Anton und Gerda

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»Und doch! Doch! Ich bin ehrlich gewesen, als ich beschloß, ehrlich, als ich weinte. Nein, nicht aus Reue geweint. Sondern weil ich weiß, daß ich ihr Schmerzen mache, größere noch, nun, wenn ich von ihnen gehe zu jener und all dieses lasse, alles ...

Mach es dir klar, Anton, alles! Keine Bücher mehr und gestorben für die, mit denen du aufwuchst. Ein Dasein wie Kinofilm, Außendinge nur, und was dem blöden Erleben allein Sinn gibt, ist die Liebe, an die wir glauben müssen. Freilich ...

Wie das winkt! Wie sie lockt, jene kleine Wartende dort hinten; das Gefühl, ein Menschenantlitz ganz zu eigen zu haben, sich fortschenken, ewig und immer empfangen ... Und das Gefühl, dies kommt einmal und nie, nie wieder ...«

»Aber warum stehe ich hier? Denke tausendmal Durchdachtes? Warum spreche ich nicht mit den Eltern und eile fort zu ihr, die wartet? Warum nicht? Ist nicht alles beschlossen –?«

»Ah, beschlossen wohl, aber noch wartet das Herz, zögert, hofft immer noch, Äußerstes bliebe erspart, wartet ... O ich kann nicht! Ich will und kann nicht! Ich wage nicht. Und es wird zu spät sein, bald schon zu spät ... und ich warte ...«

»Hier ist dein Frühstück, Tonerl. Iß das Ei nur gleich; es wird grade sein, wie du's magst.«

»Danke schön, Mutti. Und was macht Papa?«

»Er läßt grüßen. Ach, er hat so viel Ärger mit der neuen Klasse!«

»So? Aber ich denke, da ist doch Kunkel drin und Beggerow und Peuß –«

»Grade der Peuß, der ist der Schlimmste! Treibt sich am hellen Tage mit Mädchen rum. Papa hat ihn selber gesehen. Und –«

»Glaubst du, Mama, daß es viel Zweck hat, wenn du mir so was erzählst?«

»O sei nicht böse, Jung. Nein, natürlich. Ich habe vergessen ... Sieh nur, wie schön heute die Sonne scheint. Bald kannst du nun auch wieder –«

»Ja, ja, schon gut! Laß nur. Aber ... das muß ich sagen, tun braucht ihr nicht so, als sei ich ein Schwerkranker. Als Gesunder habe ich das getan! Als Gesunder! Und das Beste war es und das Schönste – . Und daß ihr da so duckerich herumschleicht, mit Getu und halben Worten, das ist gemein von euch! Das ist ...«

»Aber setz dich doch, Tonerl! Setz dich hin. Siehst du, nun hat es dich wieder, nun weinst du schon wieder. Wie dumm von mir, dich so aufzuregen! So, die Decke schön über die Knie. Es zieht immer noch kalt herein. Papa wird schön schelten, wenn er hört, was ich da angerichtet habe! Hast du auch ein Taschentuch! Warte, ich hole ein frisches, dies ist nicht mehr gut. Ja, sehr krank bist du gewesen, das wirkt nach. Lange. Aber dann auf einmal bist du wieder froh, dann ist es der Lebensmut ...«.

»Ja, laß schon, Mama. Und du hast gehört, was ich gesagt habe: das Beste und Schönste ... Übrigens ist es ein Ekel, davon zu reden. Dann wird alles Kitsch.«

»Ein schlechtes Mädchen ist das gewesen. Ein ganz schlechtes!«

»Ja ... ja ...«

»Und Papa hat sich auch nach ihr erkundigt: soviel Liebhaber wie die ... verführt hat sie dich!«

»Bitte, Mama.«

»Und auch der Arzt da – aber das weißt du nicht mehr, da warst du zu krank –, das war ein Kerl, wie gemein der geredet hat –«

»Doch, ich erinnere mich; einen langen Gottvaterbart, nicht?«

»Der mit seinen grauen Zotteln ... und der Kellner in dem Lokal, den hält sie aus ... und mit dem andern Mädchen da, einer Rothaarigen ... man kann es ja gar nicht sagen; daß es so etwas gibt ...! Immer heißt es, wir haben eine Polizei, aber für solche ...«

»Willst du nicht lieber von etwas anderm reden?«

»Aber sagen mußte ich dir es doch einmal, Tonerl, es drückte mir das Herz ab, daß mein reiner Junge mit so einer ...«

»Also ...«

»Und wenn du nicht krank gewesen wärst ..., aber so etwas wittern die sofort ... und dann sind sie hinterher wie die ...«

»Ich lese jetzt, Mama.«

»Das ist recht. Und bitte, Tonerl, lies jetzt in der Bibel, es sieht gut aus ...«

»Warum soll es gut aussehen?«

»Und es tut dir auch gut. Es kommt nämlich Besuch.«

»Aber ich will keinen Besuch!«

»Doch, dieser freut dich gewiß. Onkel Otto kommt nämlich. Auf der Durchreise –«

»Onkel Otto? Und so ganz zufällig –?«

»Ja, denke dir. In Berlin ist Missionsversammlung, und weil der Umweg über Rostock ja nur klein ist ...«

»Auf der Durchreise –?«

»Ja, und da will er dir zuliebe ... er möchte gern mit dir sprechen –«

»Mama, das hättet ihr euch nun wirklich schenken können.«

»Nein, ich weiß, du wirst dich freuen. Und Papa war auch so dafür.«

»Übrigens ist es egal. Tut, was ihr wollt. Raus kommt doch nichts dabei. – Ich lese jetzt, Mama. Die Bibel für den Onkel Superintendent.«

Onkel Otto

Krachend versank der Onkel in einem Korbsessel, schwoll violett an, räusperte sich und begann: »Heiß haben wir's.«

»Achtzehn Grad.«

»Réaumur?«

»Nein, Celsius.«

»Das ist eigentlich nicht so viel.«

»Nein eigentlich nicht.«

»Ich dachte, daß wir es wärmer hätten.«

»Ja.«

Und der andere stöhnend: »Für einen Frühlingstag ist es schließlich warm genug.«

Nein, es war nicht nur die Abneigung des Mageren gegen den fett Gedunsenen, die den Neffen packte, mehr noch erzürnt war er über diesen, der mit ödem Dreckseich daherkam, fest überzeugt, seine Anwesenheit genüge schon, alles zu schlichten. ›Wie er in den Sessel hineinplatzt, wird er in meine Innerlichkeiten hineinfahren, mit einem öden Schema bewaffnet, das ihm das einzig gültige ist, an dem Zweifel schon verdammenswert. – Und ich bin schwach gegen ihn. Zu sehr habe ich ihn früher bewundert, wenn er auf dem Hofe wirtschaftete, ein widerspenstiges Pferd zuritt, Erntefuder auf die Tenne schob, Säcke zum Boden trug. Wie sanft konnte er sein, dieser Fette, zu einer kalbenden Kuh, zu einem halb ertrunkenen Gössel, fast zärtlich sind diese Wurstfinger, wenn sie den losgerissenen Obstbaum am Pfahle anbinden. Ja, ein Bauer ist er, ein tüchtiger, und fast wehrlos macht es mich, daß ich ihm damals so viel Recht in mir gab. Aber nur daran will ich denken, daß er mir heute als Quäler kommt, mich noch mehr zu schwächen ... und ich dulde es nicht ...‹

»Nein, ich rauche nicht.«

»Wie du denkst. Eigentlich bist du schon in dem Alter, daß du mal rauchen kannst.«

»Nein, danke.«

»Ach natürlich, deine Lungenentzündung. Das ist vernünftig.«

Wütend: »Nein, nicht so. Bitte, gib mir eine.«

»Wirklich? Wie du willst. Genug sind da für uns beide. Und wenn sie alle sind –«

»... kaufen wir neue. Das kennen wir schon. Aber wovon?«

»Wovon –? Na, du bist gut! Vom Gelde.«

»Freilich, vom Gelde. Aber von welchem Gelde –?«

»Welchem Gelde –?«

»Ja, welchem Gelde –?!«

»Das muß man dir lassen, du kannst fragen.« Der Dicke sann. Ja, wirklich, er dachte nach, das Gesicht veränderte sich, das schweinisch Gedankenlose fiel ab; dieses Gesicht zerlegte sich, gliederte sich, Sinn bekam jede Falte, etwas ein wenig Hilfloses und Bestürztes erschien, zugleich eine Hartnäckigkeit, die Vertrauen erweckte.

›Muß ich auch hier noch zweifeln?‹ fragte sich der Junge. ›Vielleicht war mein Urteil vorschnell, vielleicht ist er ein ganz anderer, wie ich meine? Dürfte ich ihn doch verachten, uneingeschränkt, wie viel leichter ... Verachten? Nun werde ich wohl niemand mehr verachten dürfen, fragte ich das nicht einmal? Neinnein, ich will nicht mehr, alles zerfällt, ich entgleite ...‹

Der andere schien sich zurechtgefunden zu haben. »Ach, so meinst du das! Aber mein Superintendentengehalt spielt wirklich kaum eine Rolle. Die Hauptsache ist der Hof, und da arbeite ich.«

»Aber das andere nimmst du doch und, vor allem, bist du!«

»Freilich! Doch woher weißt du, daß es Schwindel ist –?«

(›Au fein! Sieh da! Dumm ist der gar nicht!‹)

»Ich glaube nicht, daß ich etwas von Schwindel gesagt habe.«

»Aber wenn du solche Diskussion nicht wünschest, solltest du dich nicht so weit vorwagen, lieber Neffe. Also –?«

»Gut denn, ich habe es gedacht.«

»Na schön. – Sieh mal, es ist natürlich ausgeschlossen, daß ich dir jetzt in einer halben Stunde meine ganze Entwicklung erzähle, und außerdem: so was glaubt sich erst, wenn man es sieht. Und da denke ich, du wirst nächstens mal ein paar Wochen zu Besuch zu uns herauskommen, schaust du dir das am besten einmal an. Du hast doch keine Bedenken, mich zu besuchen?«

»Nei ... n. Nein.«

»Das beruhigt. Schön. Aber was ich sagen wollte ... laß dir da nur einmal eine kleine Geschichte erzählen, die ich kürzlich erlebt habe. Ist da eine Landarztfrau bei uns, halb Dutzend Gören, er natürlich ganz Darwinist, Haeckelmann, und sie brav in seinem Fahrwasser. Schön, wie das so kommt, der Mann macht dumme Geschichten, verplempert sich irgendwie, schießt sich tot. Und zwei Tage darauf ist die Frau bei mir, sagt: ›Herr Superintendent, so und so, als ich klein war, da hatte ich meinen Glauben, und als dann mein Mann kam, hatte ich seinen Glauben, und das war schön, aber nun, so ganz allein, möchte ich wieder zu Gott heimfinden, es ist doch leichter!‹ Siehst du, da hast du ...«

»Aber, aber ...«, unterbrach ihn Anton erregt, »das ist ja gemein! Diese Schamlosigkeit! Das wechselt man doch nicht wie Wäsche!«

»Diese Schamlosigkeit, lieber Junge, ist eigentlich der einzige Trost auf der Welt. Daß wir nämlichen den Glauben wechseln können und immer neu hoffen. Sonst –«

»Aber doch nicht so! Das ist doch ...«

»Aber das steht augenblicklich gar nicht in Frage. Sondern darum handelt es sich, daß für diese Frau und für tausend andere Menschen jemand da ist, der ihnen hilft. Und wenn er nun selbst mit einer Lüge hilft, er hilft doch!« Plötzlich war da das trübe Gesicht, das vor Antons Blicken verschwamm, wieder ein ganz anderes geworden; ein scharfes, ein junges Gesicht, mit entzückenden Spottfältchen um die Augen, lächelte zart, fragte leis: »Hast du nie einen Menschen aus Liebe belogen, um ihm zu helfen –?«

 

Anton schwieg, aber in ihm schrie's: ›Eben erst! Eben erst die Mama. Daß ich mit ihr weinte ...‹

Und der Onkel, als hätte er gar keine Antwort erwartet, fuhr ruhig fort: »Also sieh mal, selbst gesetzt den Fall, ich löge, was ganz und gar unrichtig ist, wäre auch das noch nicht einmal so schlimm, sondern vielleicht gar von dir zu entschuldigen. Also – kann ich und darfst du in aller Ruhe diese Virginia rauchen, selbst wenn sie von meinem Gehalt gekauft ist.«

Wozu der Onkel fidel und aufgeräumt lächelte, plötzlich wieder der dicke Geistliche. Aber nun verlor Anton den Kopf; dieses Parlamentieren, diese Vorreden hatten ihn ermüdet, seine Aufmerksamkeit abgelenkt, die Angriffstimmung gebrochen, ihn selbst zu einer Verteidigung unfähig gemacht. Und in der Furcht, bei längerem Zuwarten könnten seine Nerven ihn ganz im Stich lassen: »Das ist alles ja ganz schön und gut, aber – wollen wir nicht endlich zum Thema kommen?!«

Onkel Otto glotzte. »Zum Thema?«

»Freilich zum Thema! Denn du willst mir doch wohl nicht einreden, daß du die Reise von Martensdorf nach Rostock gemacht hast, mich davon zu überzeugen, daß du ein – religiöser Seelenhirt bist?«

»Und was sollte denn unser Thema sein? Etwa?«

»Ach Onkel –!« Nun gaben die Nerven wirklich nach, Anton fühlte mit Entsetzen, wie sich alles in ihm entspannte, wie die Tränen in der Kehle würgten, daß er in fünf Minuten schon allem ja sagen würde, nur um allein zu sein ... »Soll ich dich wirklich erst in Gang bringen? Habe etwas Mitleid! Mit meinen Nerven ...«

»Aber ich weiß wirklich nicht ...«

»Schon gut! Schon gut! Dann eben nicht! Aber ich mache dich darauf aufmerksam, Onkel ...« (›O wie häßlich schreie ich! Ich darf doch nicht so abscheulich kreischen!‹) »Ich mache dich darauf aufmerksam, daß ich beim ersten Worte über Gerda das Zimmer verlassen werde und ...«

»Gerda! Welche Gerda –?«

»Welche Gerda! Tue doch nicht, als seist du vom Monde! Aber ich komme nicht wieder! Ich komme nicht wieder! Bestimmt nie!«

Und da war das Weinen da, würgte in der Kehle, schnellte die Schultern hoch, krümmte den Leib, aber dieser Wutteufel raste weiter in ihm, zwang ihn zu wilden Gebärden, zwischen Schluchzern hervorgeschnellten Ausrufen: »Wie ihr mich alle elendet! Laßt mich doch in Ruhe! Ich mag dies nicht mehr. Ich will ...« Und er weinte, floß aus darin, schwemmte fort und hörte doch so gierig auf die ruhig behutsame Stimme des andern, der da leise auf und ab ging und gar nicht zu ihm zu sprechen schien.

»So ist das! Aber es ist zum Bangewerden. Hat man sich geschnitten, so wird die Wunde verbunden und das Glied geschont, hat man aber in seiner Seele eine Wunde, so sticht alles hinein. Das heißt, es scheint nur so, aber es ist gleichgültig, ob es so ist oder scheint: weh tut es allemal. Wenn wir nicht ganz mit uns im Gleichgewicht sind, wenn da eine schwache Stelle in uns ist, so fällt alles Erleben auf diese Stelle und vergrößert den Schmerz. Und ein Wunder bleibt es, daß so eine Stelle je wieder ausheilt, aber das tut sie, wie ist nicht zu erklären, eines Tages ist sie heil ...«

Der Dicke hielt inne, wandte sich zum Fenster, und nun sprach er, schien's, zu dem Blütenast draußen: »Jedenfalls kann ich dir die Versicherung geben, daß ich von einer Gerda nichts weiß. Deine Eltern haben mir geschrieben, dir ginge es schlecht, du seiest krank gewesen, auf eine schriftliche Einladung würdest du doch nicht reagieren, ich möchte kommen und dir zureden. Das ist alles. Da liegt der Brief der Eltern, überzeuge dich selbst. Nein, bitte, ich weiß, was in solcher Lage Mißtrauen tun kann. Freilich kannst du sagen, der Brief sei zugerichtet und ich eben mündlich instruiert. Aber was hätte es denn für einen Zweck, mich zu instruieren, wenn ich doch nicht über das Thema reden will? Und ich will nicht. Vielleicht, daß du einmal willst, dann bin ich natürlich bereit. Jedenfalls habe ich deine Zusage für Martensdorf. Was meinst du zu Montag? Na schön. Und nun mach dich zum Essen zurecht; wir essen doch gemeinsam?«

Der Onkel ging. Doch in der Tür drehte er noch einmal um und sagte, nebenbei: »Vielleicht denkst du einmal daran: ›Es ist doch leichter so!‹ Was –?«

Da wußte er die Antwort: »Aber es soll nicht leichter sein!«

Der Traum

Zum Waschbecken ging er, beugte sein Haupt vor, ließ Ströme des Kühlen über das Glühende gleiten, doch immer von neuem brannte sie heiß hindurch, die Haut, und die gesuchte Linderung wich dem Drängenden aus. Da ging er zum Sofa, ausgehöhlt von einer Unruhe, für die er keinen Namen und nicht einen Grund wußte, lehnte sich zurück und versuchte einzudämmern. Das Ticken der Weckuhr vermurmelte, die Geräusche wurden flach, als strichen Hände darüber hin, sie abzuschleifen, dann schwoll das Ticken an, wurde hart, laut, lauter, nistete sich in sein Ohr, bekam Rhythmus, Wortlaut selbst, und nun hackte es in ihm: Ich muß ja – zum Essen gehen! Ich muß ja – zum Essen gehen!

Aber die Hitze wuchs, noch mehr zerrte die Unruhe, warf den Körper hierum, dorthin. Dort war wie Linderung, und da er den Atem stiller gehen ließ, schien's der Wind vom Fenster zu sein, der so kühlend sich auf die Wangen legte, die Lippen weich und still machte. Das Verlangen wuchs aus Wunsch zum Willen, ihn zu spüren, diesen Kühlewind, über die ganze heiße Dehnung und Verschwellung des Leibes: da zerrte er schon an den Knöpfen, riß an Haken, warf alles zurück, das Weiße der Wäsche und das Schwarze der Kleider, glitt auf das Sofa und dehnte sich befreit.

Und nun blies der kühlende Wind über heilsam erschauernde Haut. Nun glitt es wie Streicheln des größten Atems über das verhetzt Erhitzte, und die Güte einer nicht liebegebundenen Weltseele war's, die allein so kühlen konnte. Hinter den schmerzenden Augendeckeln glomm ein kleiner Traum auf, ein Julitraum von Glück, unklar, verschwommen zuerst, doch nun unterschied er belaubte Zweige, die gefiederten Blätter eines Walnussbaums, eine weiße Bank darunter, Rosen rankten, Geißblatt fiel von Fichtenstützen, ein Bienenhaus ... Und über eine sanfte Wiese gingen zwei, verschränkter Arme, beide in Weiß; mit ihrem Haar wehten die Birkenäste, Blumen huschten und erblühten zwischen den Schritten, ganz in der Ferne riefen Hörner, und ewige Wolken reisten stetig und langsam im Blauen über den besonnt glänzenden Häuptern.

Näher kamen sie, nun unterschied er die beiden einander zugeneigten Gesichter, seine Hand hielt ihr Haupt im Nacken – und er kannte die Hand. Sein Gesicht neigte sich über das ihre – und er kannte dies Gesicht. Ein seliger Abglanz schwoll auf beiden wie ein endlos ausgehaltener, immer aufs neue verstärkter Orgelton ... Nun wehten ihre Wimpern, vom Lippenhauch gestreift, zu, so nahe, daß er erschreckt zurückfuhr, aber es war, als fiele ein endlos seliger Vorhang über eine herrliche Landschaft, fiel, fiel – Engel jubilierten –, war meergrün, wechselte in tieferes Blau, fiel, fiel, wechselte in Schwarz, ward ganz dunkel, daß er nichts mehr sah, nur die Ahnung dieses endlosen, rasenden Sturzes war noch da und eine Stimme rief: »Mittagessen!«

»Ja doch!«

»Mittagessen!«

Er erhob sich langsam, taumelnd. Durch das Zimmer lag ein breiter goldener Sonnenbalken, in dem Stäubchen tanzten, fielen; er endete bei dem gebrannten Spruchsegen, und mechanisch las Anton die Worte: »Der Herr ist meine Zuflucht, die Liebe aber mein Berg Tabor.«

»Die Liebe aber mein Berg Tabor –? Seltsam. Was heißt das –?« fragte er sich grübelnd, als er treppab stieg. Dann kam ihm die Idee, daß er träume, noch nicht ganz wach sei, denn seine Gedanken und selbst die Dinge um ihn schienen sonderbar verändert, – und selbst die Treppenstufen, auf denen er hinabstieg, waren nicht mehr hölzern, sondern ein Gewachsen-Wachsendes, das im Begriffe stand, unter seinem Fuß Laut zu geben und ein Unerhörtes zu sprechen. Die grüne Samtportiere verweilte auf seiner Schulter, ihr Gewebe schien sich zu lösen, nein, es war, als ginge er durch sie hindurch, ließe seinen Leib durch sie hindurchstreichen und schlösse sich hinter ihr wieder auf eine magische Art, unbeschädigt und doch verändert, als sei seinem Leib nun ein Partikel jener Schultern infiziert, die schon durch den Vorhang geschritten, ihn gestreift, ihn hastig, ihn gleichgültig zurückgeschlagen hatten.

Aber nun war er im Speisezimmer. Die andern saßen schon da, am Kopfende des Tisches der Onkel, neben ihm links und rechts Mama und Papa, unten sein Platz frei. Sie sahen nicht auf, blickten in ihre Suppenteller, in denen etwas Rötliches schwamm, und so konnte Anton unbemerkt seinen Stuhl erreichen. »Ach, Tomatensuppe«, sagte er, zum Löffel greifend.

»Ganz recht«, setzte der Onkel ein, als habe er diese und grade diese zwei Worte erwartet, »dies ist der gekochte Saft und das gekochte Mark des Liebesapfels, auch Tomate genannt.« Und er griff in die Tasche seines faltigen Rockes, zog eine dunkelrote Tomate hervor und zeigte sie zwischen zwei Fingern hoch.

Doch der Vater griff danach, hielt sie vor sich hin, genau wie der Onkel, blickte starr darauf und fuhr fort: »Eines der wenigen zur Familie der Nachtschattengewächse gehörenden Pflanzenreises, dessen Früchte ungiftig, ja, dem menschlichen Gaumen zuträglich und angenehm sind.«

Doch schon war die Mama an der Reihe: »Man macht diese zuträgliche und angenehme Suppe mit Mehl sämig – ich nahm das knistrige Kartoffelmehl ...«

›Wie verrückt reden sie, wie verstiegen!‹ dachte Anton. ›Oder ist es vielleicht ihre Art so? Beobachte ich heute nur besonders scharf? Es kam mir schon vorhin so vor – ah, ich bin daran!‹

Zwischen Zeigefinger und Daumen drehte er den rötlichen Apfel, dessen Haut seidig und kühl, geheimnisvoll unter seinen Fingern strammte und wich, als ein Automat in ihm losschnurrte: »Das knistrige Kartoffelmehl, das aus der Stärke der Kartoffelknolle gewonnen wird, auch eines Nachtschattengewächses, dessen Früchte oder Beeren hinwiederum durch ihren hohen Solaningehalt giftig sind.«

Die Tomate flog auf den Onkel zu, er empfing sie mit seinem Tischmesser, sie zerteilte sich im Fluge, noch im Fallen streute er auf die saftigen Schnittflächen Salz und Pfeffer, und mit jeder Hand bot er Schwester und Schwager das Gericht. »Man nennt es eine Barbarei, diese Früchte mit Pfeffer ...«, begann er von neuem.

Aber Anton hörte nicht mehr. Sein vom Schnellen der Tomate in die Ruhelage rückkehrender Arm hatte die Messerbank berührt, eine unerwartete Kühle hatte seine Nerven erschreckt, er sah auf den Arm, seine Brust, an sich nieder – rieb seine Augen, atmete einmal ganz tief, aber es blieb, wie es war: er saß splitterfasernackt am häuslichen Mittagstisch!

Sein erstes Gefühl war: aufspringen, davonlaufen; doch wie leicht konnten sie dann aufschauen, seine Blöße entdecken. Unglaublicher Gedanke: sie hatten noch nichts gemerkt! Nein, es schien so. Der angstvoll und scheu Aufblickende sah gleichmütige Mienen, unbeschäftigte, alltägliche, aber doch wie aus der Alltagsbasis verschobene ..., er hörte die seltsam verstiegenen Worte, die mit abseitigen Ausdrücken glatteste Alltäglichkeit verbrämten, und er tastete nach der Serviette – »Gott sei Dank, die ist wenigstens da« –, schlang sie um seinen Hals, zerrte sie vorn auf den Bauch hinab und preßte die nackten Arme fest an die Stuhllehne, während eine wilde Unruhe ihn aus dem Zimmer jagen wollte, indes ihm sein Verstand das Bleiben befahl. »Es ist sicherer so. Ich lasse sie alle aufstehen und hinausgehn. Und dann schleiche ich fort.«

Aber das Fleisch juckte schlimmer, er mußte in seinen Schoß spähen, wo das neue bräunliche Haar so erregend wuchs, ein Muttermal am Oberschenkel saß höhnend grell dort. Ein Gefühl wuchs, als habe er allein die Schmach und Schande, so nackt sein zu müssen: ein haarloser, kärglicher Leib, spärlichen, ungesund gelblichen Fleisches, indes doch die andern – alle! alle! bekleidet seien, Kleidermenschen selbst ohne Kleider, und die Schmach solcher Nacktheit allein für ihn bereitet sei.

»Mann!« sprach die Mutter, »unser gemeinsamer Sohn Anton ißt seine Taube nicht, obschon es eine junge Taube ist.«

»Verzehre sie, Anton, verzehre sie immerhin.«

Aus weiter Ferne drangen diese Worte zu ihm, er lauschte auf die Nähe, die Tür hinter ihm hatte ein leises Geräusch gemacht; nun strich es heran, behutsam, sacht, streifte ihn seidig, und neben dem Onkel saß sie am Tisch, sie! Gerda! Neigte ein wenig das Haupt und lächelte.

 

Doch dies seltsame Mahl ging fort, niemand schien jemanden zu sehen, immer sprach einer und spickte seine Sätze mit entlegenen Worten, die niemand hörte außer dem angstvollen Anton, sondern jeder nur Automat seiner selbst, der sein Sprüchlein knarrte und schwieg ... Sprüchlein knarrte und schwieg. Schauer liefen heftig über Antons Leib, sein Blick trübte sich, er konnte nicht mehr unterscheiden, ob jemand ihn vielleicht doch angesehen, die Serviette ging auf, fiel in den Teller, färbte sich fettig braun, und da war es, als habe ihm Gerda rasch und verstohlen zugezwinkert. Er sah hin: nichts. Aber dies Zwinkern wiederholte sich, es sprang aus dem Winkel, die Facetten der Lampe zwinkerten blau auf und erloschen, über das Gesicht des Onkels lief ein boshaftes Zucken, als könne er Lachen nicht ganz mehr unterdrücken; des Vaters Klemmer stürzte in das Kompott, wütend riß er ihn an der Schnur heraus, schleuderte den spritzenden von sich, und wie ein Vogel ritt er durch die Luft auf Gerda zu, die ihn gleichmütig einfing, ihren Seidenrock hochnahm und daran abrieb. Der Vater zerrte an der Schnur, er flog zurück auf die Nase des Herrn, von der kleine zuckende Rinnsale zum Munde liefen.

Laut klagend rief die Mutter: »Er ißt nicht! Unser gemeinschaftlicher Sohn, Gatte aller Gatten, ißt nicht!«

Kalt sagte der Vater: »Seiner Nacktheit schämt sich wohl das Kind.«

Der Onkel brummte: »Auf eure Leisten aber werde ich Geschwüre setzen und auf eure Lenden das Horn des Herrn«, wozu Gerda schrill lachend über den Tisch jubelte, mit den Händen applaudierend.

»Ich bin verraten!« schreit Anton klagend und springt auf. Die Serviette ist zurückgeglitten: er ist nackt, er ist nackt! Alle starren auf ihn, ihre Gesichter haben etwas gespenstisch Bekümmertes ... Und er fühlt mit Schrecken, wie sein Fleisch sich rührt, er muß fliehen, sonst geschieht Unglück – gleich! gleich! –, aber seine Füße kleben am Boden, er kann nicht ... Ein wahnsinniger Taumel jagt durch ihn ...

»Gerda! Gerda, sieh weg!« schreit er jammernd.

Aber sie blickt auf ihn, blickt mit diesen ruhevollen grünen Augen ein wenig traurig auf ihn, der sich zu fliehen bemüht, seine Blöße bedecken will, seine Geilheit kaschieren und sich immer schlimmer preisgibt ...

Blickt auf ihn ...

Auf ihn ...

Eine Stimme schreit: »Mittagessen! Anton! Höchste Zeit! Mit – tag – essen!«

Er blickt um sich: angekleidet liegt er auf dem Sofa, und sein Blick fällt auf das Spruchband: »Der Herr ist meine Zuflucht für und für.«

Angst

Im Zimmer stand er. Sah an sich hin, zitternd. Eine Angst verzog sein Gesicht, wie ein kümmerliches Lächeln war es. Angst, als würde sich alles um ihn in dieser Sekunde noch verwandeln: Tisch, Stuhl, das Sofa, und er nichts mehr erkennen. »Was geschieht mit mir –?« fragte er leise.

»Wie hat sich die Welt gewandelt seit jener Nachtstunde? Bin ich nirgend mehr zu Haus? Fremd, fortgegeben, eine sinnlose Welt?«

Worte des Betens wollten ausgehn aus seinem Mund, aber ihr Sinn staute sich im Hirn, lag wie Blöcke dort, verwirrend, und er irrte um sie.

Da ließ er sich fallen. Vor so entfremdeter Welt fiel ab von ihm die Kraft seines Verlangens, sein Sehnen zerbrach, und es blieb nur das eine, dieses: Hinabstürzen in das Esszimmer, zu den Eltern, zum Onkel, seine Hände fassen und flehen: »Ich will reisen mit dir! Sofort reisen!«

Und der Onkel sprach sanft: »Aber gewiß doch, Junge. Wir fahren noch heute. – Und nun wollen wir uns stärken,«

Worauf er das Tischgebet absang.

Im Garten

Besonnt lag der Garten. Die kleinen Vögel liefen hurtig durch seine frisch und dünn belaubten Zweige, die Bienen zogen zu den blühenden Johannisbeersträuchern, der leise Westwind verlor sich in den Gängen voller Gras dem Flusse zu. Hier, wo im trocknen Boden die Hühner ihre Sandnester gescharrt hatten, lag Anton, auf dem Rücken, nach den Wolken blinzelnd und wundersam erwärmt von der Sonne, die immer noch eine tiefere Stelle seines Leibes zum Einnisten und Einkuscheln zu finden schien. So war es schön! Die kleinen gezackten Blätter des Stachelbeerstrauchs tanzten leise über ihm, die Sonne wärmte Gesicht und Hände, und rechts unten, wo Erlen standen, sprach immerfort der Fluß seine nahen Worte.

Hier, dem so Liegenden, war es unmöglich zu glauben, daß es Stadt, enge Gassen, in die schwer und naß Dunkelheit einbrach, daß es solch alles gebe; Welt war frei, besonnt oder überwölkt, und völliger Nonsens war's wohl zu glauben, neben der Weinhandlung hause der Papierfritze, dann der Optiker, und hinter ihm tue sich der bunt bemalte Flurschlund der Bar auf ..., da doch ein Hochblick belehrte, an den Garten stieße Sommerung, dann Wiese, dann ein grasiger Hügel, dessen Schopf Birken waren, und dann der Himmel mit Wolken, mit Glanz und, nächtens, dem flimmernden Gepunkte endloser Sterne ... Unmöglich, anders zu denken, denn dieses allein war Natur, hier verlor man sich in der Harmonie erdhaften Gewelles, und nie doch war man verloren. Eines allein, Mitgebrachtes von dort hinten, wo Erde Ende hieß, war geblieben und wert zu bleiben: das sanghaft wellende Gestrophe von einem Halbhundert Versen, die man sich vorsprach, tief drinnen, und die einen weiter machten, ausgesponnen und die atmende Brust in einen Takt mit tanzendem Blatt und Streichelwind. Guter Frühling, der im Vorsommer wächst!

Nun läuten die Glocken. »Richtig, es ist Sonntag heute, und es war so schön und friedlich, wie's nur an einem Alltag auf dem Lande sein kann. Aufstehn –? Kirchegehn –? Ach bah!«

Aber die Büsche rauschten, ein paar Zweige tanzten, und Cousine Inge fragte: »Nun, Anton? Und die Kirche? Mach schnell! Alle warten.«

»Ach, weiß du, ich glaube, Ingerl, ich bleib liegen.«

»Aber Vater schilt.«

»Das tut er auch so. Bleib auch schon. Hier ist gut sein. Meine Mutter ist die Sonne, und ich weiß, sie hat mich lieb.«

»Kirche ist dumm. Darf ich auch hier liegen?«

»Immerzu. Nein leg dich dorthin, an den Apfelbaum, und sieh zum Giebel hin. Recht so.«

»Aber warum?«

»Weil ich dich gern ansehe.«

»Wirklich? Tust du wirklich? Das ist nett von dir, aber –«

»Anton! – Inge!! Inge!! – Anton!«

»Sie rufen uns.«

»Laß sie.«

»Jetzt suchen sie im Garten.«

»Laß sie.«

Er blinzelte nach ihr. Schritte und Rufe kamen näher, etwas streifte die Büsche, prustete, rief schnaufend. Sie lag auf der Seite, Kopf in der Hand, kaute an einem Grashalm, und mit geöffneten Fingern lag die andere Hand still und verhalten im Schoß. Ihre Augen lachten und freuten sich. Über der großen bauschigen Haarflechte, die stracks aus der Stirn zum Nacken gezogen war, wo sie Zopf wurde, saß die breite, weißseidene Schleife, nickte, hob sich, flatterte ein wenig im Wind.

Sie flüstert: »Jetzt sucht er am Fluß.«

»Ssssst!«

Wirklich kommt noch jemand gelaufen, rasch, ruft immerzu: »Herr Superintendent! Herr Superintendent!«

Dann murmelt und schwätzt wieder der Fluß, die Glocken läuten noch einmal, rasch, bimmlig, und in den Fort hall des letzten Klangs sagt Inge: »Nun haben wir zwei Stunden Ruh.«

»Mindestens.«

»Und mittags Schelte, Stubenarrest, und die süße Speise werde ich auch nicht bekommen.«

»Bitter! Bitter!«

»Heute gibt's solche mit Makronen ...« Sie denkt nach, wehmutsvoll bewegt. Plötzlich jubelnd: »Nachher klettern wir am Spalier in die Speisekammer! Machst du mit?«

»Natürlich. Rausgeworfen werde ich doch bald.«

»Das glaube ich auch, Tonerl. Vater meinte heute zu Mama, du seiest noch immer nicht zu ihm gekommen, du seiest verstockt. Und er meinte ...«

»Verstockt? Nicht übel. Und er meinte –«

»Was?«

»Was meinte er noch, Ingraban?«

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