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17
»Hörst du, Evchen?« fragt die Mutter, und sie lacht beinahe. »Vater läuft die Treppen runter wie ein Junger! Ja, wenn Vater was von Pferden hört ...!«
»Seine Pferde gehen ihm eben über alles.«
»Er soll ruhig wieder Pferde kaufen. Wenn auch das Droschkengeschäft schlecht geht. Und manche sagen auch: Es ist überhaupt alle mit der Pferdedroschke. Aber das war ja kein Leben für Vatern – er fing schon richtig mit Bummeln an. Na, damit ist es nun vorbei, wenn er wieder Pferde kriegt.«
»Ja, wenn Vater nur wieder was zum Kommandieren hat – Pferde, Kutscher, Kinder, es ist ihm ganz gleich, nur Kommandieren muß sein.«
Die Mutter findet es ganz natürlich. »So war Vater immer, Evchen. Noch in Pasewalk, wie er ganz jung war, wenn er da mal Urlaub hatte – nicht zu ertragen war der Mann! Immer raus aus der Kammer, rein in die Stube, raus aus der Stube, rein in die Kammer ... Mit dem Zollstock hat er nachgemessen, wie die Bettvorleger liegen mußten, und unserm Hänschen – wir hatten damals noch 'nen Kanarienvogel, aber das weißt du nicht mehr – hat er das Futter auf der Briefwaage abgewogen! Extra auf die Post ist er deswegen gegangen!«
»Daß du es ausgehalten hast, Mutter!«
»Aber wieso denn? Du bist ja komisch, Evchen. Vater ist doch gut – da mußt du erst mal andere Männer kennenlernen! Ihr meckert bloß immer, weil er ein bißchen scharf im Regiment ist. Aber darum müßt ihr nicht meckern, da habt ihr gar keine Ursache zu. Ihr tut ja doch, was ihr wollt! Wo hast du denn deinen Ring?«
»Ich geb ihn nicht her, Mutter!«
»Das sollst du auch gar nicht! Wo es so fein paßt, daß Vater zu Eggebrecht ist, und ich muß abliefern. Aber ich liefere nicht ab, der Weg ist mir zu weit, die ganze Frankfurter runter und über den Alex und die Königstraße und dann beim Schloß längs – nee, Kind, das ist nichts für meine Krampfadern. Geh du man, und dann erzählst du mir alles, wie es gewesen ist, und dann sagen wir Vatern, ich war da. Mußt dich nur beeilen, daß du schnell zurück bist.«
»Ja, Mutter. Ich kann ja doch auch in die Ankaufstelle in der Frankfurter gehen, es ist doch egal, wo man abliefert.«
»Nee, das mach bloß nicht! Reichsbank ist das Höchste, darauf sieht Vater, und wenn dann die Stempel nicht stimmen unter den Quittungen ...«
»Ich gehe also zur Reichsbank, Mutter.«
»Dann machste dich also gleich fertig und gehst los. Und nun paß mal auf, ich habe dir gesagt, deinen Ring nehmen wir nicht, und das sollst du auch nicht, denn ich verstehe, daß ein junges Mädchen an so was hängt ... Aber du mußt mir auch mehr erzählen, Evchen. Ich seh ja doch, was los ist, und paß bloß auf, daß er dich heiratet, eh was passiert ist. Mit so was versteht Vater keinen Spaß ...«
»Ach, Mutter ...«
»Ich weiß ja, so was erzählt eine Tochter lieber allen anderen Leuten, nur nicht der Mutter. Aber du wirst schon kommen, du wirst mir schon kommen. – Und meine Ohrringe gebe ich auch nicht, die wiegen nichts, da merkt Vater auch nichts davon ... Und dann paß auf, aber du mußt mir heilig versprechen, Vater nichts zu sagen, dann nehme ich mir hier von den Goldstücken, dreie von den großen und dreie von den kleinen ...«
»Ach, Mutter ...«
»Das ist kein Schmu, Evchen. Die will ich nicht für mich, die will ich aufheben. Jetzt reden sie immer abliefern! Aber man weiß doch nicht, wie die Zeiten noch werden. Wo wir jetzt schon Brotkarten haben, wer weiß, was das alles noch gibt. Abliefern müssen doch nur wir Kleinen – aber wie es die Großen halten, davon hört man nichts, man denkt es sich bloß. Dem Kaiser werden sie keine Brotkarte geben, und ob er all das Gold- und Silbergeschirr aus dem Schloß abliefert ... Nee, du hast recht, Kind, nu geh lieber los. Und wenn du zurückkommst, paßt du gut auf, daß du Vater nicht grade in die Arme läufst, nicht wahr?«
18
Viele Hufe klapperten über das Steinpflaster des Hofes, die Mutter fuhr neugierig mit dem Kopf aus dem Fenster, trotzdem sie es gar nicht durfte. Denn Eva war noch nicht zurück von der Reichsbank.
Aber der Vater dachte jetzt nicht an Gold und Reichsbank. Fröhlich winkte er der Mutter.
»Wir haben wieder Pferde, Mutter!« rief er. »Jetzt kommt Leben in den Betrieb.«
Die Mutter schaute. Sie hatte viele Pferde erlebt auf dem Hofe; auf allen Gängen in die Stadt mit Vater hatte sie auf Pferde achten müssen. Mutter kannte Pferde. »Sind sie nicht sehr klein?« rief sie aus dem Fenster.
»Klein ...?« rief Vater zurück und ärgerte sich gewaltig. »Klein ...?! Kleiner als du sind sie auch nicht! – Komm, Rabause! Hilf die Pferde in den Stall bringen. Jetzt gibt's Arbeit! Klein – die denkt, im Kriege spannen wir Elefanten vor die Droschken. – Klein ...«
Er schluckte, mit neuem Zorn rief er zum Fenster hinauf: »Ich komm nicht zum Abendessen. Eßt ihr alleine – ich habe zu tun.«
»Siebzehn Stück«, sagte Rabause. »Da können wir wieder zwanzig Droschken fahren lassen – und den Schimmel und den Braunen lassen wir ein bißchen stehen, lange hätten die es nicht mehr gemacht.«
»Richtig«, lobte Hackendahl. »So habe ich es mir auch gedacht – und so 'ne Frau sagt klein!«
»Ganz so groß wie unsere alten sind sie ja wohl nicht«, meinte Rabause vorsichtig.
»Ganz so groß ...«, sagte Hackendahl vorwurfsvoll. »Quatsch doch keinen Quatsch, Rabause! Richtige Ponys sind das! Russenpferde sind's, Panjepferdchen nennt man so was! Klein? Natürlich sind sie klein. Die müssen ja klein sein, sonst kriegen wir sie nämlich nicht, sonst nimmt sie nämlich die Militärverwaltung für sich.«
»Richtig«, sagte Rabause. »Ponys. Solche hab ich früher schon mal gesehen, Herr Chef, bei Renzen im Zirkus ...«
»Zirkus! Das hättste nun auch nich sagen müssen, Rabause! Zirkus, das klingt, wie wenn meine Frau ›klein‹ sagt. Wir haben hier keinen Zirkus!«
»Weiß ich, Herr Chef. Ich mein ja auch nur: als ob Zirkus!«
»Na schön, ich dachte, du wolltest auf demselben Horn wie meine Frau tuten. Nun habe ich gedacht, Rabause: Das Geschirr werden wir ändern lassen müssen. So paßt das den Katzen nicht. Ich bestell gleich nachher den Sattler. Und der Schmied muß auch her, die Beschläge an den Gabeln müssen versetzt werden ...«
»Das kostet einen Haufen Geld, Herr Chef, und wenn mal wieder Frieden ist, und wir haben wieder richtige Pferde ...«
»Es ist aber nicht Frieden, es ist Krieg, Rabause! Und ich richte mich jetzt auf den Krieg ein. Immer habe ich gelauert und gelauert, es muß doch Frieden werden, jetzt lauer ich nicht mehr. Bei mir ist jetzt Krieg, und ich will auch im Krieg was anderes zu tun haben, als bloß warten. – Nee, ich freu mich, daß es nun wieder Arbeit gibt. Und du freust dich doch auch, Rabause? Das war doch kein Leben nicht, mit fünf Schindern ...?«
»Ich freue mich auch. Versteht sich. Satt werden wir die Katzen ja kriegen, wenn's Hafer auch bloß auf Bezugschein gibt ...«
»Stimmt, Rabause! Und wenn der Hafer mal knapp ist, frißt so 'ne Katze auch bloß Heu, und in Rußland sollen sie sogar nur Stroh zu fressen kriegen, sagt Eggebrecht. Das mach ich aber nicht, denn wer arbeitet, der soll auch essen.«
»Billig werden sie sein im Futter, und wenn sie nu auch billig im Preis gewesen sind, weil se doch man klein sind, Herr Chef ...«
»Klein! Nun sagst du auch klein, genau wie meine Frau, Rabause. Ich versteh dich nicht! Wie können sie denn billig sein, wo's keine Pferde gibt?! Da können sie doch gar nicht billig sein! Denk doch mal selber nach, Rabause ...«
»Nee, billig können se wohl nich sein, Herr Chef, da haben Sie recht.«
»Teuer sind sie! So teuer, daß ich erst weggehen wollte von Eggebrecht. Aber dann habe ich mir's überlegt, Rabause. Arbeit muß ich haben, und wenn ich sie nicht kaufe, kauft sie ein anderer ...«
»Da haben Sie recht ...«
»Unter uns, Rabause, aber du darfst es meiner Frau nicht sagen. Ich habe dem Eggebrecht für die siebzehn Katzen mehr zahlen müssen, als ich für meine siebenundzwanzig guten Pferde bekommen habe!«
»Herr Hackendahl ...!«
»Reden wir nicht davon! Ich habe dir nischt gesagt! Aber wenn erst meine zwanzig Droschken wieder vom Hof rollen, dann denke ich nicht mehr an das Geld. Dann freue ich mich. Dann denke ich, was die Leute kucken werden: zwanzig Droschken! Und dann werden sie sagen: ›Ja, der Gustav, der is eisern. Der läßt sich nicht unterkriegen, genau nicht wie der Hindenburg. Der ist eisern!‹ – Und dann freue ich mich ...«
Drittes Kapitel.
Die lange schwere Zeit
1
In der Nacht fuhr die Schneiderin Gertrud Gudde hoch aus dem Schlaf. Sie hatte den Winterwind sausen hören, schneidend, erbarmungslos gegen Leute, die nicht genug Feuerung haben und unzureichend ernährt sind. Sie schauderte zusammen, dann hatte sie die müden Glieder fester in das warme Bett geschmiegt.
Aber gleich war sie wieder hochgefahren und hatte Licht gemacht. War sie denn nicht aufgewacht, weil Gustäving gerufen hatte? Sie war aus der Wärme gestiegen, hinein in die eisige Kälte des Zimmers, an sein Bett getreten: Aber Gustäving schlief ruhig. Er lag auf der Seite. Eine knochige, bläuliche Schulter sah aus dem Hemd. Sacht zog sie die Decke darüber. Die Nase war viel zu scharf und spitz in dem Kindergesicht, die Ärmchen waren dürr wie Stecken, kein Gramm Fleisch schien auf ihnen zu sein.
Sie sah das alles, wie sie es hundertmal in der letzten Zeit gesehen hatte, wie sie Monat für Monat, Woche für Woche ihr Kind so hatte werden sehen. Sie seufzte, stopfte die Decke noch einmal fest um den mageren Kinderkörper, mit einem Gefühl hilfloser Ergebenheit. Dann kehrte sie in die Bettwärme zurück.
Sie versuchte wieder einzuschlafen. Es war erst zwei Uhr nachts. Sie lag und lauschte auf den Wind, der an den Fenstern im fünften Stock so heulte und rüttelte, als wohne sie nicht in der großen Steinstadt Berlin, sondern weit draußen auf dem flachen Lande, wo die Häuser ungeschützt den Stürmen preisgegeben sind.
Sie erinnerte sich genau, wie der Wind heulte und rüttelte an dem kleinen Elternhaus auf Hiddensee. Wie sie als Kinder wach lagen und lauschten, wie sich das Donnern der Brandung am nahen Westrand der Insel in den Sturmlärm mischte, und wie sie immer daran dachten, daß jetzt der Vater draußen war in seinem Boot, auf Heringsfang vor Arkona oder nach Schollen im Achterwasser. Sie erinnerte sich, wie sie flüsternd in ihren Betten miteinander von ihren großen kleinen Kindergeschehnissen gesprochen hatten, vom Bernstein oder den Hütegänsen, aber nie vom Vater, der draußen war. Das verbot ihnen eine tiefe, abergläubische Scheu. Aber sie dachten immer an ihn, und dieses ständige Denken schien dem Sturm fast etwas Persönliches zu geben, als sei er ein böser Feind, der Vater nachstellte, dem man nicht erzählen durfte, daß Vater draußen war.
Es ist ein weiter Weg von dem armen Fischerhaus auf Hiddensee bis zu der volkreichen Mietskaserne im Osten der großen Stadt Berlin. Es ist auch ein weiter Weg von dem kleinen ängstlichen Fischermädchen bis zu der Schneiderin, die kaum noch Angst hat, sondern im tiefsten ergeben ist in das, was ihr Gott schickt. Ein weiter Weg, eine ungeheure Wandlung. Aber doch, die Gertrud Gudde, die jetzt um zwei Uhr nachts nahe dem Bett ihres schlafenden Kindes wach liegt, empfindet wieder etwas von der abergläubischen Angst, wenn sie auf den Wind horcht. Sie möchte einschlafen, sie will nicht daran denken, sie will es dem Sturm nicht sagen. Aber der Schlaf kommt nicht, das Herz klopft so traurig langsam, die Trübe der kalten Nacht ist nicht nur um sie, sie ist ebenso in ihr.
Ist es nicht derselbe Wind – der Wind vor ihren Fenstern und der Wind über Frankreich? Ist nicht auch für jene dort Sturm? Ist nicht wieder wie ehemals, lange vormals, ein Mann von ihr draußen, nach dem Vater der Geliebte, der Vater ihres Kindes?
Alles wie ehemals, alles wie eh und je! Sie steckt den Kopf in die Kissen, sie will nicht daran denken. Unheil! Otto hat seit zwei Wochen nicht mehr geschrieben – genau wie es früher war, wenn ein Fischerboot nicht zurückkam, und Frau und Kinder, das ganze Dorf wartete auf Nachricht, hoffte und harrte ... Es gab ja Fischerboote, die der Sturm bis nach Finnland verschlug, es konnte eine lange Zeit dauern, bis Nachricht eintraf.
Und dann waren sie längst tot gewesen! Während sie daheim noch hofften und harrten, waren die draußen längst tot gewesen, verdorben und gestorben! Über zwei Wochen hatte Otto nicht mehr geschrieben! Und jetzt – der Sturm mag heulen und rütteln, soviel er will! –, jetzt erinnert sie sich, sie ist nicht davon aufgewacht, daß Gustäving nach ihr rief. Eine andere Stimme hatte sie angerufen ...
Sie hatte eine Zeitung in der Hand gehalten, sie hatte eine Nachricht gesucht. Angstvoll blätterte sie die Zeitung um, Seite um Seite. Aber von jeder Seite hatten sie nur die unzähligen, schwarzumränderten Todesanzeigen angesehen, die alle Zeitungen füllten: »Den Heldentod für sein Vaterland starb ...« Und darüber das Gefallenenkreuz.
Seite auf Seite umgeblättert und nichts wie diese Anzeigen. Plötzlich weiß sie, daß sie keine Nachricht sucht, daß sie die Anzeige sucht: »Den Heldentod für sein Vaterland starb Otto Hackendahl ...«
Und sie erschrickt namenlos und sagt sich: Ich suche doch nicht die Anzeige! Er lebt ja, er hat mir grade erst geschrieben, daß er zum Unteroffizier befördert ist ... Ich will die Namen gar nicht lesen!
Doch sie liest die Namen nur hastiger, es ist, als warte sie gierig auf den Namen Otto Hackendahl – damit endlich die Erlösung kommt, eine endgültige Entscheidung nach dem ewigen, bangenden Warten von nun schon zwei Jahren. Aber das Schwarz der Zeitungen verwirrt sich, die Gefallenenkreuze schieben sich ineinander, vor den Fenstern heult der Wind ... Das Boot ist draußen, und der Vater ist draußen, und sie sind allein im Haus, Mutter und Kinder ...
Wie erzählen die Fischer auf Hiddensee? Wenn einer von ihnen ertrinkt, und im Ertrinken ruft er nach seinem Weib, so geht der Ruf so weit, wie es auch sein mag, und erreicht die Gerufene. Er weckt sie aus tiefstem Schlaf: Der Sterbende sagt der Lebenden auf Wiedersehen!
So drang durch das Geschiebe der schwarzen Kreuze ein Ruf zu der Schläferin und hatte sie geweckt. Sie hatte zuerst gemeint, es sei das Kind gewesen. Aber da sie nun wieder einschlafen wollte, wußte sie: Es war nicht das Kind gewesen, er war es gewesen.
Sie lag wach und hätte gerne geweint. Aber sie konnte nicht weinen. Es dauerte schon zu lange. Es half ihr auch nichts, daß sie wußte, es ging allen Frauen jetzt so. Alle Frauen träumten Nacht für Nacht den Traum vom gefallenen Mann. Vom gefallenen Bruder. Vom gefallenen Sohn. Es half ihr nichts, daß sie sich sagte: Es kann ja gar nicht anders sein. An was man den ganzen Tag denkt, an das denkt auch im Schlaf das Hirn weiter. Es hat nichts zu bedeuten. Und es half ihr nichts, daß sie sich sagte: Hundertmal habe ich schon dieses und ähnliches geträumt, und er hat doch immer wieder geschrieben.
Sondern nichts half. Und sie wußte schon, daß nichts half. Daß es in ihr saß, in ihr und in allen Frauen, Schwestern, Müttern. Daß man es eben ertragen mußte, dieses unendliche, peinigende Warten, bis endlich wieder einmal der Briefträger den Feldpostbrief abgab. Und nach fünf Minuten der Erleichterung, des Aufatmens begannen wieder die fünfhundert, die fünftausend, die fünfzigtausend Minuten bangenden Wartens!
Nein, nichts half – und doch ertrug sie es, sie wie alle anderen. Sie stöhnte: »Es ist unerträglich, es muß endlich ein Ende nehmen, so oder so.« Aber es nahm kein Ende, und sie ertrug es weiter. Sie ertrug es, weil sie ein Kind zu versorgen hatte, weil die nackteste Notdurft des Lebens ihr immer neue Pflichten auferlegte, weil sie Briefe ins Feld zu schreiben hatte, die nie mutlos klingen durften, weil sie unendlich arbeiten mußte, um ihm noch Feldpostpäckchen zu schicken ... Weil jeder Tag schon in frühester Stunde mit einem eisernen »Du mußt!« auf sie zutrat, weil sie eben nicht die Hände in den Schoß legen, sich nicht ihrer Trauer hingeben konnte.
Schließlich ist Gertrud Gudde doch wieder eingeschlafen, wie sie schließlich fast jede Nacht über ihren Ängsten wieder einschlief. Noch zweimal weckten ihre Träume sie, und mit der alten Angst starrte sie in die Nacht und lauschte auf den Sturm. Das eine Mal hatte sie falsch gelegen, ihre schwache kranke Brust hatte unter einem schweren Druck geseufzt, und sie hatte ihren schrecklichsten Traum geträumt, den sie manchmal hatte, seit ihr plötzlich klargeworden war, was diese auf einmal überall geleierte Redensart »Scheintot im Massengrab« eigentlich bedeutete.
Sie hatte mit Otto unter den anderen gelegen, lebendig unter Toten, und sie hatte versucht, sich hervorzuwühlen ... Oh, wie konnten die Menschen einander quälen! Wie konnte jemand, der ein Herz hatte, so etwas sagen?! Atemlos starrte sie in das Dunkel und versuchte, die grauenhaften Bilder aus sich zu vertreiben.
Der dritte Traum aber war fast schön gewesen. Denn sie hatte neben Otto gesessen in einem frühlingsgrünen Walde, und Otto hatte aus der Tasche seines feldgrauen Rockes eine lange Flöte gezogen und hatte gesagt: Die habe ich geschnitzt. Jetzt will ich dir etwas vorspielen!
Er hatte zu spielen angefangen, und bei seinem Spiel waren aus jedem Schalloch der Flöte Vögel geschlüpft. Und die Vögel waren auf der Flöte sitzen geblieben und hatten zu seinem Spiel zu zwitschern und zu singen angefangen. Das hatte unfaßbar schön geklungen. Sie hatte sich immer näher an ihn gelehnt, und schließlich hatte sie ihn umgefaßt. Da hatte er gesagt: Du darfst mich aber nicht zu sehr anfassen. Du weißt doch, daß ich gestorben und nur noch Asche und Staub bin, Tutti?
Sie hatte es wirklich gewußt, aber nur noch fester hatte sie ihn angefaßt. Da war er in ihren Armen zergangen, wie ein leichter Nebel war er durch den Frühlingswald verweht, ganz in der Ferne hörte sie noch sein Flötenspiel und das Zwitschern und Singen der Vögel.
Davon war sie aufgewacht. Der Sturm vor den Fenstern hatte sich etwas gelegt. Die Weckuhr zeigte auf halb fünf. Es war Zeit aufzustehen!
2
Frierend stand Gertrud Gudde in dem eisigen Zimmer. Verlangend sah sie zum Ofen, aber sie wußte, sie würden den ganzen Tag frieren müssen, wenn sie jetzt schon heizte. Erst in der nächsten Woche gab es wieder Briketts – sie hatte schon zuviel verbraucht.
Schließlich nahm sie eine Zeitung, ballte sie zusammen und steckte sie in das Ofenloch. Der Anblick des flammenden Papiers tat ihr gut; die feurige Lohe täuschte ein Gefühl von Wärme vor. Sie wusch sich, indes das Papier im Ofen schon längst schwarz geworden war, und fuhr in Kleider und Mantel.
Einen Augenblick noch stand sie am Bett von Gustäving. Das Kind schlief fest, aber es würde nicht bis zu ihrer Rückkehr fortschlafen: Der Hunger würde es wecken. So nahm sie aus dem Küchenschrank ein Brot und schnitt ein Stück ab, dessen Größe sie sorgenvoll überlegte. Es war klein und doch eigentlich zu groß. Aus Bindfaden machte sie eine Schlinge und hängte das Brot an die Bettleiter.
Sie lächelte, als sie daran dachte, wie sehr Gustäving sich über diesen Morgengruß freuen würde. Er war wie sein Vater: Er würde das Brot langsam und mit Bedacht essen, viele Male kauend. Obwohl es kein Friedensbrot von reinem Geschmack war, sondern Kriegsbrot mit klitschigem Kartoffelstreifen. Manche sagten, es werde Holzmehl und Sand in das Brot gemengt – aber das mußte nicht wahr sein, es war auch so schlimm genug.
Sorgfältig schloß sie die Schranktür ab und steckte den Schlüssel zu sich. So klein Gustäving noch war, der Hunger machte auch die Kleinsten erfinderisch. An einem nicht sehr weit zurückliegenden Morgen hatte er den Schrank aufbekommen: Es waren schreckliche Tage gewesen danach. Daß man selbst stets hungrig war, daran war man längst gewöhnt. Daß man seinem Kinde aber nicht einmal das Allernotwendigste geben konnte ...
»Ich kann doch mein Kind nicht vier Tage lang hungern lassen!« hatte sie auf der Kartenverteilungsstelle gerufen. »Es verhungert mir ja!«
»Da könnte jeder kommen!« hatte der Beamte achselzuckend gesagt. »Dem einen sind die Karten verbrannt, dem anderen sind sie gestohlen. Der hat sie verloren, und Ihnen hat das Kind das Brot weggegessen – hätten Sie besser aufgepaßt! Nein, es gibt nichts!«
Schließlich hatte ihr die Schwägerin Eva mit ein bißchen Brot geholfen ...
Sie rüttelte noch einmal sachte an der Tür des Schrankes: Der Schrank war zu. Sie sah noch einmal nach Gustäving: Das Kind schlief. Sie löschte das Licht und trat in das Treppenhaus. Es war gleich fünf, es war höchste Zeit.
Im Treppenhaus war es dunkel, aber schon tasteten Schritte hinunter, tappten schwere Füße müde hinauf. Im ersten Stock wurde eine Entreetür geöffnet, ein Mann kam heraus, im Dämmerlicht des Flurs sah sie, wie er seiner Frau den Abschiedskuß gab. Dann tastete er sich stumm neben ihr die Treppe hinunter, aber plötzlich faßte er sie um, er flüsterte: »Na, meine Kleine, Süße? Auch schon so früh aus den Betten?«
Sie stemmte die Hände gegen seine Brust. Sie wußte, es war der Werkmeister einer Munitionsfabrik, er war »unabkömmlich«! Er war früher ein ganz ordentlicher Mann gewesen, aber dieser Krieg, der Berlin männerlos gemacht hatte, hatte ihn verdorben. Es gab genug Weiber jetzt, die jeder Männerhose nachliefen – nun dachte er wohl, alle Frauen seien Freiwild.
»Lassen Sie mich sein, Herr Tiede!« rief sie, sich im Dunkeln wild gegen ihn wehrend. »Ich bin ja bloß der Buckel aus dem fünften Stock!«
»Die Gudde? Das ist doch mal was anderes!« Und indem er sie heftiger bedrängte, flüsterte er: »Sei nett, Kleine! Du kommst mir grade recht – ich schenke dir auch ein halbes Pfund Butter, wenn du artig bist! Ehrenwort!«
Es gelang ihr, sich von ihm frei zu machen. Sie lief wie gejagt über die beiden Höfe und atmete erst auf, als sie auf der Straße war. Im Licht einer Gaslaterne besichtigte sie den Mantel, den er ihr zerrissen hatte: Gottlob, es war nicht so schlimm, es ließ sich nähen, fast ohne daß man es sehen würde!
Sie machte eilig, daß sie in die kleine Nebenstraße vor die Tür ihres Fleischerladens kam. Aber sie war ein bißchen spät daran, trotz aller Eile, trotz des Frühaufstehens: Schon eine ganze Reihe Menschen wartete vor der dunklen Ladentür.
»Neunzehn«, sagte die Frau vor ihr.
»Dann werde ich ja wohl noch etwas abbekommen«, meinte sie hoffnungsvoll.
»Das weiß man nicht, wieviel Schweine er zugeteilt bekommt«, sagte die Frau vor ihr. »Aber das hilft nun nichts – das Hoffen haben sie uns ja immer noch nicht verboten!«
Es klang unsäglich bitter, wie diese Frau es sagte. Nicht nur vom eisigen Wind schaudernd, steckte Gertrud Gudde die Hände tief in die Manteltaschen und stellte sich auf die Zehenspitzen. Hielt man es länger aus, nur auf den Zehenspitzen zu stehen, so froren die Füße nicht so. Und sie mußte es lange aushalten, um acht Uhr erst machte der Fleischer seinen Laden auf.
Eine Weile stand sie so, frierend; die nur mühsam vertriebene Müdigkeit kehrte zurück. Aber sie brachte keinen Schlaf, sondern nur trübe, finstere Gedanken. Sie suchte sich vorzustellen, was sie beim Fleischer bekommen würde: ein gutes Stück Kopf oder nur ein paar Abfallknochen, fast ohne Fleisch. Es war Glückssache – und meistens hatte sie kein Glück. Alle Menschen waren voreingenommen gegen einen Buckel. Aber man mußte es nehmen, wie es kam: Es war doch, so wenig es auch sein mochte, Fleisch ohne Karten, Abfallknochen, Zeug, das der Fleischer anders nicht verwerten konnte. Es gab den Steckrüben einen besseren Geschmack!
»Was mag die Uhr wohl schon sein?« fragte die Frau vorn.
»Fünf Minuten nach halb sechs!« antwortete Gertrud Gudde.
»Und meine Füße sind schon jetzt wie Eis! Das halte ich nicht bis acht durch. Passen Sie ein bißchen auf meinen Platz auf? Ich habe achtzehn.«
Gertrud stimmte zu, aber die Frau verhandelte noch mit der vor ihr. Es war zu schlimm, wenn man seinen Platz verlor, wenn man ganz umsonst früh aufgestanden war und gefroren hatte. Man mußte sich erst bei beiden Nachbarn sichern.
Dann aber lief die Frau los, sie hatte nur Holzschuhe an, die Holzsohlen klappten laut auf dem Pflaster. Sie lief die Straße auf und ab, manchmal blieb sie stehen und schlug die Arme fest gegen den Leib. Aber niemand machte einen Witz, nur eine sagte gedankenvoll: »Wenn man Kräfte genug hat, es länger zu tun, wird man schön warm davon!«
Dann schwiegen wieder alle.
Nach einer Weile kam die Frau zurück. »So«, sagte sie, und ihre Stimme hatte einen ganz anderen Klang. »Jetzt halte ich es wieder eine Weile aus. Wollen Sie auch? Ich sorge schon für Ihren Platz.«
Aber Gertrud Gudde schüttelte den Kopf. »Nein, danke«, sagte sie leise. Nicht, daß sie nicht fror, aber sie scheute sich, mit ihrer Mißgestalt vor den anderen herumzulaufen. Sie waren ja alle arme geschlagene Weiber, aber es gab doch immer welche, die in aller Armut noch über den Ärmeren spotteten.
Und dann hatte sie wirklich Angst um ihren Platz, es standen jetzt schon so viele hinter ihr! Es war unmöglich, daß der Fleischer Knochen für alle hatte. Und jetzt war es erst sechs! Sie flehte, daß doch gegen acht ein Schutzmann vorüberkommen und die Leute schubweise in den Laden lassen würde. Sonst gab es einen Wirbel, wenn die Ladentür aufgemacht wurde, und sie wurde von den Stärkeren nach hinten gedrängt!
Hinter ihr unterhielten sich jetzt zwei mit lauten, scharfen Stimmen über eine neue Bestimmung wegen des Urlaubs von der Front. »Es ist wahr«, sagte die eine, »du kannst es mir glauben: Für jeden Goldfuchs, den du hier in der Heimat ablieferst, kriegt dein Mann einen Tag Urlaub.«
»So was werden sie doch nicht machen!« antwortete die andere. »Das wäre doch nur was für die Reichen! Im Schützengraben draußen sind doch wenigstens alle gleich!«
»Für die Reichen, sagst du?« fragte die erste Stimme wieder erbittert. »Für die Schieber und Hamster, meinst du! Wer anständig war, hat sein Gold doch längst abgeliefert, als es hieß ›Gold gab ich für Eisen‹! Ja, Scheiße – die Anständigen sind wieder mal die Dummen! Aber es gibt ihrer noch genug, die Gold im Strumpf haben. Die kriegen ihren Mann, für zehn Tage, für vierzehn Tage, für drei Wochen ... und in der Zeit fällt vielleicht grade dein Mann ...«
»Das machen sie nicht«, sagte wieder die andere, aber sie sagte es unsicher. »Das wäre doch keine Gerechtigkeit.«
»Gerechtigkeit!« rief die andere fast rasend. »Red doch bloß nicht solchen Stuß! Gerechtigkeit! Wer mag denn so ein Wort in den Mund nehmen! Wo siehste denn Gerechtigkeit? Gold her – und du kannst mit deinem Mann ins Bett gehen. Kein Gold – ei du liebe Scheiße!«
»Die Leute reden soviel ...«, sagte die andere wieder zaghaft.
»Gerechtigkeit ...«, rief die andere, die sich gar nicht beruhigen konnte. »Neulich haben sie bei mir wieder einen Wisch durch die Tür gesteckt. Ich les sonst das Zeugs nicht – es ist alles bloß Quatsch. Daß wir unsere Ketten zerbrechen sollen und so – das sollen die, die so etwas drucken, uns erst mal vormachen! Wenn sie selber ihre Ketten zerbrochen hätten, brauchten sie die Zettel ja nicht heimlich durch die Tür zu stecken!«
Ein paar lachten.
»Habe ich nicht recht?« fragte die Frau friedlicher. »Das ist ja alles bloß Geschwätz! Aber den Wisch habe ich gelesen. Menu stand darüber.« (Sie sagte: Me-nuh.) »Das soll heißen, was es zu essen gab. Kaiserliches Hauptquartier, stand darüber, Homburg vor der Höhe – seit wann ist denn überhaupt Homburg vor der Höhe an der Front? Ich denk immer, das ist 'ne deutsche Stadt.«
»Das verstehste nicht«, sagte eine andere Frau. »Dafür bist du zu dusselig. Einen Kaiser wie Willem, den gibt et nur einmal, aber deinen Emil oder wie er heißt, den gibt et hunderttausendmal ...«
»Det verstehst nu du wieder nich«, sagte die erste, aber ganz besänftigt, »weil du nämlich meinen nich kennst. Wenn du den nämlich kennen würdest, wie ich ihn kennen tue, würd'ste nich sagen, es gibt ihn tausendmal. Nee, so einen gibt's auch nur einmal ...«
So redeten sie weiter. Immer weiter redeten sie von Emil und Willem und von seinem Menu mit sieben Gängen, alles auf französisch. Aber dieses Französisch hatten sie ganz gut verstanden. Sie redeten weiter, sie erhitzten sich und wurden wieder verdrossen – es kam nichts heraus dabei, es war das Gewohnte –, aber die Zeit verging ihnen darüber.
Gertrud Gudde stand auf ihrem neunzehnten Platz. Sie hörte das Gerede an, und sie überhörte es. Die eisige Kälte stieg hoch in ihr, aber es war nicht nur die Winterkälte, die sie so frieren machte. Urlaub, dachte sie. Schon über zwei Jahre ist er draußen und hat doch noch keinen Urlaub gehabt. Ich schreibe nicht davon, und er schreibt nicht davon, aber jeder Mann an der Westfront hat in dieser Zeit mindestens zweimal Urlaub gehabt. Nur er ...
Sie fängt wieder an zu grübeln, was sie schon hundertmal, schon tausendmal durchgegrübelt hat: Warum er nicht kommt? Er weiß Bescheid, wie es zu Haus aussieht; obwohl sie nie etwas von der Lebensmittelknappheit in ihren Briefen erwähnt hat, klingelt dann und wann ein Urlauber an ihrer Wohnungstür. Er gibt ein Eßpaket ab: ein bißchen Schmalz, zwei Pfund Speck, Zucker, auch einmal Linsen ...
»Warum kriegt Otto denn keinen Urlaub?« fragt sie dann die Urlauber.
Sie zucken verlegen die Achseln, sie sehen sie an, sie sagen: »Ich weiß nicht, vielleicht will er nicht ...«
Sie sehen sie an, und schon mag sie nicht mehr weiter fragen. Sie haben sie so komisch angesehen, vielleicht denken sie: Wenn ich eine Frau hätte, die so aussieht wie du, würde ich auch nicht auf Urlaub fahren ...
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