Der junge Goedeschal

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4



Auf seinem Zimmer angelangt, sagte Arne: »Setz dich, ich zieh mich schnell um. Dort stehen Zigaretten.« Und während er die Jacke abwarf, fragte er: »Wie gefiel dir Fräulein Lorenz?«



»Gott, gefallen, Arne! Ich habe ihren Rücken gesehen!«



»Du mußt natürlich vor allem versuchen, mit ihr in Berührung zu kommen. Heute ist der letzte Ball, das geht also nur einmal. Weißt du nichts anderes?«



»Ach, Arne, viel Lust habe ich überhaupt nicht.«



»Hast du Angst?« fragte Arne und sah ihn gemacht spöttisch an.



»Angst, ach was! Aber was soll ich da? Was soll ich mit den Mädchen reden? Laß mich aus!«



»Nein, mein Junge, du kommst mit. Immer klagst du über Langeweile, aber du tust nur nichts dagegen.«



»Du sagst ja selbst, es wird nichts. Oder glaubst du, sie fliegt mir beim erstenmal um den Hals?« Leiser danach: »So bin ich doch nicht.«



»Laß nur, ich finde schon etwas. Du mußt natürlich mit Klotzsch und Lehmann, ihren Verehrern, fertig werden, aber das wird schon.«



»Wenn ich nun aber doch nicht mag!«



»Ich bitte dich, Kai!«



»Was hast du davon?«



»Ich kann das nicht ansehn, du verdummst ja in deinem Alleinsein. Du weißt ja von nichts. Von nichts hast du eine Ahnung.«



Arne sagte das in einem besonderen Ton, eine leichte Röte stieg in seine Wangen, und er sah rasch von Kai fort.



»Was meinst du?« fragte der hastig, »von was habe ich keine Ahnung?«



Arne schwieg. »Nein, nun sprich«, wiederholte Kai.



»Ach, ich meinte nichts Besonderes. Du weißt eben nichts von der Welt, von den Menschen.« Dann langsamer: »Nichts von den jungen Mädchen.«



Kai zuckte mit den Achseln. »Ich weiß schon genug. Das alles ist doch ein Blödsinn, dieses Verlieben. Heiraten könnt ihr ja doch nicht.«



»Und warum nicht, bitte, lieber Kai?«



»Willst du dein Fräulein Reiser heiraten? Oder meinst du, ich mein Fräulein Lorenz? Da glaubst du selbst nicht daran.«



»Reden wir von etwas anderem«, sagte Arne, »du verstehst mich nicht oder willst mich nicht verstehen. Es geht doch wahrhaftig nicht ums Heiraten.«



»Sondern?«



»Ach was, jetzt laß die Sache in Frieden. Du kommst eben mit.«



»Meinethalben«, sagte Kai und dann, spöttisch: »Zum Heiraten.«



Sie schwiegen. Kai sah gedankenvoll über ein Dach fort in den dunkleren Himmel. Was er mit Arne geredet, hatte ihn kaum gestreift, tiefer drinnen saß jenes halb erschaute, helle Mädchenprofil, ihm dadurch nähergebracht, daß er noch heute Abend hingeneigt zu ihm sprechen würde. Heute Abend, noch heut Abend. Heute Abend etwas anderes, nicht diese selben Tische, Stühle, Teppiche, Schränke, Bücher, nicht die Gesichter der Eltern, sondern die erhellte Weite eines Tanzsaales. Er lächelte, aber sein Lächeln zerging, als er daran dachte, daß er würde sprechen müssen. Was sagen? Was tun? Er sah sich im Kreis der andern stehen: nun soll er reden, aber er schweigt, er findet die Worte nicht, eine glühende Hitze steigt von den Füßen in ihm auf, flockiger Nebel durchzieht sein Gehirn, der die Worte sinnlos getrennt in der Luft hängen läßt, und dann ist nur ein Bild da, ein Bild: ihr stumpfes Profil, blaß, weiß, mit den schmalen, kaum geröteten Lippen. Kai räuspert sich, er setzt an, er will sagen: »Arne, ich gehe nicht«, aber er schweigt. Denn so erschreckend dieses Gesicht dort in der Luft hängt, so süß ist doch auch sein Anblick. Nun, wenn er auch schweigt, er wird nahe sein, so nahe. Und dann ist das andere da, das Zuhaus, das trübe Zimmer, der endlose Abend, mit tausend gleichen vorher, tausend gleichen danach, grau, abgegriffen, trostlos. Nein, nur das nicht, besser alles andere als dies. »Ich bin ja gar nicht anders wie die anderen. Ich bin nur schüchtern. Nur diesmal, weil es das erste Mal ist.«



Es klopfte. Werner Klotzsch trat herein. »Was, noch nicht fertig? Höchste Eisenbahn!«



»N'Abend, Klotzsch, immer langsam voran, wir kommen noch Zeit satt.«



Klotzsch trat zum Schreibtisch, stöberte in den Büchern. »Noch nicht Homer präpariert?«



»Brauchen wir gar nicht«, sagte Arne, »morgen schreiben wir vier Stunden Mathematik. Vorher Sallust. Also?«



»Hab ich gar nicht dran gedacht.«



»Ein schlimmer Tag für euch beide«, meinte Arne.



»Ich bin fein raus«, lächelte Klotzsch überlegen, »Lehmann gibt mir die Lösungen.«



»Lehmann? Ausgerechnet Lehmann«, fragte Arne, »dein Nebenbuhler? Wie das?«



»Ich hab ihm einen Tanz mit Fräulein Lorenz dafür abgetreten.«



Kai und Arne lachten, endlos und ein wenig übertrieben. »Du bist gut«, rief Arne.



»Das grenzt an Mädchenhandel«, sagte Kai und zog seinen Mund überlegen breit.



»Findet ihr es schlimm?« Klotzsch wurde ängstlich.



»Nein, nein, nur genial.«



»Ob ich es rückgängig mache?«



»Um Gottes willen! Laß es so, was soll wohl aus deiner Mathematikarbeit werden? Ich habe schon Kai auf dem Hals.«



Kai fuhr hoch, sah Arne an. »Ich verlasse mich auf dich.«



»Darfst du, darfst du, um ein halb zwölf stecke ich dir die Resultate zu.«



Entschuldigend sagte Kai: »Es ist zu dumm, daß ich in Mathematik so minderbegabt bin, aber ich kann mir die größte Mühe geben, ich kapiere nichts. Und noch eine Fünf geht wegen der Versetzung nicht.«



»Ich helfe dir ja schon«, wiederholte Arne. Eine Weile schwiegen sie, dann fragte Arne wieder: »Sag einmal, Klotzsch, wer steht eigentlich mit Fräulein Lorenz besser, du oder Lehmann?«



»Nun ich, selbstverständlich.«



»Ich finde das gar nicht so selbstverständlich.«



»Nun, ich bin doch oft mit ihr im Wandervogel zusammen. Wir nennen uns doch auch du und so.«



Arne warf auf Kai einen Blick, aber der schwieg, und so sagte denn Arne mit viel Bedeutung: »Bist du nun eigentlich auch schon im Wandervogel, Kai?«



Kai fuhr auf. »Ich? Wieso? Ach so, ja natürlich. Hast du mich nun endlich angemeldet, Klotzsch?«



»Ich dich? Aber nein!«



»Wie oft soll ich dich denn noch bitten?«



»Du in den Wandervogel? Nie hast du auch nur ein Wort davon gesagt! Nur geschimpft hast du drauf.«



Arne griff ein. »Ich selber bin dabei gewesen, wie dich Kai auf dem Hof darum bat.«



Klotzsch sah zweifelnd von einem zum anderen. »Sollte ich das überhört haben?«



»Aber natürlich.«



Kai fragte: »Willst du es nun erledigen oder nicht?«



»Ja, aber gewiß doch. Nur verstehe ich nicht ...«



»Gott, ich will einmal sehen, was ihr treibt. Aber bald, ja?«



»Selbstverständlich. Gleich morgen.«



Dann zum Essen. Arne und Kai das Gesicht leicht gerötet vom Widerschein eines Triumphes, den sie verschwiegen und schlau über ihren Gefährten errungen hatten und der ihnen der Vorläufer weiterer Intrigen zu sein schien.





5



Gleich am Eingang des Saals verlor Kai seine Freunde. Zu spät gekommen, hatten sie ihn sofort verlassen, um ihre Damen zu suchen. An eine Säule gelehnt sah Kai ihnen nach, verlor sie aus den Augen, und nun war nichts mehr da als die flatternden weißen und bunten Mullkleider der Mädchen. Eben begann der Klavierspieler einen Walzer, und wie sie dort am Arme ihrer Tänzer dahinflogen, schienen sie Kai fremde, rätselhafte Blumen, denen er nie nahkommen würde. Vergebens suchte er ihre Gesichter zu erraten, diese Gesichter aus Weiß, Rosa und Rot mit den immer anderen Strichen der Augenbrauen, er kam ihnen nicht näher. Sie schienen einer fremden Gattung anzugehören, die Nase schloss wie ein aufgesetztes Gewicht nicht zu entdeckende Heimlichkeiten in die Rundung des Kopfes ein. Kai fragte sich, ob auch diese wirklich »Menschen« seien, und irgendwie unruhig und bedrückt entschied er, daß sie in nichts den Bekannten und Freunden gleichgestellt werden könnten, sondern unverwandt wie Tiere oder Bäume seinen Blicken die undurchdringliche Starrheit ihres Andersseins entgegenhielten.



Er seufzte, abwehrend tasteten seine Hände zur Höhe des Gesichtes empor, fielen herab, aber diese Bewegung schon brachte ihm Erleichterung, und nun suchte er Näheres unter den Tanzenden und fand Klotzsch. War das Ilse? Nein, sie war es nicht, irgend jemand anderes, etwas Stummes, das nicht zu ihm sprach mit einem matten Profil und einem seltsam unbewußten Schwingen der Hüften. Werner lächelte, lachte, redete, er gehörte dieser Stunde ganz, das Morgen dämmerte noch nicht auf, und das Soeben war abgetan. Kai drängte es, als müßte er sich von seiner Säule fortheben und zu Klotzsch tretend ihm alles sagen, alles, alle Demütigungen, die gewesen waren, die kommen würden.



»Wie sie schwatzen und lachen! Sie wissen nicht mehr, daß ein Morgen da ist und vor dem Morgen eine Nacht, wach im Bett, zu heiß, zu heiß, trübe, gepeinigt, voll Scham. Was haben sie zu reden? Was ist da, worüber man lachend reden kann? Haben sie vergessen, daß es draußen friert, dunkel, grauenhaft, einsam ist?«



Ja, es gab Straßen, angefüllt mit Menschen, aber ihre Bewegungen waren fremder als die Äste der Bäume, und wenn sie lachten, klang es, daß man die Ohren verschließen, die Augen zupressen mußte, um nicht zu weinen. Das war es. Man mußte sie hassen, um

ihrer Gedankenlosigkeit willen sie hassen,

 die so laut und fröhlich sein konnten. »Tiere! Tiere!«



»Dort, Arne! Sieh da, seine Dame! Sicher ist das Fräulein Reiser, bestimmt. Oh, sie plaudern. Wie ruhig, wie verbindlich, wie erhaben lächelnd! Arne, du, wie kannst du so lächeln! Du dort oben und ich. Ach, auch er ist mir weggenommen, ich stehe hier allein an meiner Säule. Ich will ihnen nachsehen, ihn immer ansehen, er soll mich nicht vergessen, soll zu mir herüberschauen. Ich will es. Ich will es. Vorbei. Gleich kommt er wieder.

Ich will es.

 Nein, auch dieses Mal nichts, ihr seid alle fort, alle fort. Soll ich gehen, soll ich kehrtmachen und gehen? Ich hasse euch! Hasse euch alle! Wie die Mütter schwatzen! Was stecken sie die Köpfe zusammen und machen sich über die Ungeschickten lustig! Ich hasse euch alle, alle! Ich möchte ausspucken vor euch.«

 



Kai drehte sich um und trat hinter die Säule. Ein großer Spiegel warf ihm mit der Geste eines überlegenen Taschenspielers sein Bild entgegen. Er blieb stehen. Ja, er war ordentlich angezogen, nur der Schlips saß schief. Und während er ihn zurechtzog, prüften seine Blicke das Gesicht. Es war nichts darin von dem, was er dachte. Es war blaß wie immer. Der Mund mit den Wulstlippen sah fremd aus. Die Augen hinter den Gläsern waren matt wie stets. Er konnte ruhig mit einem solchen Gesicht hingehen und die Ilse dem Klotzsch ausspannen. »Natürlich muß ich etwas Verbindliches sagen. Was sagt man in solchen Lagen nur? Etwas Geistreiches, es wird sich schon finden, bestimmt. Es wird sich nicht finden. Ach, alles ist gleich. Wozu sich Mühe geben? Mag sie mit ihrem Klotzsch glücklich werden und ihn küssen.«



In plötzlicher Wut schrie er sich ins Gesicht: »Knutscht euch ab, ihr Schweine!«



Und mit einem raschen Blick in den Spiegel fragte er sich, ob diese Lippen würden küssen können. Er versuchte es. Er dachte an jene Küsse, die er seinen Eltern vor dem Schlafengehen gab, und formte nach ihnen seinen Mund. Es war lächerlich. Das götzenartig unbewegt gebliebene Gesicht verhöhnte sein Bemühen. Unter einer tiefen Entmutigung seinem Bilde nähertretend, formte er kaum getrennt von jenen Lippen, die den Widerschein der seinen bedeuten sollten, leise und gehauchte Worte, deren heißerer Atem seine Seele zu verbrühen schien: »Mund, du dort. Gesicht, du da. Ihr seid nicht mein, ihr gehört mir nicht, ich verleugne euch. So wie euere Unbeweglichkeit und rätselhafte Verfärbung meine Gedanken zu Lügen machen möchten, so leugne ich auch euch ab. Ihr seid unwahr. Ich darf nicht sagen, was ich fühle.«



Der Mund schloss sich. Nachströmender Atem trennte noch einmal die Lippen, deren trockene und glatte Haut aneinanderhaften zu wollen schien. Kai wandte sich ab. Plötzlich bemerkte er, daß die rhythmisch gehämmerten Walzertöne die ganze Zeit hindurch in seinem Ohr geklungen hatten, aufhorchend fühlte er sie nun wie entspannende Kraftlosigkeit den Rücken hinabrieseln und prickelnd sich in die Hüften verzweigen. Sein im Saale suchender Blick leuchtete auf.



»Mein Gott, nein, dort sitzt die Ilse Lorenz. Wie blaß sie ist! Ob sie nie rötere Backen hat? Wie fremd! Ob man sie lieben könnte? Wie ist das, ihr nah zu sein?



Der Tanz ist zu Ende gegangen. Die Herren führen die Damen zu ihren Stühlen. Es wird plötzlich ganz laut. Die Fächer flattern. Wie lauter Tauben. Ich glaube, ich muß jetzt zu Arne gehen. Nein, ich kann nicht. Ich will hier allein an meiner Säule bleiben. Hier verlassen, genieße ich das Fest. Jahre später werde ich in diesen Sekunden glücklich gewesen sein. – Wo steht denn Arne überhaupt? Ah dort, er spricht mit Fräulein Reiser. Nun winkt er mir. Nein, ich habe das Winken nicht gesehen. Wie glatt das Parkett ist! Sicher falle ich. Wenn ich doch zu Haus wäre, in meinem dunklen Zimmer. Es ist Wahnsinn, hier zu sein. Was lachen die beiden alten Weiber? Sie lachen über mich. Natürlich! Oh, ich wollte ... Was soll ich nur sagen, was soll ich in aller Welt den beiden Mädels nur sagen, ich habe nicht ein Wort zu reden.«



»Mein Freund Kai Goedeschal – Fräulein Irene Reiser, Fräulein Ilse Lorenz. Nun, hat dir unsere Tanzerei gefallen?«



»O ja, sehr.«



Fräulein Reiser wandte ihre stillen Augen Kai zu und fragte: »Wird es Ihnen nicht schwer, Herr Goedeschal, so ganz zuzuschauen, während wir andern tanzen?«



»Nun ja, eigentlich nicht so sehr.«



»Du schwindelst ja, Kai.«



Und Klotzsch, der neben Ilse stand, rief: »Natürlich schwindelt er, brennend gern möchte er mittanzen.«



Kai stieß hervor, erzürnt und geschwächt, sich so in die Enge getrieben zu sehen: »Nun, du bist wohl nicht der Richtige, das zu beurteilen.«



Schweigen. Vor Kais Augen stieg die Vision des trockenen, mit Kies bestreuten Schulhofs auf. Wenn sie dort in den Pausen zu Gruppen vereinigt herumstanden, bildete diese Art Gespräche, mit ihren gereizten, sterilen Antworten, ihrem nur Abweisen-Wollen das Gemeingültige. Aber hier! Schon steckten die Mädchen die Köpfe zusammen und machten sich über ihn lustig. Vor Scham und Schmerz preßte er die Fingernägel tief in die Handflächen.



Fräulein Reiser sagte: »Meine Freundin Ilse sagt mir eben, daß Sie Ihnen jeden Morgen begegnet, Herr Goedeschal, wenn Sie ins Gymnasium gehen.«



»Ja, Herr Goedeschal ist so pünktlich. Wenn ich ihn noch in der Bülowstraße treffe, weiß ich, daß noch viel Zeit ist. Aber beim Treffen in der Oberstraße muß ich sehr eilen.« Ihr Blick ruhte auf ihm, der Klang ihrer Stimme schien sich in seiner Ohrmuschel verfangen zu haben und dort nachzutönen, tief und voll, wie er aus ihrer Brust kam. Zusammenschreckend bemerkte Kai die Blicke, die auf ihm ruhten, und erinnerte sich, daß er würde antworten müssen.



»Ist das nicht ein Irrtum, gnädiges Fräulein? Sie sind mir nie aufgefallen.«



Sie lachten. Arne fragte fröhlich: »Sehr höflich bist du nicht, Kai.«



Klotzsch rief: »Bedanke dich für das Kompliment, Ilse!«



»Sie müssen entschuldigen, gnädiges Fräulein, ich bin so sehr kurzsichtig. Und dann – dann – ich sehe nicht gern die Leute auf der Straße an und mag nicht, daß sie mich wieder ansehen.«



Die andern lachten schon wieder. Kai warf einen raschen Blick auf das Klavier, aber der Spieler unterhielt sich noch mit dem Tanzlehrer. Fing es denn nie wieder an?



»Sie dürfen mich nicht falsch verstehen. Gegen den einzelnen habe ich gar nichts. Aber dies gegenseitige Sichbeobachten, Prüfen, Messen ist schrecklich. Dies Gefrage mit den Augen: Wer bist du?«



»Ich mag das gerade gern«, rief Klotzsch, und auch Arne lächelte vor sich hin, wenn er jener ersten Versuche gedachte, mit den Mädchen Blickgefechte zu führen. Es war süß, das Auge so lange im andern ruhen, versinken, tauchen zu lassen, bis dies abirrte und leise aufgehende Röte Hals und Gesicht des Mädchens überspülte.



Aber Ilse Lorenz rief: »Das versteh ich gut, es ist so zudringlich!«



»Ja«, sagte Kai, »es ist zudringlich. Kennen Sie ›Jettchen Gebert‹? Schade. Das Buch müssen Sie lesen. Wenn Sie mögen, leih ich es Ihnen einmal.«



»Gerne.«



»Ja, da wird gleich im Anfang erzählt, wie Jettchen schön und stolz die Straße heruntergeht, und alle sehen ihr nach. Ach ja, so etwas Schönes und Stolzes, das darf man ansehen, das bleibt deswegen doch schön und stolz und fern, aber wir ...« Er wagte nicht, weiterzureden.



»Ja, Kai, du meinst, wir gewöhnliche Sterbliche, da lohnt es sich nicht«, fragte Arne.



»Nein«, sagte Fräulein Reiser, »ich fühle wohl, was Herr Goedeschal meint, daß ...«



Da setzte der Klavierspieler wieder ein. Die Herren verbeugten sich und im Umdrehen waren die Damen fortgewirbelt, einen Augenblick sah Kai noch das blaßblaue Kleid von Irene, der dunkle Scheitel Ilses tauchte zwischen den Tänzern auf und verging, dann stand er wieder allein.





6



Er war allein, und nun, da er von den leergewordenen Stühlen zum Saalende zurücktrat, bedauerte er schon, daß dieses so leicht verlaufene Gespräch nicht länger gewährt hatte. Indem er die Augen schloss, erinnerte er sich an ein leises Lächeln von Ilse, ein Lächeln, das wie ein Stern über der leichten Melancholie ihres Gesichtes aufgegangen war. Es schien ihm, als müsse er dies ihm gewährte Lächeln um den Mund gleich einem Vermächtnis tragen.



»Nun ist alles gut«, sagte er zu sich und ließ seine Augen ruhiger durch den Saal gehen, dessen Gewirr ihn nicht mehr erschreckte. »Ist nicht jetzt mit dem ersten Schritt auch der schwerste getan? Beim Wiedersehen werde ich an die schon gesprochenen Worte anknüpfen können, ein Weg liegt vor mir, und ich, ich werde ihn gehen.«



Aber so sehr er sich mühte, nur Freude zu empfinden, meinte er doch, auf seiner Zunge einen bitteren Geschmack zu spüren, irgendwo saß ein Widerhaken und peinigte ihn. »Warum freue ich mich nicht?« fragte er. »Waren die Mädchen nicht gut zu mir?«



Er schwieg. Das Lächeln verging ganz, und plötzlich war alles wieder da, alles von vorhin: Scham, Demütigung, Neid und Selbstverachtung. Nun fiel es ihm ein: das Köpfezusammenstecken, rasche Blicke der beiden Mädchen, ihre Worte, die ihm Brücken bauen sollten. »Ach, was ist gesagt und was ist nicht gesagt, das für mich nicht Scham und Ekel sein muß? Ich fühle es wohl, so fremd ich hier bin, daß sie mir geholfen haben – aus Mitleid. Arne hat mit ihnen geredet, ich bin vorgeführt als ein Wundertier, wie im Hörsaal ein Kranker durch seinen Arzt.«



Die Scham über ihr Mitleid machte ihn zum äußersten unruhig. Es war ihm, als müsse er umherlaufen, irgend etwas tun, etwas Lautes, Aufsehenmachendes, um zu zeigen, daß er auch ohne dies Mitleid da war, daß er sich nicht schämte. Dann blieb er stehen, er sagte: »Glaubt ihr denn, ich durchschaue euch nicht? Gott sei Dank, ich bin immer noch klüger als ihr. Ich nehme eure Hilfe, weil es mir so gefällt, aus Missachtung, Gleichgültigkeit. Verreckt doch, was geht das mich an.« Er fühlte, daß jedes Wort Lüge war, fühlte klar, daß er in einem Ton sprach, der nicht einmal ihn überzeugte. Schwankte nicht noch in seinem Innern die weiche Weinerlichkeit, die wie ertrinkend nach der hilfreichen Hand gefaßt hatte? Bebten nicht noch seine Knie?



»Feige war ich, feige wie immer. Deswegen sehe ich keinen Menschen an, deswegen sage ich kein zorniges Wort. Ich habe nicht einmal den Mut zu meinen Gefühlen. Ewig aus Haltlosem gehemmt, möchte ich vorwärts und lege mir selbst die Schlingen, die mich zu Fall bringen.«



Seine Gedanken erschreckten ihn. Er schüttelte den Kopf einmal, zweimal, viele Male, er zwang seine Augen aus der Ferne in das nahe flatternde Weiß der Mädchenkleider. Sein Ohr hörte statt auf die leisen Stimmen der Anklagen und Verzweiflung auf das Gelächter der Tänzer. Er fand Arne und Irene; ihrem Tanz nachblickend, erriet er

einen

 Willen in den beiden, der ihn leiten hieß und sie folgen, ein Wille war da, der ihm so wie ihr gehörte. Aber vor dieses Bild schob sich das blasse Gesicht von Fräulein Lorenz. Es war unbewegt und nicht mehr gerötet als mit einem leichten, kaum wahrnehmbaren Hauch. Ihre geöffneten, schmalen Lippen ließen die breiten Rechtecke der Zähne sehen, die fast zu schwer für dieses Gesicht waren. Die langen Wimpern der Lider waren gesenkt. Wie sie dort, die eigenwilligen Linien der Augenbrauen in die Höhe gezogen, gleichsam einsam tanzte, dem Manne an ihrer Seite die Führung als etwas Belangloses, aber doch mit allem Vorbehalt überließ, schien sie Kai jenen Madonnen zu ähneln, die, karg in Holz geschnitten, mit wenigen Linien eine Einsamkeit betonen, die sie von der ganzen Welt trennt. Und doch lag etwas in ihr, was diesem widersprach und seine Geltung auslöschte, und Kai las dieses andere in dem weichen Kreisen der Hüften, die, den umgebogenen Rändern einer Schale gleich, Sehnsucht nach dem Gefülltsein mit Früchten atmeten. Und während er gedankenlos und träumend ihrem stillen Schweben zusah, ahnte er tiefer in ihr als ihr Ziel die Auslöschung dieses Widerspruchs, das Überströmen der Weichheit über das herbe Abgeschlossensein ihrer Schultern und des Gesichtes.



Aber all dies war trübe, es war so schwer, sich über diese Dinge klarzuwerden, und beinahe unmöglich, Schlüsse aus dem Gewonnenen zu ziehen. Dunkel ahnte er, daß alles anders war, wie er gelesen, oder doch nur bedingt so: Liebe war innerlicher und beinahe qualvoll. Süß sicher nicht. Es war besser, sie von sich wegzustellen.



Seine Gedanken irrten ab. Eben stand noch Arnes Bild vor ihm, der mit strahlenden Augen von der Schönheit der Liebe gesprochen, nun dachte er an ein Mittagessen neulich, bei dem seine Schwester von einem Besuch im Museum geredet. Von einer Statue hatte sie gesagt: »Ihr Mund ist so fabelhaft sinnlich!« Wieder fiel auf ihn, gerad wie in jener Minute, ein atemlos erwartetes Zittern; der Vater würde empört sich so unanständige Reden verbitten. Aber es war still geblieben, eben still, und nur an seinen Augen hatte Kai gemerkt, wie wenig dem Vater das Thema paßte.



Und dies war es nun wieder, was ihn von neuem erschütterte: ein sinnlicher Mund. Auch das mußte mit dem zusammenhängen, was Liebe genannt wurde. So war also dies kein plötzlicher Überfall, kein Geschenk eines lächelnden Amor, nein, es war an den Körper geknüpft, lag von Kind auf im Leibe? »Aber dann«, so schloss er, im Innersten verwirrt, »kann es auch kein Zufall sein, wenn ich Ilse lieben würde. Es wäre bestimmt, es wäre unentrinnbar, Kismet? Aber wie? Wenn Arne nicht heute geredet hätte? Wenn er jemand anders wie Ilse vorgeschlagen hätte? Wenn er ...?«

 



Er brach ab. Sein nach unten gerichteter Blick streifte scheu seine Hände. Sie waren schmal und die Finger sehr lang

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