Damals bei uns daheim

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Bei solchen ermunternden Aufrufen verflüchtete sich natürlich auch der letzte Rest meines Wissens, und ich stand wirklich da wie ein rechter Schwachkopf! Je mehr er auf diese höhnische Art fragte, um so tiefer versank ich im unergründlichen Sumpfe des Quatsches und muß ein wirklich klägliches Bild geboten haben. So konnte Professor Olearius mit einigem Recht sagen: »Seht ihn euch an! Was er hier eigentlich auf dem Gymnasium will, wird mir ewig rätselhaft bleiben!« Und mit allem dummstolzen Akademikerdünkel: »Die Pantinenschule wäre gerade das Rechte für ihn!«

Worauf ich prompt in Tränen ausbrach!

Überhaupt gewöhnte ich mir das Heulen bei Professor Olearius an. Es war das einzige Mittel, das ich entdeckte, seiner Anmaßung zu entgehen. Sobald er mich nur aufrief, fing ich an zu heulen. Ich machte überhaupt nicht mehr den Versuch, eine seiner Fragen zu beantworten. Er würde mich doch über kurz oder lang zum Heulen bringen, also heulte ich lieber gleich los. Dies kam so weit, daß die Klasse vor der Lateinstunde Wetten abschloß, ob ich heulen würde oder nicht. Ich wurde ermuntert, scharf gemacht: »Tu uns den einzigen Gefallen und heul heute einmal nicht! Mensch, nimm dich doch einmal zusammen!«

Aber ich konnte mir noch so viel Mühe geben, ich heulte doch. Als Steigerung meiner Qualen hatte sich Professor Olearius ausgedacht, mich aufs Lehrerpult an die schwarze Wandtafel zu rufen. Da ich vor Heulen nicht sprechen konnte, sollte ich meine Antworten auf die Tafel schreiben. Wenn dann dort, statt amavissem, amatus essem stand, klopfte er mit seinem harten Knöchel kräftig gegen meinen Schädel, wobei er den Spruch zitierte: »Denn wer da anklopfet, dem wird aufgetan!«

Dieses Klopfen, das er so lange wiederholte, bis die richtige Antwort an der Tafel stand, tat ausgesprochen weh. An diesem feinen Gymnasium war alles Schlagen der Schüler dem Lehrer aufs strengste verboten – es ging das Gerücht von einem Professor, der einem Schüler eine Ohrfeige gehauen und ihm dabei mit dem Siegelring eine leichte Schramme versetzt hatte, dieser Lehrer sei sofort aus dem Schuldienst entlassen worden. Aber dieses neckische Klopfen von Professor Olearius konnte keinesfalls als körperliche Züchtigung gelten, obwohl es zweifelsohne eine war.

Einige Jahre später hat es der Zufall gefügt, daß ich mit Professor Olearius auf der Hinterplattform eines Straßenbahnwagens zusammentraf. Er erkannte mich sofort wieder, wie ich ihn sofort erkannte und sofort wieder den alten Haß gegen ihn im Herzen spürte. Damals ging ich längst auf ein anderes Gymnasium und war löblicher Obertertianer ...

Mit der alten dünkelhaften Überlegenheit wandte sich Professor Olearius, ohne die geringste Rücksicht auf die andern Fahrgäste, an mich und sprach: »Nun, du beklagenswerter Fallada? – An welcher Erziehungsanstalt bringst du jetzt unselige Lehrer ihrem Grabe näher?«

Aber ich war nicht mehr der verschüchterte Junge aus der Quinta oder Quarta. Ich hatte mittlerweile die Erfahrung gemacht, daß ich nicht dümmer war als andere und bestimmt klüger als dieser alte Pauker, für den die Welt aus lateinischen und griechischen Verben bestand. So antwortete ich ganz laut: »Ich kenne Sie nicht, und wenn ich Sie kennen würde, würde ich einen Menschen wie Sie niemals grüßen!«

Sprach's, sah ihn bleich werden bei dieser öffentlichen Kränkung und sprang ab von der Elektrischen, Jubel über meine doch recht schülerhafte Rache im Herzen.

Aber damals war an Rache noch nicht zu denken. Jeden Morgen beim Aufwachen lag die ganze Penne mit Kameraden, Lehrern, Schularbeiten wie ein Alpdruck vor mir. Wenn ich mich irgend von ihr drücken konnte, tat ich es. Da ich sehr kränklich war und meine Eltern in steter Angst um meine Gesundheit lebten, war es nicht sehr schwer für mich, oft zu Haus bleiben zu dürfen. Sah ich gar zu wohl aus, und schien der Tag mir ganz unüberwindlich, so schlich ich mich heimlich in die Speisekammer und nahm ein paar kräftige Schlucke aus der Essigflasche. Dann wurde ich so geisterbleich, daß meine Mutter mich ganz von selbst ins Bett schickte.

Da lag ich dann Stunden und Tage und las und las. Ich wurde es nicht müde, meinen Marryat und meinen Gerstäcker und den heimlich geliehenen Karl May zu lesen. Je untragbarer mir mein Alltagsleben erschien, um so dringlicher suchte ich Zuflucht bei den Helden meiner Abenteuerbücher. Mit ihnen fuhr ich zur See, bestand die schwersten Stürme, auf einer Rahe beim Segelreffen schaukelnd (ich wäre beim leisesten Windstoß hinuntergeflogen!), schwamm zu einer wüsten Insel (ich konnte nicht schwimmen) und führte dort ein Robinsondasein, ferne allen geflickten Hosen, gedrehten Zöpfchen und Heulerchen im Latein.

Von diesen Träumen war es nur ein Schritt bis zu dem erst spielerischen Gedanken, all diesem Elend hier zu entfliehen, wirklich ein Schiffsjunge zu werden und wirklich Schiffbruch und Landung auf einer Insel zu erleben. Je öfter ich daran dachte, um so leichter erschien mir die Ausführung.

Erst nur andeutungsweise, dann schon ernster sprach ich mit Hans Fötsch darüber und fand zu meiner Überraschung bei ihm ein offenes Ohr. Auch Hans Fötsch war es müde, länger dieses ungerechte Dasein zu ertragen. Zwar in der Schule hatte er, wie er mir erzählte, keine Schwierigkeiten. Dafür aber war er »Schuss« mit seinem Vater, der den Sohn, mehr als dieser für angemessen hielt, mit Backpfeifen und Prügeln traktierte und überhaupt ein höchst ungerechter, tollwütiger Berserker war.

Allmählich nahmen unsere Pläne immer festere Gestalt an. Wir beschlossen, nach Hamburg zu fahren und uns dort als Schiffsjungen auf einer Bark oder Brigg anheuern zu lassen. Am schwierigsten schien es, nach Hamburg zu kommen. Waren wir erst einmal dort, würde alles schon glatt gehen. Nach dem, was wir gelesen hatten, war man in allen Häfen ganz wild nach Schiffsjungen aus den besseren Ständen. Wir erkundeten, daß ein Zug nach Hamburg um die Stunde ging, zu der wir uns morgens in der Schule einzufinden hatten, das war also in Ordnung. Auch die Beschaffung von Reiseproviant konnte im Hinblick auf die elterlichen Speisekammern nicht schwierig sein. Vorsorglich fingen wir schon an, Konserven aller Art zu klauen, und trugen dadurch lebhafte Unruhe und schwarze Verdächte in den Schoß unserer Familien ...

Am schwierigsten erschien die Beschaffung des Reisegeldes. Wir setzten den Mindestbetrag, den wir brauchen würden, auf zwanzig Mark fest – aber zwanzig Mark waren eine ungeheure Summe, ferne allen Schülermöglichkeiten. Hans Fötsch verlegte sich darauf, die Taschen des väterlichen Mantels zu revidieren. Ich hielt fleißig Ausschau nach dem Portemonnaie meiner Mutter. Aber was wir erbeuteten, waren nur Groschen – nach drei Wochen kleiner Mausereien hatten wir noch keine zwei Mark zusammen.

Da entschloß ich mich zu einem großen Wagnis. Ich wußte, daß Vater das während des Monats benötigte Geld im Mittelfach seines Schreibtisches aufbewahrte: Silber und kleines Geld in einer offenen Drahtkassette, die Goldfüchse aber in zwei netten kleinen weißen Beutelchen, auf die Fiete im Kreuzstich »zehn Mark« und »zwanzig Mark« gestickt hatte. Diese Schublade war zwar immer verschlossen, aber es gab soviel Schränke und Kommoden in unserm Haus, in denen Schlüssel steckten, daß ich überzeugt war, einer davon werde schon passen.

Morgens stand ich nun als allererster auf und schlich, während alles noch schlief, auf Socken durch die Wohnung, Schlüssel probierend. Schließlich paßte zu meinem Unheil wirklich einer. Die Geldschublade lag offen vor mir, und in den beiden kleinen Geldsäckchen klingelte es angenehm. Nach langem Überlegen entschloß ich mich, ein Zehn- und ein Zwanzig-Mark-Stück zu nehmen. Ich glaubte, mein Vater werde den Verlust weniger leicht merken, wenn in jedem Beutel nur ein, als wenn in einem Beutel zwei Goldstücke fehlten. Trotzdem Hans Fötsch und ich fest ausgemacht hatten, noch aus Hamburg von der Anzahlung auf unsere Heuer Vater das Geld zurückzusenden, klopfte bei dieser Zwangsanleihe mein Herz doch sehr. Wohl war mir dabei nicht zumute, und stumm saß ich, mit gesenkten Augen, beim Kaffeetisch.

Noch auf meinem Schulweg gelang es mir, Hans Fötsch abzufangen und ihm zu sagen, daß mein Vorhaben gelungen sei. Da uns beiden noch längeres Verweilen unter so drückenden Umständen unmöglich schien, wurde die Flucht schon auf den nächsten Morgen festgesetzt.

An diesem Nachmittag hatten wir unendlich viel zu tun. Mit einer wahren Wonne warfen wir die Bücher aus unserer Schultasche und füllten sie mit Konserven und sehr wenig Wäsche. Schularbeiten wurden natürlich nicht mehr gemacht, wir hatten unsere Schiffe hinter uns verbrannt. Vom Bäcker holten wir Schrippen und vom Fleischer Leberwurst, dies schien uns der richtige Reiseproviant. Das Geld wurde zwischen uns so geteilt, daß Hans Fötsch das Zehn-Mark-Stück, ich aber den Zwanzigmärker bekam. Am späten Abend erst trennten wir uns, beide sehr erregt. Als Zeit unseres Treffens am nächsten Morgen war halb acht Uhr festgesetzt.

Ob ich in dieser Nacht viel geschlafen habe, weiß ich nicht mehr. Jedenfalls werden durch meine Träume Briggs, die mit geblähten weißen Segeln vorm Winde dahinflogen, gespukt haben.

An der Frühstückstafel am nächsten Morgen nahm ganz ungewohnt mein Vater teil, der sonst immer erst um zehn, halb elf Uhr frühstückte, da er, der größeren Ruhe wegen, meistens nachts bis gegen zwei, drei Uhr morgens arbeitete. Aber ich achtete nicht auf diese befremdliche Änderung seiner Gewohnheiten, wie ich nicht auf seine Blicke achtete. Ich war viel zu sehr mit meinen Plänen und Hoffnungen beschäftigt. Endlich war es so weit!

Kurz vor halb acht Uhr schnappte ich meine ungewohnt schwere Tasche und rannte auf die Straße vor Fötschens Haus. Ich mußte fünf, ich mußte zehn Minuten warten – meine Aufregung wurde immer fieberhafter. War etwas dazwischen gekommen oder war es nur die gewöhnliche Bummelei von Hans Fötsch –?

 

Dann kam er – aber wie ward mir, als ich ihn an der Hand seiner Mutter daherwandeln sah –?! Zur Salzsäule erstarrt blickte ich auf meinen blassen, verheulten Freund und das strenge Gesicht seiner Mutter, die ihn eher als Gefangenen mit sich schleppte, denn wie eine Mutter ihren Sohn führte! Nahe, ganz nahe gingen die beiden an mir vorüber. Hans wagte mich nicht anzusehen, seine Mutter aber bedachte mich mit einem vor Empörung sprühenden Blick und zischte: »Du Bube du!«

Dann waren sie an mir vorüber, sie schritten die Luitpoldstraße hinab und verschwanden um die Ecke meinen Blicken. Ich war völlig zerschmettert. Also war unser Vorhaben doch verraten, und ich war dazu verurteilt, weiter die verhaßte Schulbank zu drücken, Spott und Kränkungen zu ertragen! Ade du freies Schiffsjungendasein! Ade fröhliche Fahrten vor dem Wind, während die Delphine um unser Schiff spielen! Ade ihr sonnigen Palmeninseln der Südsee!

Aber was sollte ich jetzt tun –? Was in aller Welt sollte ich jetzt tun –?! Ich konnte doch nicht wieder hinauf zu uns, den Inhalt meiner Schultasche wechseln und einfach in die Penne gehen? Ich hatte ja nicht einmal Schularbeiten gemacht!

Ich stand noch völlig unentschlossen, keines rechten Gedankens fähig, als mein Vater, der mich so lange hinter einer Litfaßsäule hervor beobachtet hatte, mich an der Schulter faßte. »Also ist es wirklich wahr«, sagte er tieftraurig, »was mir Frau Fötsch erzählt hat, daß ihr ausreißen wolltet? Und mit gestohlenem Gelde –! Komm, Hans, du mußt jetzt deiner Mutter und mir erzählen, wie unser Junge zu etwas Derartigem kommen konnte. Du hast ja einen Diebstahl begangen, einen schweren Diebstahl sogar, du kennst doch die Unterscheidungen! Und Hans Fötsch hast du auch verführt!«

Wir waren oben. Mit angstvollem Gesicht hatte meine Mutter mich erwartet. Jetzt ging sie uns voran in meines Vaters Arbeitszimmer, die Tür schloß sich hinter uns, und ich stand als Angeklagter vor meinen Eltern. Jetzt half kein Lügen und Leugnen mehr, es gab zu viel Beweismittel gegen mich, denn Hans Fötsch hatte alles gestanden!

Am Abend zuvor war seiner Mutter zufällig die Schultasche in die Hand geraten, grade weil sie Hans an einem ungewohnten Platz aufbewahrt hatte, ihre Schwere hatte sie stutzig gemacht, und von da bis zu einem Geständnis war nur ein kurzer Schritt gewesen. Leider aber hatte sich Hans nicht als getreuer Freund erwiesen, sondern hatte sich völlig als den Verführten hingestellt, auch meinen Diebstahl gebührend angeprangert, während er seine eigenen kleinen Mausereien mit Stillschweigen übergangen hatte. Noch in der Nacht waren Fötschens zu meinen Eltern geeilt und hatten lebhafte Klage über mich geführt. Ihrem Sohn war jedenfalls aller weitere Verkehr mit mir untersagt worden.

All dies hatte meine Eltern natürlich sehr schwer gekränkt. Meinen Vater betrübte am meisten der Diebstahl, den er grade als Richter schwerer nahm als jeder unjuristische Vater. Mutter verstand nicht, daß mir bei all ihrer liebevollen Fürsorge die Verhältnisse im Elternhaus so unerträglich erschienen waren. Besonders mein Mangel an Vertrauen hatte sie tief verletzt.

Leider habe ich von Kind auf nie die Gabe besessen, mich aussprechen zu können. Wie ich keinem, nicht einmal dem Freunde Hans Fötsch, etwas Näheres über meine Schulmiseren hatte erzählen können, so war es mir auch in dieser Stunde notwendiger Geständnisse nicht gegeben, meinen Eltern mehr als ein paar kümmerliche Fetzen von meinen Drangsalen zu berichten. Was sie da hörten, schien ihnen ganz unbefriedigend, keinesfalls ausreichend zur Begründung eines so wahnsinnigen Schrittes.

Immerhin hielt es mein Vater, der wohl wußte, daß ein Untersuchungsrichter Material nicht nur gegen, sondern auch für den Beschuldigten zusammenzutragen hat, es für seine Pflicht, sich erst einmal in der Schule zu erkundigen, was eigentlich mit mir los sei. Bis dahin wurde ich in meinem Zimmer bei hinreichend Schularbeiten eingeschlossen.

Mit inniger Befriedigung muß Professor Olearius den betrübten Bericht meines Vaters angehört haben. Dahin kamen also die Burschen, die sich weigerten, lateinische Verben zu lernen! Schiffsjunge – wahrhaftig! Und er gab meinem armen Vater die schwärzeste Schilderung von meinen Neigungen, Charakter, Fähigkeiten.

»Ich muß Ihnen empfehlen, mein sehr verehrter Herr Kammergerichtsrat«, schloß Professor Olearius triumphierend, »Ihren Sohn sofort vom Gymnasium abzumelden. Schon damit er einem consilium abeundi entgeht, denn ich fühle mich verpflichtet, das mir von Ihnen Mitgeteilte dem Lehrerkollegium zu unterbreiten. Für die weitere Bildung Ihres Sohnes halte ich nun freilich eine Volksschule für das höchst Erreichbare, vielleicht wäre noch richtiger eine Anstalt für geistig zurückgebliebene Kinder. Dieses ewige Heulen, diese Unfähigkeit, auch die einfachsten lateinischen Formen zu erlernen, scheinen mir auf einen leichten Schwachsinn zu deuten.«

Mein Vater war geneigt gewesen, schwarz, sehr schwarz von meinen Vergehen zu denken. Aber diesen böswilligen Übertreibungen gegenüber empörte sich sein Vaterherz. Er meinte seinen Sohn anders und besser zu kennen. Und wenn dieser Lehrer seinen Sohn so beurteilte, sprach das nicht gegen den Sohn, sondern gegen den Lehrer!

Recht erregt antwortete er, daß er seinen Sohn allerdings mit sofortiger Wirkung vom Gymnasium abmelde, aber nur, um ihn sofort auf einem andern Gymnasium anzumelden. Er hoffe dort auf einsichtigere Pädagogen.

Mit unerschütterlicher Überlegenheit behauptete Professor Olearius, auch dort werde ich völlig versagen, ich sei nun einmal unheilbar schwach begabt ...

Die Herren trennten sich in einiger Erregung, nicht sehr Gutes von einander denkend. Professor Olearius beklagte die Affenliebe mancher Väter, mein Vater die Einsichtslosigkeit des Schulmonarchen. Immerhin habe ich es aber nur den bösen Auskünften von Professor Olearius zu danken, daß mein Vater in wesentlich milderer Stimmung nach Haus kam. Der Diebstahl blieb wohl immer noch ein sehr dunkler Fleck, aber die Verzweiflung, in der ich mich bei einem so verständnislosen Lehrer befunden haben mußte, entschuldigte vieles.

Noch am gleichen Tage wurde ich beim Bismarck-Gymnasium in Berlin-Wilmersdorf angemeldet. Vorsichtig ließ mein Vater ein paar Worte über meine Verschüchterung und Mutlosigkeit fallen. Und sie fielen bei meinen neuen Lehrern auf guten Grund. In der ersten Zeit ließen sie mich ganz zufrieden, und als sie mich dann langsam in das Wechselspiel von Frage und Antwort einbezogen, geschah dies mit solcher Vorsicht und Güte, daß ich nie mehr verschüchtert war, sondern sagen konnte, was ich wußte.

Da nun auch meine Klassenkameraden nicht ahnten, daß ich einmal der armselige Prügelesel einer Klasse gewesen war, und da am Bismarck-Gymnasium keinerlei Vorurteil gegen geflickte Hosen bestand, habe ich armer, schwachsinniger Knabe mir bald einen guten Platz erobert und war schon bei der nächsten Versetzung der Sechste unter Zweiunddreißig.

Mein lieber Vater aber, dessen Herz sonst nie etwas von Rache wußte, ließ eine beglaubigte Abschrift dieses Zeugnisses anfertigen und sandte sie an Professor Olearius mit einem kleinen Begleitschreiben, wie der Herr Professor jetzt über meine Fähigkeiten denke? Ob er nicht doch vielleicht einräume, sich mit seiner Beurteilung geirrt zu haben?

Natürlich ist nie eine Antwort gekommen.

Manchmal sahen Hans Fötsch und ich uns noch auf der Luitpoldstraße. Aber wir sprachen nie wieder ein Wort miteinander, wir wagten nicht einmal, einander ins Auge zu sehen ...

Prozesse

Mein Vater wir mit Leidenschaft nur eines, nämlich Jurist. Der Richterberuf schien ihm einer der edelsten und verantwortungsvollsten von allen. Schon sein Vater war Jurist gewesen und vor ihm der Vater seines Vaters und so fort; soweit Gedächtnis der Familie und Überlieferung reichten, war immer der älteste Sohn in unserer Familie ein Jurist gewesen, während im mütterlichen Stamm das Pastörliche überwog. Was Wunder, daß mein Vater den dringenden Wunsch hatte, auch aus mir, seinem ältesten Sohne, einen Juristen zu machen.

Schon früh erzählte mir mein Vater, wie er, damals Alumne der hochberühmten Schulpforta, die Gründung des Deutschen Reiches erlebte und die Errichtung eines Deutschen Reichsgerichts. Wie schon damals nicht nur der Wunsch, sondern der feste Vorsatz in ihm wach geworden sei, Richter an diesem Reichsgericht zu werden. Er stellte mir vor, welche Festigkeit dieser Entschluss seinem ganzen Lebensplan gegeben habe, und wenn ich ihm, der mir damals schon uralt erschien, vorhielt, daß er nun doch nicht Reichs-, sondern bloß Kammergerichtsrat geworden sei, so pflegte er ohne jede Kränkung mit seinen Augenwinkeln zu lächeln und sagte wohl: »Warte nur noch drei oder vier Jahre, mein Sohn Hans, und du wirst es erleben. Ich habe die allerbesten Aussichten, und so nehme ich an, daß die andern auch die nötige Einsicht haben werden.«

Und er hat recht behalten: ich war noch nicht fünfzehn, da wurde Vater Reichsgerichtsrat.

Unbegreiflich erschien mir bei einem so schwachen, von Krankheit ständig bedrohten Manne solches Festhalten an einem Jugendplan. Durch fast vierzig Jahre ein einziges, allerdings im Möglichen gestecktes Ziel zu verfolgen, kam mir nicht nur unmöglich, sondern auch geradezu langweilig vor. Ich war immer auf der Suche nach etwas Neuem, mit jeder so rasch wechselnden Stimmung kamen andere Gedanken und Vorsätze in mir auf, nichts dauerte bei mir ...

Gewiß, ich hatte Zeiten, da ich jeden Morgen, wenn alle noch schliefen, in Vaters Arbeitszimmer schlich und seine Akten las. Aber mich interessierte nicht so sehr das Juristische wie das Menschliche in ihnen. Mit klopfendem Herzen las ich die Vernehmungsprotokolle des Untersuchungsrichters, eines nach dem andern, in denen der Beschuldigte leugnet, Ausflüchte macht, seine Unschuld beteuert Bis dann schließlich in einem Protokoll, meist ganz überraschend, das Geständnis der Wahrheit hervorbricht, noch eingeschränkt durch Entschuldigungen, von Lügen verbrämt, aber doch endlich die Wahrheit –!

Dann konnte ich lange darüber grübeln, was zwischen dem vorletzten Protokoll, in dem der Häftling noch Alibizeugen benannte, noch heilig seine völlige Unschuld beteuert hatte, und diesem letzten Protokoll, in dem er selbst das so mühsam aufgebaute Gerüst seiner Verteidigung zerschlug, was in dieser kurzen Zwischenzeit wohl in ihm vorgegangen war? Ich war schon damals ein Skeptiker, ich glaubte nicht an die Macht des bösen Gewissens, nicht an Reue, nicht an die Vermahnungen des Gefängnisgeistlichen. In dem einen oder andern Falle mochte solch ein Anlass zu einem Geständnis geführt haben, aber nur in Einzelfällen. Im allgemeinen, meinte ich, müsse es geheimnisvoller, tiefer, im Labyrinth der Brust nächtlich verborgen zugegangen sein.

Ja, in dieser Richtung interessierte mich die Juristerei schon, aber das war ganz und gar nicht das, was Vater wollte. Er suchte mich für die andere Seite des Falles zu interessieren, nicht wie es zu einem Verbrechen gekommen war, sondern was ein Richter nun mit einem solchen Verbrecher anzufangen hat, damit sollte ich mich beschäftigen! Nahm Vater an unserm häuslichen Mittagessen teil, was durchaus nicht immer der Fall war, da die Sitzungen seines Strafsenates sich oft von morgens bis in die tiefe Nacht hinzogen, so pflegte er uns Kindern gerne sogenannte Doktorfragen vorzulegen, an denen wir unsern Scharfsinn üben sollten. Doktorfragen waren eine Art juristischer Rätsel mit listigen Fallen, paßte man nicht gut auf, dachte nicht scharf nach, so konnte man sich niederträchtig blamieren.

Vater war ein glänzender Plauderer, im Fontane-Stil etwa, trug er uns etwas Derartiges vor, so hielt er uns alles trocken Lehrhafte fern. Es machte großen Spaß, ihm zuzuhören. Mit zwei Sätzen etwa belehrte er uns Kinder über die strafgesetzlichen Bestimmungen wegen Mundraub, daß, wer Lebens- oder Genussmittel zum sofortigen Verzehr stiehlt, nur wegen einer leichten Übertretung gestraft wird. Wer aber eine Kiste Apfelsinen statt drei Stück nimmt, ein Vergehen begangen hat, das mit Gefängnis bestraft werden muß.

Und nachdem Vater so einen Grund bei uns gelegt hatte, ließ er schon einen Stromer am frühesten Morgen in ein Städtchen einrücken. Den Stromer peinigt ein schändlicher Durst, aber nicht von der Sorte, die ein Stadtbrunnen stillen kann.

Doch da kommt der Mann an einem Café vorüber, alle Fenster stehen auf, die Frauen sind beim Reinmachen und Aufräumen. Auf einem Marmortischchen am Fenster steht eine Flasche, das Schild verrät, es ist eine Kognakflasche, und sie scheint noch recht angenehm gefüllt. Der Stromer wagt den Griff, schon ist die Flasche in seiner Hand, und er stürzt mit ihr in den nächsten dunklen Torweg, setzt sie an die Lippen und tut einen kräftigen Zug.

 

Aber mit einem Fluch sprudelt er das Getränk wieder aus: das Schild hat gelogen, nicht Kognak, sondern Petroleum war in der Flasche!

»Nun, meine Kinder, gebraucht euern Scharfsinn! War dies nun ein Mundraub oder nicht? Wie hat der Richter zu erkennen? Auf der einen Seite erfüllt Petroleum keinesfalls den Wortlaut des Paragraphen, denn Petroleum ist weder ein Genuss- noch ein Nahrungsmittel. Andrerseits wäre die Flasche von dem Stromer nicht fortgenommen worden, hätte ihn nicht das Schild mit dem Worte ›Kognak‹ verlockt. Wie denkt ihr?«

Da saßen wir dann mit nachdenklichen Gesichtern, und jedes überbot das andere an Scharfsinn. Ich aber war stolz, wenn Vater meiner Entscheidung, es sei doch ein Mundraub, da die Absicht des Täters entscheidend sei, beipflichtete. Ich war stolz, trotzdem ich diese Art Rätselraten, wobei mit dem Wortlaut des Paragraphen jongliert wurde, eigentlich etwas stupide fand.

Nie vergaß ich das Wort, das einmal einer meiner Lehrer gesagt hatte, der Juristenberuf sei der einzige unter allen Berufen, der überhaupt keine neuen Werte schaffe, der völlig unproduktiv sei. Der Richter müsse sich sein ganzes Leben lang damit begnügen, über Vergangenes zu urteilen: was schon tot ist, der Richter trägt's zu Grabe. Vergangenes läßt er noch vergangener werden ...

Ich war damals noch zu jung, um einzusehen, wie ungerecht und falsch eine solche Beurteilung des Richterstandes war. Denn das Recht ist nichts Totes und Starres, es wandelt sich mit dem Gedeihen seiner Völker, es lebt ihr Leben mit. Es erkrankt, wie ein Volk erkranken kann, und es erreicht seine höchste Blüte in harten Notzeiten wie auch in glücklichen Tagen. Recht ist etwas Lebendiges, und zu allen Zeiten hat es besonders in unserm Volk Richter gegeben, die durch eine einzige Entscheidung alte Zöpfe abschnitten und dem Leben ihres Volkes dadurch neue Möglichkeiten eröffneten.

Ich war nur ein dummer Junge, und vor allem war ich nicht frei von der Neigung der Kinder, die jeden Beruf erstrebenswert finden, nur nicht den des Vaters. Trotzdem ich nie mit Vater von solchen Dingen sprach, fühlte er nur zu gut, daß seine Hoffnungen auf Fortsetzung der Juristentradition bei mir auf Sand gegründet waren. Aber darum ließ er nicht nach in seinen Bemühungen, mich immer wieder für seinen Lieblingsberuf zu interessieren. Vater hatte eine unendliche Geduld.

Danach kann es nur den krassen Außenseiter überraschen, daß ein so begeisterter Jurist wie mein Vater es strikte ablehnte, je in eigener Sache einen Prozess zu führen. Er wußte da zwei Sprüchlein: ›Ein magerer Vergleich ist besser als ein fetter Prozess‹ und ›Wer einen Prozess führt um eine Kuh, gibt noch die zweite dazu!‹

Heiter pflegte er zu sagen: »Wenn jetzt ein Mann in mein Zimmer kommt und zu mir spricht: Aber, Herr Kammergerichtsrat, die Lampe da an der Decke, diese messingne Krone, die gehört mir und nicht Ihnen! Geben Sie mir die mal schnellstens heraus! – Dann würde ich diesem Manne zu beweisen suchen, daß diese Krone schon seit sechzehn Jahren in meiner Wohnung hängt, daß ich sie dort und dort gekauft habe, und ich würde sogar versuchen, die alte quittierte Rechnung wiederzufinden. Sollte sich der Mann aber uneinsichtig zeigen und sollte er sich gar zu der Drohung versteigen: Sie geben die Lampe her, Herr Kammergerichtsrat, oder ich hänge Ihnen einen Prozess an! – so würde ich zu ihm sprechen: Lieber Mann, Sie dürfen gerne meine Krone mitnehmen. Sie ist mir den Frieden meines Hauses wert. – Denn –«, setzte mein Vater milde lächelnd hinzu, »denn ich bin ein alter Richter und weiß, daß Prozesse Menschenfresser sind. Sie verschlingen nicht nur Geld, Glück, Frieden, sie verschlingen auch oft die Prozessierenden mit Haut und Haar.«

Oder aber mein Vater erzählte vergnügt von einem alten Amtsrichter im Hannöverschen, bei dem er als Assessor fungiert hatte. Zur damaligen Zeit lag es dem Richter noch ob, vor Beleidigungsklagen einen Sühnetermin abzuhalten. Jeder Richter weiß es, wie verhaßt solche Termine und Prozesse sind, wie sich aller menschliche Unflat, der sonst in dunklen Winkeln verborgen liegt, dann in der Gerichtsstube breit macht, mit einem üblen Geruch, der dem Richter mehr als diesen einen Tag vergällen kann.

Jener alte Amtsrichter nun hatte eine einzig dastehende Art, die streitenden Parteien zu einem Vergleich zu bringen. Er war ein Mann, der nicht nur die Wärme, sondern noch mehr die Hitze liebte, er hätte ganz gut einen der drei Männer aus dem feurigen Ofen abgeben können.

Stand nun ein solcher Sühnetermin an, so befahl er dem Gerichtsdiener, sei es nun Sommer oder Winter, den riesigen Kachelofen im Gerichtszimmer gewaltig zu heizen. Um diesen Kachelofen lief eine lange Ofenbank, und auf diese Ofenbank setzte der Richter die streitenden Parteien recht hübsch nebeneinander und ermahnte sie, ehe es zur Verhandlung komme, sich noch einmal alles gründlich zu überlegen, er habe noch ein Weilchen mit seinen Akten zu tun.

Damit vertiefte sich der Richter in sein Aktenstudium, tat aber von Zeit zu Zeit einen listigen raschen Blick auf die Parteien, freute sich, wenn sie an der glühenden Ofenwand unruhig hin und her zu wetzen anfingen, wenn ihre Gesichter immer röter wurden und sich mit Schweiß bedeckten, und scheuchte Unruhige, die auf und ab zu wandeln begannen, mit einem Wort auf ihren Platz zurück.

Schienen ihm dann die armen Sünder genügend angebraten, so hob der Richter den Kopf und fragte, ob sie sich alles gut überlegt hätten und ob sie sich nicht doch lieber vergleichen wollten. Stieß er auf ein Nein, so sagte er gutmütig: »Nun, die Sache ist wohl noch nicht spruchreif, überlegt es euch noch ein bißchen!«

Und von neuem verschwand er hinter seinen Akten. In besonders hartnäckigen Fällen wurde auch noch nach dem Gerichtsdiener geschellt und Nachheizen im Ofen befohlen, denn es sei so bodenkalt in der Stube, und er, der Richter, leide an kalten Füßen. Aber solch ein äußerster Schritt war nur selten notwendig, und mein Vater versicherte, während der Amtsdauer dieses Richters sei es nie zur Erhebung einer Beleidigungsklage gekommen. Ja, als sich die Praxis des Richters erst in seinem Bezirk herumgesprochen hatte, seien sogar die Sühnetermine selten geworden, denn es lohne sich ja doch nicht, um einen ›Esel‹ oder eine ›Sau‹ vor Gericht zu gehen, man müsse sich doch immer vergleichen!

Zu meinem derart über Prozesse in eigener Sache denkenden Vater kam eines Tages ein Onkel von mir, der Oberstleutnant a. D. Albert von Rosen, der in einer ansehnlichen Villa in einem Harzstädtchen mit seinem Eheweib, der Schwester meines Vaters, die alten Tage recht angenehm verbrachte. Onkel Albert kam dieses Mal aber nicht in angenehmer Stimmung, im Gegenteil, mein Onkel war sehr erbittert und durchaus gesonnen, einen Prozess zu führen, für den er den Rat meines Vaters wollte. Der Bericht aber, den Onkel Albert erstattete, war etwa folgender:

War das liebe Weihnachtsfest vorüber, das natürlich auf gut deutsche Art in deutschen Landen gefeiert werden mußte, und fing der weiße Winter an, in Nässe und Nebel auszuarten, so wurden alljährlich bei Onkel Albert die Koffer gepackt. Es ging in Gegenden, wo die Sonne schien: an die italienische oder die französische Riviera, nach Cannes oder Mentone, nach Nizza oder San Remo.

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