Damals bei uns daheim

Текст
Читать фрагмент
Отметить прочитанной
Как читать книгу после покупки
Шрифт:Меньше АаБольше Аа

Dann begann meine Phantasie zu arbeiten, und ich stellte mir vor, was das überlebende Puppengesicht nun wohl tun würde. Die Frage, was er mit seiner Pistole tun sollte, beschäftigte mich sehr. Würde er sie zu der andern legen oder sie offen in der Hand nach Hause tragen? Wie kam er überhaupt nach Haus? Selbst wenn dies der Grunewald war, also nächste Nähe Berlins, schien mir seine Kleidung für einen Spaziergänger doch zu auffallend, auch wenn es ihm gelingen sollte, die Pistole in den Schößen seines Rockes zu verbergen.

Ich prüfte jede Einzelheit des Panoramas, es fand sich aber nicht die geringste Andeutung auf Sekundanten, einen wartenden Wagen. Aber – würde er überhaupt fliehen wollen? Oder würde er sich stellen? Ich wußte vom Vater, daß diese Art der Tötung beinahe erlaubt war. Es gab »bloß« Festung dafür, und Festung war nichts Ehrenrühriges. Ich überlegte mir, was ich in der Lage des Lockenbartes tun würde, aber ich wußte es auch nicht ... Am besten fuhr man wohl rasch nach Hamburg und wurde Schiffsjunge, aber wenn man ein Monokel trug und einen Vollbart hatte, konnte man wohl kaum Schiffsjunge werden ...

Ich hätte wohl noch lange vor der Wachsfigurengruppe gestanden. Aber Hans Fötsch stieß mich an, und wir gingen weiter, auf das Schloß zu. Währenddessen erzählte mir mein Freund mancherlei aus dem Panoptikum. Es gab »saublöde« Sachen darin wie Schneewittchen mit den sieben Zwergen, so richtiger Weiberkram im offenem Haar und rosa Schleifen am Kleid, aber es gab auch eine Schreckenskammer zu sehen (für einen Groschen extra) und ein anatomisches Museum (zwei und einen halben Groschen extra), in dem man ganz genau sehen konnte, wie verschieden Männer und Frauen gebaut waren. Bei diesem Umstand verharrte Hans Fötsch mit einer gewissen Hartnäckigkeit, fand aber bei mir wenig Aufmerksamkeit. Dieses interessierte mich (noch) nicht. Immerhin faßte ich den Entschluss zu äußerster Sparsamkeit in den nächsten Wochen, um eines Tages viel an Kastans Panoptikum verschwenden zu können.

Das Schloß lag grau und düster unter dem grauen und düsteren Novemberhimmel. Unser Kaiser, den wir nach Berliner Gewohnheit nur SM – Abkürzung für Seine Majestät – nannten, war mal wieder unterwegs, keine Kaiserstandarte wehte auf dem Flaggenmast. Nun, es war kein Wunder. Nicht umsonst hieß er der Reisekaiser, er hielt es nirgendwo lange aus. Die Fanfare seines Autos Tatü! Tata! klang all seinen Untertanen mit »Bald hier, bald da!« in den Ohren.

Nach einem kurzen Zögern entschlossen wir uns, in ganz unbekannte Gegenden vorzustoßen, der Turm des Rathauses der Stadt Berlin, des Roten Schlosses, winkte uns. Wir folgten diesem Wink und pilgerten weiter bis zum Alexanderplatz, von wo uns der Zufall in das Scheunenviertel trieb.

Diese Unterwelt, die wir hier betraten, erregte unser lebhaftes Staunen, von diesem Berlin hatten wir noch nichts gesehen. Das ganze Leben seiner Bewohner schien sich auf der Straße abzuspielen, alles stand dort herum, in den unglaublichsten Aufzügen, schnatterte, stritt miteinander ... Jüdische Händler im Kaftan mit langen, schmierigen, gedrehten Löckchen, Kleider über dem Arm, strichen durch die Menge und flüsterten bald hier, bald dort Anpreisungen. Vor einem Kellereingang saß ein dickes, schmieriges Weib, hatte den Kopf eines jaulenden Pudels zwischen die Beine geklemmt und schor ihm mit einer Art Rasenschere den Hinterteil.

Und überall gab es Händler. Händler mit heißen Würstchen, mit »Buletten« aus prima kernfettem Roßfleisch, das Stück 'nen Sechser, mit Schlipsen (der janze Adel trägt meine Binder!), mit Seife und Parfüms. An einer Ecke prügelten sich ein paar Kerle, umringt von einem Kreis von Zuschauern, die, trotzdem schon Blut floß, weiter höchst amüsiert blieben. Mir, dem Juristensohn, fiel zuerst das völlige Fehlen von »Blauen« auf, von Schutzleuten also.

In diesen engen Gassen schien ein aller Ordnung und Gesetzmäßigkeit entzogenes Leben zu herrschen. Bisher hatte ich fest daran geglaubt, daß, was in der Luitpoldstraße galt, mit geringen, durch die Stufen reich und arm bedingten Abweichungen überall galt. Hier sah ich nun, wie der eine Kerl sich über den zu Boden gestürzten Gegner warf, der kaum noch bei Besinnung war, und ihm unter dem johlenden Beifallsgeschrei der Zuschauer immer wieder den blutigen Kopf gegen das Pflaster schlug.

Es wurde uns unheimlich, wir machten, daß wir davonkamen. Aber an der nächsten Straßenecke hielt uns ein Kaftanjude an, flüsternd, in einem kaum verständlichen Deutsch schlug er uns vor, ihm unsere Wintermäntel zu verkaufen. »Zwei Mork das Stück! Und eurer Momme seggt ihr, ihr hebbt se verloren ...«

Dabei fing er schon an, mir meinen Mantel aufzuknöpfen.

Mit Mühe riß ich mich los, Fötsch und ich fingen an zu laufen. Aber das war nicht richtig. Denn nun fing die Jugend an, auf uns aufmerksam zu werden. Ein großer Junge, den ich angerannt hatte, rief: »Du bist wohl von jestern übrig jeblieben –?!« und gab damit das Signal zu einer Jagd auf uns.

Wir rannten, was wir konnten, durch ein Gewirr von Gassen und Sträßchen, ratlos, wann und wo dies einmal ein Ende nehmen würde. Eine ganze Horde stürzte schreiend, lachend, hetzend hinter uns her. Ein großer Kerl, durch den Lärm aufmerksam geworden, schlug nach Hans Fötsch. Aber der lief weiter, nur seine Mütze fiel verloren auf das Pflaster. Bei meinem Annähern zog eine Frau, die vor ihrer Tür an einem Strumpf strickte, sachte die Nadel aus der Strickerei und stach damit nach mir, mit der gleichgültigsten Miene von der Welt. Nur ein Sprung rettete mich ...

Ich lief, was ich laufen konnte, wie ich noch nie gelaufen war. Ich wußte, hier galten weder Beruf noch Ansehen meines Vaters etwas, das doch in der Luitpoldstraße alle respektierten, hier galt es auch nichts, daß ich ein Gymnasiast war ... Hier galten jetzt nur meine Beine. Ich! Ich selbst!

Und ich ließ die Beine laufen, immer einen halben Schritt hinter Hans Fötsch lief ich, mit keuchender Brust, mit Stichen in Herz und Brust, rannte immer weiter ... Und so wirklich auch die Schmerzen waren, so wirklich die Verfolger uns auch immer näher rückten, so unwirklich kam mir doch alles vor. Es war wie ein Schreckenstraum, es war doch unmöglich, daß ich, der Sohn eines Kammergerichtsrates, hier in der Kaiserstadt Berlin um meine heilen Glieder, meine Kleider lief. Ich brauchte nur anzuhalten, die Verfolger heranzulassen, und alles würde sich mit einem Lächeln aufklären. Gefahr gab es nur in den Büchern, bei Karl May, Cooper und Marryat, nicht hier in Berlin, nicht für uns ...

Gottlob lief ich trotz all dieser Unwirklichkeitsgefühle ganz wirklich weiter, und schließlich fand denn auch Hans Fötsch durch Zufall einen Ausgang aus dem Gewirre des Scheunenviertels. Aufatmend hielten wir auf einer breiten Straße an, in der jetzt schon die Gaslaternen brannten.

Wir lehnten uns in einen Hauseingang und spürten mit Zufriedenheit das langsamere Schlagen des Herzens, das ruhigere Atmen der Brust. Nach einer langen Zeit sagte schließlich Hans Fötsch mit einem tiefen Seufzer: »Na, weißt du –!«

Ich stimmte ihm bei. »Ich hätte nie gedacht, daß es so etwas geben könnte! Und noch dazu in Berlin!«

»Das war das Scheunenviertel«, erklärte Fötsch. »Vater hat mir davon erzählt. Da trauen sich Große nicht mal bei Tage rein. Dadrin leben bloß Verbrecher.«

Dies mußte ich als Juristensohn besser wissen als der Arztsprössling.

»Das ist ausgeschlossen, Fötsch!« sagte ich. »Alle Verbrecher kommen immer gleich ins Gefängnis oder Zuchthaus. Ich will meinen Vater mal fragen, ob es so etwas überhaupt geben darf.«

»Deinem Vater sag lieber nichts, daß wir da drin gewesen sind. Sonst macht er Klamauk, und mit unserm Spazierengehen ist es alle!«

»Ich werd' so tun, als hätt' ich davon nur gehört.«

»Laß das lieber bleiben!« warnte mich Fötsch. »Du verquatschst dich bei sowas immer. – Und überhaupt ist es jetzt höchste Eisenbahn, daß wir nach Hause kommen. Was ist die Uhr? Halb sieben! Und ich sollte um sechs zu Haus sein!«

»Ich auch! Komm, laß uns laufen, Fötsch!«

»Laufen?« fragte er. »Was denkst du denn, wie lange wir laufen müssen, von hier bis nach Haus? Doch mindestens zwei Stunden! Und ich weiß den Weg auch gar nicht. Nein, wir fahren mit der Elektrischen, wir werden umsteigen müssen. Hast du noch Fahrgeld?«

»Ja, hab' ich noch.«

»Ich auch. Na, dann wollen wir mal sehen. Da vorne an der Ecke scheint eine vorbeizukommen. Mensch, heute Abend hagelt es aber bei uns. Vor acht sind wir nicht zu Haus!«

»Ich sag einfach, ich bin bei euch gewesen, und eure Uhr hat gestanden.«

»Und ich sag's so von euch, daß du Bescheid weißt. – Na, was kommt denn da für eine Elektrische? Mensch, Hans, mit der können wir bis Potsdamer Platz fahren! Los, rein!«

Aber ich stieg nicht ein.

»Warte einen Augenblick«, sagte ich fürchterlich aufgeregt zu Fötsch. »Steig nicht ein! Bitte, nicht! Wir nehmen die nächste! Bitte diese nicht!«

Denn mit mir war etwas ganz Seltsames geschehen. Als ich diese Elektrische näherkommen gesehen hatte, die nicht so aussah wie »unsere« Elektrischen im Westen, mit einem tief herabgezogenen Führerstand, der vorne ein Gitter hatte zum Auffangen Unvorsichtiger, die dem Wagen vor die Räder kamen – da war mir im selben Augenblick eine Notiz in der Zeitung eingefallen, die ich vor ein oder zwei Tagen gelesen hatte. Irgendwo in Berlins Osten oder Norden war eine Elektrische in Brand geraten, es hatte einen Toten und mehrere Schwerverletzte gegeben. Und nun plötzlich, beim Heranfahren dieses Wagens, war ich blitzartig von der Erkenntnis durchdrungen, daß es solch ein Wagen gewesen war, der gebrannt hatte, daß alle Wagen dieses Typs in Brand geraten würden, und daß wir keinesfalls mit einem derartigen Wagen fahren dürften ...

 

Weiß es der Himmel, was da plötzlich in meinem Kopf vorgegangen war! Bis dahin war ich ein wohl schwächliches, oft krankes Kind gewesen, aber von einer solchen Zwangsidee hatte noch nie jemand etwas bei mir bemerkt. Ich wußte natürlich auch jetzt nichts davon. Ich war fest überzeugt, daß ich recht hatte, daß ein Wagen dieser Bauart verbrannt war, daß alle Wagen dieser Bauart verbrennen würden, daß es mir verboten war, in ihm zu fahren ...

Und mit der eindringlichsten Beredsamkeit setzte ich dies alles Hans Fötsch auseinander. Schon beim Reden übertrieb ich. Ich behauptete, eine genaue Beschreibung des verunglückten Wagens in der Zeitung gelesen zu haben, ich wies auf die Merkmale hin: den herabgezogenen Führerstand, das Auffanggitter. Ich behauptete weiter, eine Warnung vor Wagen dieses Typs gelesen zu haben. Ich behauptete, der Wagen eben sei fast leer gewesen. Und in dem Augenblick, da ich diese Behauptungen aufstellte, glaubte ich auch schon an sie. Ich glaubte fest daran, dies gelesen, dies gesehen zu haben. Kein Mensch hätte mich noch in diesem Glauben erschüttern können.

Und so eindringlich war dieser Glaube, daß ich Hans Fötsch fast überzeugte. Er willigte ein, noch eine Elektrische abzuwarten, vielleicht würde die andere Formen zeigen. Aber auch sie kam mit einem Schutzgitter und herabgezogenen Führerstand. Wir ließen sie vorbei. Aber Hans Fötsch lag schon in einem schweren Kampf, was besser sei: noch später zu kommen oder die Fahrt zu wagen. Als auch die nächste Elektrische die gleiche Bauart wie ihre Vorgängerin aufwies, riß er sich von mir los und sprang auf.

»Hier fahren keine andern Wagen!« rief er mir von oben zu. »Ich muß nach Haus! Lauf hinterher, sonst stehst du um Mitternacht noch hier!«

Frierend, hungrig wartete ich noch zwei, drei Wagen ab: sie hatten alle das gleiche Aussehen. Dann entschloß ich mich, dem Rate Fötschens zu folgen und hinter dem Wagen her zu laufen, so lange ich ihn sehen konnte. Dann blieb ich stehen und wartete auf den nächsten. Es war eine anstrengende und zeitraubende Art, den Weg in den Westen zurückzulegen. Aber nicht einen Augenblick kam mir der Gedanke, mein unsinniges Tun aufzugeben. Ich hatte es doch recht sichtbar vor Augen, daß diese Wagen ohne alle Unglücksfälle regelmäßig verkehrten, aber daran dachte ich gar nicht. Ich war ganz im Banne meiner fixen Idee. Ja, als ich in bekanntere Gefilde kam, als Bahnen vertrauter Bauart fuhren, ich stieg nicht ein. Ich durfte nicht fahren, es war verboten. Ich lief weiter ...

Unterdes waren meine Eltern in immer größere Angst und Aufregung geraten. Als es halb sieben und sieben wurde, hatte meine Mutter noch ihre Sorge um mich für sich allein getragen. Später dann, als mit halb acht die Abendessensstunde heranrückte, hatte sie auch Vater benachrichtigen müssen. Vater hatte sofort die Schwere des Falles begriffen. In seinem überaus geordneten Haushalt, in dem schon eine Verspätung von zwei Minuten als Übertretung, von zehn Minuten als Vergehen und von einer Viertelstunde als Verbrechen angesehen wurde, hatte es eine Verspätung von anderthalb Stunden überhaupt noch nicht gegeben! Das konnte nur ein Unglück bedeuten ...

Sofort wurden Boten an all die Stellen ausgesandt, wo ich vielleicht zu finden sein konnte, zu Elbes, Fötschens, Harringhausens, Dethleffsens ... (Es gab wohl schon längst Telefon, aber nicht bei uns, überhaupt bei niemandem, den wir kannten, den Arzt Fötsch ausgenommen.) Mein Vater stieg die Treppe hinunter, sprach sorgenvoll mit dem Portier und veranlaßte ihn, das Haus heute auch noch nach acht Uhr aufzuhalten. Dann ging Vater wartend in der Luitpoldstraße auf und ab, immer das Stück zwischen Martin-Luther- und Eisenacher Straße.

Aber dann trieb ihn seine Ungeduld wieder nach oben. Er fand die ganze Familie verstört, niemand hatte zu Abend gegessen. Mutter war den Tränen nahe. Sie sah mich unter dem Omnibus (Pferdeomnibus bitte!), der Elektrischen, auf der Unfallwache ... Vater redete ihr tröstend zu, aber ohne rechte Überzeugung.

Dann kamen die Boten zurück, ohne Nachricht! Nur das Mädchen, das bei Fötschens gewesen war, berichtete, daß Hans Fötsch auch fehle. (Da der Haushalt Fötsch – wie es bei einem Arzthaushalt ja auch nicht anders sein kann – kein sehr pünktlicher Haushalt war, wurde dies Ausbleiben dort nicht so tragisch genommen.)

In gewisser Weise beruhigte diese Nachricht meine Eltern etwas. Es war viel schwieriger, sich zwei auf einmal verunglückte Jungens vorzustellen als einen. Nachdem aber wieder eine halbe Stunde Wartens ergebnislos verstrichen war, als die Uhr schon fast neun zeigte, entschloß Vater sich, zu Fötschens hinüberzugehen. Dort war indes auch die Sorge eingekehrt. Die beiden Herren berieten sich untereinander und gingen dann, ohne Frau Fötsch etwas davon zu sagen, auf das nächste Polizeirevier.

Aber dort hatte man wenig Trost für sie. Jungens gingen nicht so leicht verloren, meinte der Wachthabende. Nein, irgendeine Meldung von verunglückten Kindern liege nicht vor. Die Herren sollten nur ruhig ins Bett gehen, meist erledigten sich solche Vermisstenmeldungen am nächsten Morgen von selbst ...

Mein Vater war empört. Er glaubte unbedingt an den fürsorgenden Vater Staat (von dem er in seinem kleinen Bezirk wirklich das gütigste und hilfsbereiteste Muster war), und es tat ihm immer in der Seele weh, wenn er im rauen Leben sah, daß dieser Vater manchmal gar nicht sehr fürsorglich, sondern oft gleichgültig, oft ungerecht, oft grob war.

Aber das alles war sofort vergessen, als sie wieder in Fötschens Wohnung kamen. Hans Fötsch war eingetroffen! Mein Vater erwartete, nun auch den eigenen Sohn daheim vorzufinden. Aber schon die ersten Worte des Jungen zerstörten diese Illusion. Zwar versuchte Hans Fötsch zu schwindeln, Ausflüchte zu machen, zu vertuschen, aber sein Vater war nicht gegen Prügel. Es regnete nur so Ohrfeigen, und schließlich erfuhren die Herren zwar etwas wirr, daß Fötsch mich irgendwo im Norden Berlins verlassen hatte, dicht beim Scheunenviertel, mich unbegreiflich weigernd, mit der Elektrischen zu fahren ...

»Komm, Hans, mein Rabe!« sagte Doktor Fötsch bedeutungsvoll, und bei dem nun folgenden Strafgericht war mein Vater überflüssig.

Er mußte heim zur Mutter gehen, er mußte ihr die schlimme Botschaft bringen, daß ich im verrufensten Quartier Berlins zurückgeblieben sei, er mußte ihr sagen, daß sie nichts tun könnten, nur warten ...

Und so warteten die beiden. Vergessen lagen die Akten, die Flickwäsche. Meine Geschwister waren ins Bett gesteckt worden, schliefen darum aber noch nicht. Sie fanden es angenehm erregend, einen verlorenen Bruder zu haben. Alle fünf Minuten erschien die alte Minna, in ihre Schürze schnüffelnd, und erkundigte sich nach Neuigkeiten.

Gegen zehn Uhr endlich klingelte es, meine Eltern stürzten auf den Flur – es war aber nur der Portier, der fragte, ob er das Haus noch länger offen halten solle. Er wäre gerne ins Bett gegangen. Mit einem silbernen Handschlag wurde ihm der Schlaf verscheucht.

Endlich, um halb elf, klingelte es wieder. Vater sagte mutlos: »Es wird noch mal der Portier sein. Gib ihm zwei Mark, Louise ...«

Da hörten sie meine Stimme auf dem Flur ...

Beide Eltern stürzten heraus, sie packten mich, zerrten mich in die Stube, ans Licht.

»Junge, wo kommst du her? – Wo bist du gewesen?! – Weißt du vielleicht, wie spät es ist –?!!«

Diese Fragen stürzten auf mich ein, ich sah wohl die Spuren der Angst in den Gesichtern der Eltern – und ich übergroßer Schafskopf sagte mit gespielter Gleichgültigkeit: »Ich war bei Hans Fötsch – und deren Uhr ist stehengeblieben!«

Batsch! – hatte ich eine Backpfeife links weg. Batsch! folgte ihr eine rechts.

»Warte, ich will dich lügen lehren, du infamer Bengel du!« rief mein Vater und machte mit diesem Ausruf all seiner Sorge, Angst und Kummer Luft. Er sah sich suchend um im Zimmer. Ach, mein armer guter Vater war nicht wie Doktor Fötsch für solche Strafgerichte eingerichtet, er fand weiter nichts als das schöne Weichselrohr seiner geliebten langen Pfeife. Aber mit diesem Rohr verwalkte er mich gründlich, zum ersten- und hoffentlich auch letzten Mal in meinem Leben wurde ich über das Knie gelegt und nach Noten verdroschen. Es war eine überaus eindrückliche Belehrung, die ich nie vergessen habe. Und geschadet hat sie mir bestimmt nicht ...

Und doch wäre vieles in meinem Leben vielleicht anders gekommen, wenn mein langmütiger Vater nicht gerade an diesem Abend die Geduld verloren hätte. Vielleicht hätte ich, nicht so summarisch abgestraft, den Mut gefunden, ihm von meinen Ideen über Elektrische mit Schutzgittern etwas zu erzählen, und vielleicht hätte er dabei doch – obwohl so etwas damals leicht als kindische Albernheit abgetan wurde – aufgehorcht und sich gesagt: »Dahinter steckt etwas anderes, und zwar leider noch etwas Schlimmeres als Unpünktlichkeit und Schwindeln.«

So habe ich meine ganze Jugend hindurch – und noch manches Jahr danach – an diesen immer wiederkehrenden fixen Ideen gelitten, und habe doch damals nie mit einem Menschen darüber sprechen können. Die Gelegenheit war mit jenem Prügelabend endgültig verpaßt.

Manchmal waren diese Ideen vergleichsweise harmlos. So wenn ich stundenlang im Bett wach lag und darüber grübelte: hast du auch einen Punkt hinter dem letzten Satz deines Exerzitiums gemacht? Schließlich mußte ich dann doch aufstehen und nachsehen, und natürlich war der Punkt immer gemacht.

Manchmal betrafen diese Ideen freilich auch Schlimmeres ...

Über die dritte schwere Niederlage aber, die ich durch meine Freundschaft mit Hans Fötsch erfuhr, werde ich im nächsten Abschnitt berichten.

Penne

In der Schule, oder, wie wir sie nur nannten, in der Penne spielte ich zu jener Zeit eine höchst unselige Rolle. Ich ging auf das Prinz-Heinrich-Gymnasium in der Grunewaldstraße, und das war damals ein sehr feines Gymnasium, womit gesagt werden soll, daß dort in der Hauptsache die Söhne vom Offiziers- und Beamtenadel, auch von reichen Leuten die Schulbank drückten. Meine Eltern aber waren für äußerste Sparsamkeit, so kam es, daß ich, war eine Hose durchgerutscht, keine neue bekam, sondern daß meine Mutter ein paar handfeste Flicken in die arg verwundete setzte. Da sie nun aber oft keinen genau passenden Stoff hatte, so wurden ohne erhebliche Hemmung auch andere Stoffe dafür gewählt. Das ist nun gut fünfunddreißig Jahre her, und doch sehe ich diese Hose des Unheils noch genau vor mir: es war eine dunkelblaue Bleyle-Hose, und mit grauen Flicken wurde sie geziert.

Ach, über den Hohn und das Gespött, die mir diese Hose eingetragen hat! Es waren natürlich nicht die wirklich »Feinen« in der Klasse, die mich damit aufzogen. Die übersahen den Defekt vornehm, freilich war ich auch für jeden Umgang mit ihnen erledigt. Fragte ich sie etwas, so antworteten sie mir nur kurz mit geringschätziger Herablassung, was mich tief schmerzte und auch empörte. Aber die andern, die Coyoten der Wölfe gewissermaßen, wie offen und schamlos verhöhnten sie mich! Da war einer, ein langer Laban, über einen Kopf war er größer als ich, Friedemann hieß die Canaille, im Unterricht durch äußerste Unwissenheit ausgezeichnet, schon dreimal bei der Versetzung »kleben« geblieben – aber etwas verstand dieser Bursche ausgezeichnet: mich zu zwiebeln!

Wenn die große Pause gekommen war, die wir alle auf dem Schulhof verbringen mußten, machte er sich an mich heran, bugsierte mich viel Schwächeren in eine Ecke des Hofes, wo wir vor den Augen des aufsichtsführenden Lehrers einigermaßen sicher waren, und begann ein Gespräch mit mir, über Näh- und Flickarbeit etwa. Bald hatte sich ein ganzer Kreis von Zuhörern um uns gesammelt die »Feinen« natürlich nur an seiner äußersten Peripherie. Bei besonders trefflichen Witzen wurde tobend gelacht und applaudiert, Friedemann auch zu noch besseren Leistungen angefeuert.

Ich sehe mich da noch stehen, blaß, kränklich, verzweifelt in meinem Mauerwinkel. Die ganze Penne freute sich ihrer Freiviertelstunde, mir war sie eine Qual. Immer atmete ich auf, wenn es wieder zum Unterricht läutete. Listig versuchte ich, meinen Peinigern zu entgehen. Ach, ich war nicht so überaus listig! Versteckte ich mich beim Beginn der großen Pause im Klassenzimmer, so stöberte mich sicher in den ersten drei Minuten ein Lehrer auf und schickte mich mit einem strengen Verweis auf den Hof, denn wir sollten nun einmal in der großen Pause frische Luft schnappen. Riegelte ich mich aber auf der Toilette ein, so hatte mein Quälgeist das bald heraus. Er trommelte so lange gegen die Tür, bis ich klein beigeben und mich ihm stellen mußte.

 

Oh, wie ich ihn gehaßt habe, diesen langen Friedemann mit seinem weißen, pickligen Gesicht, mit den frechen blassen Augen hinter einer Nickelbrille! Wenn er da mit seiner näselnden, überlegenen Stimme anfing, mich nach meiner Ansicht über Flickschneiderei zu befragen, über die Farbwahl bei Flicken, ob ich Rot nicht für eine wunderschöne Farbe hielte, nein, nicht? Aber vielleicht Grün mit Rot, rechts Rot, links Grün, und ein gelber Flicken vorne –? (Beifallsgejohle der andern.) Mein Vater flickte ja wohl auch meine Schuhe, der Rüster an meinem rechten Schuh sehe ihm ganz danach aus! Da könne man eben nichts machen, es gebe heile Familien und es gebe geflickte Familien. Es sei nur gut, daß ein Exemplar der Flickfamilien auf diesem Gymnasium vertreten sei, als Anschauungsmaterial.

Auf all diese öden und bösen Scherze antwortete ich meinem Quälgeist nie mit einem Wort. Ich starrte ihn nur an, ich starrte den Kreis der Zuhörer an, Verzweiflung im Herzen und doch immer in der Hoffnung, mir werde ein Retter erstehen. Aber nie sprach auch nur einer von den Jungen für mich. Mit all der Grausamkeit der Jugend duldeten sie dieses endlose Verspotten, ermunterten es durch Zuhören, wurden seiner nie müde.

Man hatte damals eben sehr ausgesprochene Ansichten über das, was schicklich war. Und am Prinz-Heinrich-Gymnasium waren geflickte Hosen eben unschicklich, es war nur richtig, wenn mir das begreiflich gemacht wurde! Und meine gute Mutter war ohne alles Verständnis für meine Klagen.

»Sag nur deinen Jungens«, meinte sie, »daß du drei Geschwister hast und daß wir sehr sparen müssen. Berlin ist schrecklich teuer, und Vater geht nicht davon ab, alle Jahre zehn Prozent seines Einkommens zurückzulegen, für Notzeiten. Das kommt euch Kindern allen doch einmal zugute. Nein, dein Anzug ist heil und sauber, wo kämen wir da hin, wenn ich für jede durchgerutschte Hose eine neue kaufen sollte –?!«

Ich sah das ein, und ich sah es doch wieder nicht ein. Ich fand, meine Eltern sollten mich lieber nicht auf eine so feine Schule schicken, wenn sie nicht in der Lage waren, mich wie die andern Jungens zu halten. Ich versuchte auch, meiner Mutter wenigstens anzudeuten, wie sehr ich gequält wurde. Aber das nahm sie nur leicht, das verstand sie gar nicht.

»Das sind so Jungenswitze«, meinte sie. »In einer Woche haben sie es über, dann kommt wieder etwas Neues. Und du bist auch viel zu empfindlich, Junge, du verstehst wirklich schlecht Spaß. Es ist ganz gut, wenn du dich mal an so etwas gewöhnst.«

Aber weder gewöhnte ich mich daran, noch kam etwas Neues, an dem Friedemann seinen Geist hätte laben können. Unerbittlich blieb ich das Ziel seines Spottes. Immer neue Versionen fand er, darin war sein Kopf recht anschlägig, Bis mich in irgendeiner Pause meine Verzweiflung zu einem Angriff auf den viel Stärkeren trieb, ich sprang an ihm hoch, warf ihm die Brille von der Nase und zerkratzte ihm das Gesicht. Er fiel hin, so überraschend war ihm mein Angriff gekommen. Ich lag auf ihm, mit einem Gefühl überwältigender Genugtuung verprügelte ich ihn, und er wagte nicht einen Schlag gegen mich, er, der große starke Kerl gegen mich Schwächling!

Ja, bei dieser Gelegenheit stellte es sich heraus, daß der Verhöhner Friedemann ein ausgemachter Feigling war. Die ganze Klasse sah es, und von diesem Moment an waren er und sein Spott für alle erledigt, das muß ich zugestehen. Er machte Tage später, als er sich von meinem Angriff erholt hatte, noch einen einzigen Versuch, wieder von meinen Flicken anzufangen, aber sofort verwies es ihm einer: »Du hältst die Klappe, Friedemann! Damit ist ein für allemal Schluß!«

Ich hatte mir Duldung meiner Flicken erkloppt, aber damit war noch nicht viel gewonnen. Ich blieb der Außenseiter. In den Pausen wollte keiner mit mir gehen, niemand mochte mein Freund sein. So geriet ich allmählich immer mehr in einen Zustand tiefster Niedergeschlagenheit, der meinen Leistungen im Unterricht nicht förderlich sein konnte. Und ich muß sagen, wir hatten, um das noch zu verschlimmern, damals einige Lehrer, die alles andere, nur keine Pädagogen waren. Jedem durchschnittlichen Beobachter hätte schließlich mein verschüchterter, elender Zustand auffallen müssen, doch nicht diesen Erziehern der Jugend.

Da war unser Deutschlehrer, ein noch jüngerer, mit sehr viel Schmissen gezierter Herr, der eine gewisse Vorliebe für mich hatte. Freilich äußerte er diese auf eine mir sehr peinliche Weise. Da ich zu den schlechtesten Schülern der Klasse gehörte, saß ich in der vordersten Bankreihe, direkt unter dem Lehrerpult. Herr Gräber, so hieß dieser Lehrer, verachtete es, oben auf dem Pult wie ein Gott über seinen Schülern zu thronen. Er begab sich mitten unter sie, wandelte die Gänge zwischen den Pulten auf und ab, stand aber am liebsten vor meinem Platz. Und während er nun von hier seine Knaben lebhaft und mit schallender Stimme unterrichtete, beschäftigten sich seine Hände pausenlos mit meiner Frisur ...

Trotzdem ich damals schon elf oder zwölf Jahre alt war, trug ich noch immer mein Haar lang. Meine Mutter hatte sich trotz all meiner Bitten nicht entschließen können, mein fast weißes Blondhaar der Schere eines Friseurs auszuliefern. So fielen mir lange blonde Locken fast bis auf die Schultern, und in der Stirn hatte ich etwas, das offiziell »Ponnies« hieß, das meine böswilligen Mitschüler aber »Simpelfransen« nannten. Diese Ponnies oder Simpelfransen übten eine geheimnisvolle Anziehungskraft auf die Finger von Herrn Gräber aus. Die ganze Unterrichtsstunde hindurch waren seine Finger nur damit beschäftigt, aus den Fransen Zöpfchen zu drehen, kleine, sehr feste, steif von der Stirn abstehende Zöpfchen. Das hatte wohl den nicht zu unterschätzenden Vorteil, daß Herr Gräber mich nie nach etwas fragte. Für die Deutschstunde war ich stets aufgabenfrei und bekam doch eine gute Zensur. Aber wenn Herr Gräber mich dann beim Schluß der Unterrichtsstunde aufforderte, mich zu erheben, und meinen Anblick der Klasse darbot, wenn dann die unausbleibliche Lachsalve losbrach, so hätte ich lieber eine Fünf statt dieser Heiterkeit hingenommen.

Selbst in meinem damaligen Zustande tiefster Niedergeschlagenheit war ich mir klar darüber, daß dies alles von Seiten Herrn Gräbers ohne den geringsten bösen Willen geschah. Es war reine Spielerei von ihm, in die wohl auch ein Gutteil Nervosität gemengt war. Ihm bedeutete es nur Spaß, und er wäre sicher sehr erstaunt gewesen zu hören, daß ich diesen Spaß gar nicht sehr spaßhaft fand.

Wesentlich böser dachte ich über Professor Olearius, unsern Klassenlehrer, der uns in die Geheimnisse der lateinischen Sprache einführte. Das war ein langer, knochiger Mann, schwarzbärtig, mit einem hageren Gesicht und glühenden schwarzen Augen. Er war ein Altphilologe von reinstem Wasser. Für ihn hatte auf der Welt nur das Lateinische und Altgriechische Bedeutung, und den Schüler, der sich in diesen Sprachen untüchtig erwies, haßte er mit einem ausgesprochen persönlichen Haß, als habe der Schüler dem Lehrer eine schwere Beleidigung zugefügt. Er hatte eine verdammt höhnische Art, die schwächeren von uns aufzurufen und zu zwiebeln, die heute hoffentlich ausgestorben ist.

Da hieß es etwa: »Jetzt wollen wir mal unser Schwachköpfchen aufrufen. Zwar weiß es nichts und wird auch diesmal nichts wissen, aber er diene uns allen zum abschreckenden Beispiel.« Oder: »Der Fallada, der Fallada ist bloß zum Sitzenbleiben da!« Oder: »O Fallada, der du hangest! Wenn das dein Vater wüßte, das Schulgeld würde ihn reuen!«

Купите 3 книги одновременно и выберите четвёртую в подарок!

Чтобы воспользоваться акцией, добавьте нужные книги в корзину. Сделать это можно на странице каждой книги, либо в общем списке:

  1. Нажмите на многоточие
    рядом с книгой
  2. Выберите пункт
    «Добавить в корзину»