasch und ängstlich: »Ich bitte dich, Heinz!«

»Ja so. Was ich noch sagen wollte – du weißt wohl auch nicht, wo der Schlüssel zum leeren Kellerzimmer hingekommen sein mag?«

»Nein. Ist der weg?«

»Ich sagte dir's schon, Kai«, warf die Mutter ein.

»Ach so, ja. Nein, das weiß ich nicht.«

»Nun, wir werden heute vormittag zum Schlosser schicken, der kann einen neuen machen.«

Der Vater sah seinen Sohn scharf an, aber der zuckte nicht.

»Und nun noch eins, ich wollte dir schon immer eine kleine Freude machen. Dein Griechisch ist zwar nicht sehr vorzüglich. Was meinst du, wenn du einmal ins Theater gingst?«

»Gern, sehr gern. Vielen Dank.«

»Schon gut. Sei nur recht fleißig.«

»Kommt ihr mit?«

»Aber natürlich. Also übermorgen Abend: ›Die Räuber‹.«

»Ich danke schön«, und Kai küßte seinen Vater. Dann rascher: »Es fallt mir eben ein ... Nur so eine Vermutung ...«

»Nun, was denn? Sprich immer.«

»Vielleicht hat der Heizer den Schlüssel, er sagte immer, es sei im Kohlenkeller zu naß fürs Holz. Ich werde mal mit ihm reden.«

»Tue das, Kai. Also abgemacht. Du lernst heute und morgen Erna an, und wegen des Schlüssels redest du mit dem Manne.«

»Und der Schlosser? Damit können wir dann wohl warten ...«

»Ja, natürlich. Solche Eile hat das ja nicht.«

Kai ging.

Staatsrat Goedeschal sah seine Frau an. »Siehst du, es ist gar nicht so schlimm. Man muß nur vernünftig mit ihm reden. Natürlich hat er irgend etwas unten im Keller. Wenn er zur Schule ist, schicken wir zum Schlosser, na, es wird schon nichts Schlimmes sein, irgend so eine Jungensdummheit. – Hattest du den Eindruck, daß er sich aufs Theater sehr freute?«

»Eigentlich nein. Er fragte so komisch, ob wir mitkämen.«

»Aber ...!«

»Du, was mir eben noch einfiel: ich sprach neulich auch mit Frau Schütt über Kai, sie mag den Jungen gern. Und sie hat so viel Erfahrungen mit ihren sieben. Sie meinte, es wäre Zeit, ihn aufzuklären.«

»Aufklären? Nein. Ich habe ganz ausführlich mit seinem Klassenlehrer davon gesprochen. Die Jungen bekommen in der Oberprima die nötigen Mitteilungen durch einen erfahrenen Medizinalrat. Er bat mich dringend, dem nicht vorzugreifen. Und ich bin auch sonst dagegen. Warum sind die jugendlich Bestraften immer aus den unteren Volksschichten? Weil die Kinder dort sexuell aufgeklärt sind! Zu frühes sexuelles Wissen ist Verlockung, verleitet zur Haltlosigkeit, zur Genussgier. Und der Weg von da zum Verbrechen ist kurz. Nein, keinesfalls. Was heißt überhaupt Aufklärung! Was soll man dem Jungen sagen! Ich bin da ganz unsicher. Gerade für Eltern ist ihren Kindern gegenüber dies Gebiet mit einem gewissen Odium verknüpft, es muß tabu bleiben. Ich wenigstens könnte es nicht.«

»Ich auch nicht«, sagte Frau Goedeschal.

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