Anton und Gerda

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Horche auf, Kleiner ...

Horche auf, Kleiner. Horche auf mich!

Der Wind geht in den kahlen Bäumen, Rieselregen tropft leise, in der Ferne schlägt eine Uhr – und nichts kann trübseliger sein als diese gleichgültige Mahnung, daß auch die Stunde der Trauer vorübergehen wird und du bald wieder zu sprechen, zu arbeiten, zu lächeln hast und daß Löwenzahn blühen wird und Weißdorn.

Wie eine Qual ist's ihm, seine Schmerzen dem stachligen Gesperre solcher Zweige gleich gegen die Brust zu drücken, doch ahnt er, daß sie sein werden wie der weiße Saft jener andern Blüten, der gar zu rasch in ein häßliches Braun sich verfärbt.

Liebes eigenwilliges Gesicht. Kleine Finger, schmale, stolze. Und du Gang, der du ein wenig breit bist und so haftend, wie Katzen in der Sonne gehen. Liebes eigenwilliges Gesicht.

»Wenn man sterben könnte! Sterben müßte so gut sein, hier, zwischen den entfärbten Blättern, deren dumpfer Geruch an die Frühlingsauferstehung erinnert. Aber nicht einmal das kann man. Denn irgendwie ist es gesetzt zwischen dir und mir, daß wir da waren, uns zu grüßen und voneinander zu gehen mit dem Wissen, diese sei bis ans Ende zu tragen – diese Liebe ...«

Er horchte dem zum ersten Male durchfühlten Wort nach, die Miene versonnen; doch nun schlug eine Verzweiflung auf, die Hände ballten sich. »Nein! Nein!«

Und da fand er sie, fand die kleine Karte mit einem Namen, der ihn stutzen machte, denn anders lautete er wie Gerda, aber: »Bah, ich habe sie doch von ihr!«

Er liest die Adresse, macht zwei, macht drei Schritte, und schon ist er fort.

Horche auf mich, Kleiner!

Wind geht in kahlem Geäst. Rieselregen tropft leise.

Der Träumer legt sich von der Herzseite auf die rechte

Der Wind streicht über die Dünen, spielt im Strandhafer und im Haar des Träumers, geht weiter zu den Kiefernkuschern, deren Zweige zurückwogen, – kommt, spielt, geht – und erfüllt ist der Himmel von der Melodie des Meeres.

Über das bleiche Gesicht huscht ein Zucken. Er rührt sich im Schlaf, legt sich von der Herz- auf die rechte Seite. Nun ist es, als wolle er erwachen, seine Lippen regen sich, und die Worte, welche nicht laut werden, heißen so: »Nicht dies. Nein, so war es nicht. Heimgang, Ermatten, Zweifeln und das Schlimmste: das Ungläubigwerden an ihr ... das Ungläu...«

Der Mond ist fort, hinter Wolken. Es ist ganz dunkel.

Sprach jemand?

Entgleite, zögernder Schatten, dem Leibe des Träumers, gehe ans Ufer!

Auf dem Meeresgrund wandert einer, leis leuchtend durchstreifen ihn Fische, langsam rudernder Blasentang gleitet durch seine Hände.

Ist er verirrt? Sucht er? Schicksale? Sind diese ungeheuren Tangwälder überfüllt von ungestalteten Träumen, versäumten Leben?

Wen sieht er doch?

Er lächelt, er spricht, klagt an – ach, er weint! Schon ist er wieder fort, er entgleitet, er ist hier, dort, zehn sind's, hundert, tausend ... Wie sie streiten! Sie kämpfen, manche fallen, andere eilen herbei, sie umschlingen sich, sie scheinen ein Lied zu singen –: sie sind fort.

Nein, einer schleicht noch durch Tang und Gras, du siehst ihn kaum. Ist er verirrt? Sucht er? Er lächelt, er klagt an – ach, er weint!

Ein Wassertropfen. Ein Dichter, der versäumtes Leben träumt ...

Wind weht, Strandhafer raschelt, über die Hand eines Träumenden läuft klingender Sand.

Abgetan im Unratwinkel

»Dies ist der Weg, und dies ist das Tor. Was schlug die Uhr –? Vier –? Ah, zu wird das Haus sein, erst um sieben geht's auf, und wie soll denn ich, am helllichten Tag, zu ihr gehen, die nur ein Barmädel –«

Ein Anprall war es, ein Schlag ins Gesicht, ein rasender Schmerz. Seine ganze Vergangenheit steht in ihm, seine Gewordenheit steht auf ... jene meinte das Beiseitewort der Eltern, jene ihr Achselzucken, der Druck mit der Schulter, der fortschob ... jene auch manches Pennälerwort, in der Latrine aufgeschnappt ... ihr Busen wird lüstern entblößt, ihre Wange begeifert vom zotigen Wort ...

»Gerda, liebe, liebe Gerda, warum hast du das getan!

O Traum von Büchern, friedlichen Zimmern, in denen bei klarem Sommerwind weiße Gardinen wehen – Traum von Kindern, um meine Knie tanzend – Traum von jener Frau, die blond, blauäugig, schlank, mich grüßt mit ihrem schönsten Lächeln!«

Nun auf die feuchte Erde geworfen, das Haupt gegen eine Baumwurzel gelehnt – nun, in dem Dunst des Abfallwinkels, den eisig nassen Vorfrühlingsregen auf Lippen und Wangen – nun, Bitterkeit im Herzen gegen sie und eine wilde Anklage auf der Zunge gegen sie, kleine, holde Traumzerstörerin – nun sah er eine andere Zukunft vor sich, eine dunkle, fahl Wetterschein erhellte: kaum brach das Licht der Bar durch abgestandenen Rauch, pelzig die Zunge vom Schnaps des vorigen Tags, doch deine Liebste hinter der Theke führt mit jedem, den's gelüstet, zotendes Gespräch.

Und er warf den Kopf zurück, ganz preis gab er sich Regen, Wind und Verderben, hinter seinen Lidern entstand Bild um Bild des Geahnten, und je weniger er wußte, was es eigentlich war, das so schrecklich sein sollte, um so fürchterlicher schien es.

Das ist der Schmerz, er blutet, er tropft; schreit er gleich tief da drinnen, auch im Körper tanzt er und reißt, wirft den Jungenleib umher und sein Ah und Oh entsteigt blasig dem Laokoonsmunde.

Denn das ist es, daß er nicht trennen kann: ihre Schande ist seine Schande – – –, aber Schande ... Schande ...! Der so sorgsam Behütete ahnt in diesem Winkel schon die viel bittrer beizende Verachtung der aufrechten Wandler. »Und die werde ich nie ertragen können –!«

»Und warum sollte ich es? Steh auf, geh heim: nichts ist geschehen. Nicht einmal deinen Namen weiß sie, deine Wohnung nicht. Es ist, als sei es nie gewesen. (Und Arne kann man morgen früh verständigen, daß er nichts sagt.)«

Er steht auf. Er zittert am ganzen Leibe. Er flüstert: »Und ich bin es doch gewesen, der vor wenigen Stunden erst sagte, man könne nicht schlecht sein? Was bin ich nun? Wie gemein? Freue mich, daß sie meinen Namen nicht weiß, sie, die nichts von mir wollte, die mir meinen Wein bezahlte –?«

Schüttelnd: »Nein, so geht es nicht. Anders müßte man ... Aber wie denn entscheiden –? Hat man's nicht im Blut? Denn unberührt von allem saß Arne dabei und konnte sogar mit ihr streiten ...«

Plötzlich lächelt er. Ihr kleines, wie getuschtes, zärtliches Bild war ihm von neuem erschienen und Zweifel Torheit geworden. »Was ist denn? Liebe ich denn nicht –?«

»Aber sie hat gelacht zu Arnes Zoten! Und wenn! Bewiese das etwas –? Ja schon. Aber jedenfalls: nun gehe ich zu ihr. Keine Eile, keine Eile, denn wenn es sein soll, soll es sein, und wenn es nicht sein soll – so soll es doch sein!«

Fiebertag

Längst schlug die Uhr fünf. Lichter wurde die Nacht.

Schon erkennt er, vernebelt noch, die schnörkligen Hochgiebel der alten Häuser mit ihren Ladeluken, am Wall.

Nicht nur sie. Eine kleine holde Gestalt streicht ihm entgegen – sein Herz stockt: »Nein, nein, wie sollte sie es sein?« –, eine Hand faßt ihn, und aus dem Stimmklang ahnt er das frohe Lächeln hinterm Schleierhauch, als sie ihn grüßt: »Siehst du, da bist du!« Und: »Du mußtest ja kommen.«

»Freilich, ich wollte wählen, überlegen, doch dann merkte ich, daß alles längst beschlossen.«

(›Aber das sage ich dir nicht, daß ich dich verriet. Selbst dir nicht!‹)

»Nun aber hinauf mit dir! Wie kalt deine Hände sind und wie feucht!«

(›Ja – doch! Einmal werde ich dir auch das sagen können ... einst.‹)

»So, und nun hier die Stufen. Wart einen Augenblick, schließe das Haus nur noch zu. – Hier sind wir.«

Der Schalter knackt, Licht flammt auf, und in ihrem Aufschrei – »Gott, wie siehst du aus!« – erblickt er vor sich einen Jungen, blutleeren Gesichtes, Haare wild in der Stirn, mit flammendem Mund wie ein Wundriss, gebeutelten Kleidern, feuchten, verdreckten, und dem irrenden Blick eines Zweiflers.

Ja, auch er zweifelt, wendet sich ab, zweifelt mit dem Mund, irrt mit den Augen, wendet sich ab.

Da begreift der Achtzehnjährige, daß er in diesen regengestrichenen, winddurchsausten Nachtstunden noch andere Wege ging wie die lehmfeuchten des Walls, bittere Wege, begreift's, daß die gradlinigen amönen Wiesenpfade passiert sind, daß nun die Hecken und Knicks kommen, die so stachlig sind, unübersichtlich, eng.

War es dies, das ihn murmeln machte: »Verurteilt vor der Schuld und verdammt ohne Berufung ...?«

Sie stand neben ihm, sah das Weicherwerden des Gesichts – schon zuckte die Lippe –, und sie ahnte vielleicht, dunkel und trübe, das Zerren der alten Bande, das Erwachen einer Stallmüdigkeit, das Erinnern an welche Eltern, aber weichhändig spielt sie die Strähnen aus der Stirn, schmeichelt die Falten fort, ruft: »Was schaust du dich an? Wirst dich doch kennen. Dort hinein und ins Bett. Einen Tee koch ich dir ...«

Im Zimmer stand er, sah um sich, atmete auf. »Allein! Sie hat mich nicht erraten!«

Wundersam streichelt die glatte Kühle der Laken die erhitzten Glieder, seidig schmiegt sich das Kissen in den Nacken, die Lider sinken zu, und nur die Nase noch schnuppert nach einem Gemisch von Düften, das sie zu unterscheiden beginnt, aber dessen Bestandteile sie nicht bestimmen kann. Kleine Bilder blühen hinter den geschlossenen Lidern auf: ein ovaler Ring in lila Farbe, bläuliche Flämmchen zacken von ihm, dann ein tiefblauer Ball mit weißgoldenem Rand, dann – und er reißt die Augen auf, faltet die Hände, als ihm einfällt, daß es vielleicht sinnlos ist, das Abendgebet zu sprechen, da sich doch alles so veränderte. Aber auch das muß erst durchdacht werden, er wird das Gebet so lange zurückstellen und auch gerade hier, ob es nicht hier geschmacklos ist –?

 

»Aber nein, grade hier ...«, und steigenden Trotz in sich und das Bewusstsein, wie kindisch doch solcher Trotz, betet er – gegen die andern, gegen die Eltern und auch gegen ihn, den Gott – sein Vaterunser, atmet ein paarmal rasch, schluckt, fühlt das Bedürfnis, laut zu sagen: »Alles egal!«, und bläst wieder in die Kissen – .

Als die Tür aufgeht und er hellwach tastenden Schritten lauscht.

»Jo?«

»Ja?«

»Ich habe dir deinen Tee gebracht. Aber alles Licht ist aus. Ja, hättest du nur wenigstens die Nachtlampe angelassen. Wie soll man denn ...«

Ganz leise und zag: »Verzeih nur.«

Das Licht glüht sanft, sie sagt: »O du Dummer du, wie soll ich denn im Dunkel mein Bett finden?«

»Ich dachte ... dein Bett ...«

»Ja, mein Bett ... wie ...?«

»O verzeih nur ...«

»Da schaust du. Wo steht es wohl, mein Bett –?«

»Aber, Gerda! Hättest du das doch gesagt. Ich gehe, einen Moment –«

Und er will hinaus, hält voll Scham inne, angelt mit dem nackten Fuß in der Kühle, sieht sie so verzweifelt an, daß sie ihn auslacht. »Dieses eine Zimmer hab ich eben nur. Nein, schau nicht so ängstlich aus, wir werden uns schon vertragen. Leg dich rum, schau dir die Tapete an, gleich bin ich bei dir.«

(›Es ist ein Märchen. Ein Traum. Gleich wache ich auf, und Martha ruft mich zum Kaffee. Aufstehn, junger Herr ...! Gott!‹)

»O Gerda, Gerda, was habe ich gemacht! Ich muß doch nach Haus. Was sollen denn die Eltern denken, wenn ich um sieben nicht zum Kaffee da bin?«

»Gleich legst du dich wieder hin.«

Aber er hat es schon getan, denn im Auffahren sah er etwas Weißes, atmend Bewegtes. ›O Gott ich habe ihre Brust gesehen. Nein, nein, ich darf nicht so an sie denken. Ich beschmutze sie und mich und all meine Gefühle für sie, wenn ich so an sie denke. Aber wenn sie wüßte –!‹

Und wieder kommt die Angst, und wieder bettelt er: »Laß mich doch aufstehen, Gerda. Du weißt nicht, was geschieht –«

»Du bleibst liegen. Das wäre noch schöner, so naß und verfroren gleich wieder heraus. Wo du grade ein bißchen warm geworden bist. Da trinken die Herren Eltern eben einmal allein Kaffee. Was ist dabei –? Ein so großer Sohn –«

»Aber du verstehst nicht, es ist unmöglich –«

Doch sie lacht nur, lacht seine Unmöglichkeiten in den Grund. »Wenn du jetzt nicht ganz still bist, so stelle ich mich wie ich bin, splitterfasernackt, vor dein Bett und nehme dich in meine Arme –«

Er sagt kein Aber mehr, er schweigt, doch er muß immer daran denken, was sein wird, morgen früh, am Kaffeetisch, die Eltern, das unberührte Bett, die Fragen ... Und sein Kopf ist so seltsam heiß, nun dreht sich alles, das Bett scheint unter ihm fortzurutschen, wird lang, länger, schräg, und er gleitet darauf hinab, reißend schnell ... Nein, das ist ja die Warnow. Er steht auf dem Dampfersteg, das Wasser gleitet so schnell unter ihm, gluckst an den Pfosten, als lachte es ... Nun treiben Blasen, schwindlig greift er zum Geländer, will sich halten, aber das Geländer ist fort, er greift ins Leere. Und immer schneller treibt das Wasser, immer schneller, singt leise, kühl, kühl, etwas Weißes treibt darauf, ein Blatt Papier, der Examensaufsatz: Iphigenie, ein Inbegriff deutscher Sehnsucht, nein, es ist eine Blüte, eine große weiße Blüte, und sie treibt näher, immer näher, sie rührt ihn kühl an –: er schreit, er reißt die Augen auf. Da ist ihr Gesicht über ihn geneigt: ein Leben genügt nicht, diesen ihren Blick zu erschöpfen, in dem alles liegt: Liebe, Not, Nichthelfenkönnen und die Angst der zu oft Enttäuschten.

»Ist dir besser, armer Junge?«

»Das ist dein Gesicht, Gerda? O das ist gut. Halte es nahe. Es weht kühl von ihm, aber in mir ist eine Hitze, ich verbrenne. Das ist die Sünde in mir, die den Leib verbrennt ...«

»Was solltest du wohl für eine Sünde in dir haben, mein kleiner Kerl?«

»Das ist die Sünde, daß ich falsch gedacht habe und sündhaft, daß ich hochmütig gewesen bin und ehrgeizig und stolz. Er aber hat gesagt: ich will deine Sünden von dir nehmen und dich rein waschen wie ein Lamm, das zur Scherbank kommt. Nein, das ist nicht der Spruch, den ich meine. Wo steht er doch? Er steht im ersten Buche Mosis und lautet daselbst vom ersten bis zum dreizehnten Vers –«

»Willst du nicht zu schlafen versuchen?«

»Doch will ich das. Sofort. Aber du darfst nicht vergessen, daß Arne in der Schifferade der Bar gesagt hat, daß die Kinderzeiten vorbei seien, verführen müsse ich die Frauen ... denn ich bin ein Mann!«

»Ach der dumme Kerl!«

»Ja, dumm ist er schon. Aber ich muß doch darum zum Frühstück zu Haus sein. Welche Zeit ist es? Halb elf?«

»Jo, hörst du mich, lieber Jo! Willst du hören, was ich sage?«

»Natürlich höre ich dich. Ich höre alles, was du sagst und was Arne sagt. Aber –«

»Jo, sage eines, wie heißt du? Jo, bitte, lieber Jo, wo wohnst du? Ich muß doch deine Eltern –«

»Meine Eltern –?« Und der Kranke fuhr hoch. »Meine Eltern? Fragst du nach denen?« Flüsternd, nach ihrer Hand tastend: »Ich verstoße sie. Ich reiße sie aus meinem Herzen aus. Sie haben mich lügen gelehrt, und nun ist die Lüge eine Wunde geworden über meinen ganzen Leib hin. Und sie brennt. Und ich liege auf dem Rost und brenne ...«

»Jo! Jo!!«

Aber der Kranke hörte sie nicht mehr. Eilfertig huschten die Hände über die Decke, als müßten sie weite Wege zu imaginären Zielen gehen, seine Augen schienen nach innen zu schauen, und er sprach immerzu, mit sich, mit andern, klagte an und verteidigte sich, lächelte, erflehte Vergebung, die er nicht erhielt, und zürnte einem, der zu weinen schien. Es war, als eitere sein ganzes bisheriges Leben in ihm, habe sich in kalten Brand versetzt und kämpfe mit den gesunden Säften seiner Seele.

Neben ihm hockte das Mädchen, mit der Schnauze stieß der kleine Hund an ihre Knie, sie achtete seiner nicht, rastlos glitten ihre Hände über die fieberheiße Stirn, kühlten, strichen die feuchten Strähnen fort. Auch sie flüsterte. War Mutter geworden, sprach zum kranken Kinde, nannte es bei allen Kosenamen, und eine neue Bedeutung stieg aus den abgenutzten auf, da sie in dieser Nachtstunde sie brauchte. Stunden schlugen. Durch die Vorhänge einfallende Strahlen wurden aus Dämmergrau weißlich und weiß, doch immer huschten die Hände, flüsterte der Kranke, war eine junge Mutter selig betrübt.

Abfuhr

Junge Mutter –? Selig betrübte –? Sieh doch diese Kampfbereite, geschlossenen Gesichts, mit kalten Augen! Sieh doch dies Mädchen, gefährlich, wehrhaft gegen den stärksten Mann, wie sie Arne einläßt, auf Anton zeigt: »Da! Wenn Sie mir nicht glauben, schaun Sie ihn an; packen Sie 'n auf und nehmen ihn mit nach Hause.«

»Von Nichtglauben kann nicht die Rede sein, aber –«

»Aber Sie wollten sich mit eigenen Augen überzeugen, und das nennt man eben Nichtglauben.«

»Bitte!« Statt einer Antwort feinfeine Geste, dann: »Also da bist du ja, alter Junge! Kater ausgeschlafen, was?«

Aber der Kranke rührt sich nicht.

Die Wirtin warnt: »Nicht so laut, junger Herr. Eben war der Arzt da, gab ein Schlafmittel. Er ist müde.«

»Der Teufel ist Ihr junger Herr. Ich bin auch müde und muß hier nach dem jungen Hunde rumrasen, um den die Alten schon wimmern. – Josaphat, sei nicht so schlapp, rapple dich auf, komm mit. In deiner Bude kannst du dich langlegen, soviel du willst.«

Lauter: »Josaphat, was sollen die alten Herrschaften denken?«

Aber der Kranke schweigt, sieht wie lächelnd in den tanzenden Lichtstrahl und spricht kein Wort.

»Na –«, und ein Achselzucken. »Was denken Sie sich eigentlich, Beste, was wird –?«

»Von mir aus!«

»Nee, nee, denken Sie nur nicht, daß ich hier einspringe. Schicken Sie man zu seinen Eltern und melden das Strandgut. Ich sage einfach, ich habe ihn nicht gefunden.«

»Dann erfahren die ja von mir, daß Sie ihn gefunden haben.«

»Was –?! Sie würden ...?«

»Selbstredend.«

»Nein, hören Sie ...«

Als die Kubschen eingriff: »Haben Sie sich doch nicht. Nehmen Sie seinen Vater beiseite und sagen Sie so und so und dies und das. Gott, der ist auch einmal jung gewesen!«

»Der –? Bestimmt nicht. Und wenn, hat er's lange vergessen. Nein, nein, ausgeschlossen. Etwas Nettes hat sich das Unglückshuhn da eingebrockt ...«

Als Gerda näher trat. Leise sagte sie's, aber den Blick klar in dem seinen, der abirren wollte, aber festgehalten wurde: »Sie gehen jetzt, sage ich Ihnen. Wäre der Jo wach, er schämte sich meiner nicht, er sagte Ihnen die Wahrheit. Wer hat sich denn so? Sie – der wirklich gemein ist, der die gewöhnlichsten Mädchen ins Lokal schleppt, der immer zotet, Sie tun ja wahrhaftig, als fiele die Welt ein, weil das Kerlchen in meinem Bett liegt, und bloß, weil's Tag ist und die andern davon erfahren könnten. Nein, nun gehen Sie und sagen seinen Eltern Bescheid, daß er hier ist. Was Sie ihnen vorlügen, ist mir egal, ich werde Sie nicht verraten. Aber wenn Sie nicht hingehen, dann schicke ich und dann sollen sie hören, wer ihn zu mir gebracht hat und lächerlich machen wollte mit seiner Keuschheit! Und ... nun gehen Sie!«

»Aber ... bitte ... es war doch nicht so ... wirklich ...«

Jubelnd krähte der Kranke: »So ist es recht, Gerda! Gib es ihm! Gib es ihm tüchtig!«

»Bist du wach? Oh, wie geht es dir? Junge, was habe ich für Angst gehabt –!«

»Das ist recht, Josaphat, daß du wieder zu Verstand kommst. Und nun –«

»Sind Sie noch nicht fort? Sind Sie ... Da geht er hin. Neugierig bin ich nun doch, ob er zu deinen Alten ... Was hast du? Was ist dir, Liebes?«

Der Kranke beugt sich vor, das Hemd klafft, zeigt die kranke bläuliche Haut über der mageren Brust, an den Schläfen kleben die durchschwitzten Haare, Schweiß steht in vielen feinen Tröpfchen auf seiner Stirn, aber langsam und deutlich spricht er: »Falsch hast du mich gerühmt ... Auch ich habe mich deiner geschämt, heute Nacht ... darum ...«

Es ist still. Zeit geht langsam, unerträglich, tropft, tropft unendlich langsam, tropft ...

Und die vielen guten Worte, die Gerda nach einer Weile sagen kann, hört er nicht mehr, er singt: »Sie wissen den Teufel, was Freiheit heißt –!«

Kleines Gewitter

Eine Uhr schlägt zwölf, eine Tür fliegt auf, und in ihrem Rahmen zögert die kleine Dicke, sieht scheu um sich, wird vorgestoßen, und ihr nach kommt mit Gesten, gesträubten Bartes, rutschenden Klemmers, voll Schweiß, Professor Färber. »Ich traue meinen Ohren nicht, was mir da der junge Freund meines Sohnes sagt ... Und hier ... hier ...«

Du am Ofen, du, Gerda, siehst die Eltern nicht, siehst nur den Feind, der auf Raub geht. Wie böse wirst du sein? Wann hast du die Verachtung dieser erlernt mit der ganzen, nichts ersparenden Schmerzgierde des jungen Herzens, dich gegen sie gewehrt, als du erkanntest, wie feige sie war und wie unaufrichtig –? Und wann war es, daß du dich mit ihr abfandest –? Damals glaubtest du nun das Recht erworben, gegen alle böse zu sein, dich gegen alle zu behaupten, mit welcher Waffe auch ... Und nun, da du einen liebst, liebst, liebst, glaubst du dies Recht noch erweitert? Gegen einen weich sein und alle andern hassen, alle, nicht wahr?

Ah, du bist auf dem Lande groß geworden, in der Gemeinschaft stiller Tiere, stiller Gewächse –: eine Zeit muß in deinem Leben gewesen sein, da du an Güte gegen alle glaubtest. Und so leicht schien sie. Schon die Tiere ... o schweige doch! Damals! Damals!

Des Professors Augen sitzen auf Stielen, die Blicke schießen vor, fliehen wie in Angst, an der schlüpfrigen Sünde des Raums hängenzubleiben. Aber die Mutter hat das Kind entdeckt, sie eilt darauf zu, ruft: »Er ist wirklich krank, Altchen! Sieh doch –«

»Ist er krank? So bestraft sich Sünde. Sofort. Gott läßt seiner nicht spotten. – Aber Sie, mein Fräulein, – oder Frau? Ich weiß wirklich nicht –«

»Ich auch nicht.«

»Wie –? Wie –?!«

»Nein!«

»Nein? Was nein –?!«

Ruft die Mutter: »Komm doch, Altchen! Der arme Junge ...«

Und frisch angefeuert legt der Vater los: »Armer Junge –? Sei so gut! Mitleid hieße Sünde. Doch Sie ... wissen Sie, daß Sie sich der Verführung eines Minderjährigen schuldig gemacht haben? Der Junge ist erst siebzehn Jahr! Ich werde Sie bei der Staatsanwaltschaft anzeigen.«

»Bitte! Wenn es Ihnen Spaß macht. Die Herren, die mit mir kommen, zeigen ja im allgemeinen nicht ihren Taufschein vor.«

 

»Und Sie da, Frau –«

»Kubsch.«

»Kubsch, also Kubsch ... Übrigens ich hatte einen Schüler Kubsch, warten Sie, 1908, Untertertia, faul, phlegmatisch, ständig ut mit dem Indikativ ...«

»Das war mein Sohn.«

Triumphierend: »Also! Da ist ja alles klar!« Wieder in frischem Feuer: »Sie dulden das in Ihrer Wohnung –? Solche ... Aber das ist Kuppelei, und auf Kuppelei steht Zuchthaus. Ich werde Sie ...«

»... bei der Staatsanwaltschaft anzeigen.«

Herumfahrend: »Wie –? Wie denn? Sie erlauben sich ...? Sie ...«

»... werden Sie auch anzeigen.«

»Frech wird das noch! Aber Sie sollen etwas erleben! Ich werde mit Ihnen allen abrechnen. – Alma! Was wird nun? Alma!«

»Herr Professor, ich möchte auch abrechnen. Zwei Flaschen Sekt und eine Nacht habe ich noch bei Ihnen gut.«

»Aber das ist das Ende! Das ist Sodom und Gomorrha! Was fällt Ihnen denn ein! Wissen Sie, wer ich bin?«

»Ich sehe es.«

»Sie ... freilich mit solchem Pack sollte man sich gar nicht erst ... Alma! Alma!! Warum steht denn der Junge nicht auf? Es ist ...«

»Aber er kann doch nicht!«

»Kann nicht? Gibt es nicht. Muß können.« An das Bett tretend, rein väterlich, wenn auch mit angemessner Strenge im Ton: »Anton! Besinne dich, wo du bist. Was hast du getan? Wie konntest du dich so weit vergessen –? Anton!«

Als im Kranken eine Feder einzuschnappen scheint. Er richtet sich halb auf, macht eine große Geste und beginnt schallend: »Ahnst du voll Wonne, was uns am Pippusbogen winkt, während die Sonne ...«

Und die Jungenstimme erhebt sich höher, mit geschlossenen Augen liegt er da, die Stirne gefaltet, aber er vollendet: »... Venus, die Fee, um, segnet die Nacht.«

»Nun, wir sind ja sehr fidel heute, junger Freund! – Ah Pardon! Ich bin der Arzt. Wehrfritz.«

»Und ich der Vater ... Ich meine: Professor Färber ... dies meine Frau ...«

»Vom hiesigen Gymnasium?«

»Ich habe die Ehre, dem hiesigen Lehrkörper bereits dreißig Jahre anzugehören. Und wenn ich mich recht erinnere, war auch ein Sohn von Ihnen ...«

»Stimmt! So, und jetzt möchten Sie Ihren Knaben natürlich gern nach Haus haben?«

Der Vater flüsternd: »Sie verstehen. Diese Schande. Aber der Junge hört ja nicht, will nicht aufstehen. Scheint vollkommen betrunken. Auch nur so kann ich mir erklären, daß er –«

Wird abgeschnitten: »Jaja. Aufstehn ist natürlich Unsinn. Im Krankenwagen ginge vielleicht ... Und, Gerda, sag mal, Mädelchen, hat er immer so gesungen, seit ich da war heute früh?«

Sie lächelt. Plötzlich ist sie eine andere, eine ganz andere wie die Herausfordernde, Freche, Beleidigende von vorhin. Gott, ein Mädelchen ist sie wirklich nun, ein Kind, anschmiegsam, sanft, ein Gewächs und so gut –!

Aber der Vater protestiert: »Krankenwagen? Aber das geht doch nicht, Herr Doktor! Die Leute sammeln sich auf der Straße, und in einer Stunde weiß die halbe Stadt, wo mein Sohn –«

»Bitte!« Und sanft, aus seinem Gottvaterbart zu Gerda: »Und die Temperatur vons Kind?«

»Immer noch vierzig.«

»Aber Sie müssen mich anhören, Herr Doktor. Der Krankenwagen –«

»Ich bin für den Kranken hier, nicht für Sie. Wenn Sie ihn nicht transportieren wollen, lassen Sie ihn hier. Ein drittes gibt es nicht.«

»Aber –«

»Bitte!« Der Riesenarm des Alten fährt durch die Luft, und das Männlein fällt zurück, schnappend, erledigt. Dann aber faucht es: »Ja, dann freilich! Ich verstehe schon.«

Sanft fragt der Arzt: »Was denn? Was verstehen Sie –?«

»Oh, wir wollen nicht davon reden. Aber es ist ja bekannt, nicht wahr?« Und rasch und leise: »Sie reden diese – Dame mit du an?«

»Herr! Was unterstehen Sie sich –! Wie können Sie es wagen, mir mit solchem Guano zu kommen! Nicht der Verdacht ist mir eklig, aber weil es Ihr Verdacht ist, Ihr feiger, schmieriger Zelotenverdacht, darum! Und weil ich Ihnen schon längst einmal meine Meinung sagen wollte, darum!«

»Wissen Sie, wer ich bin! Ich bin der –«

»Ruhe«, brüllt der Alte, »jetzt rede ich und jetzt hören Sie zu! Wer Sie sind, sagen Sie? Ein für Lebenszeit sitzengebliebener Untersekundaner sind Sie! Bis zum Xenophon kommen Sie, bis Bellum Catilinae, Sallust, bis Vergil. Und kommen nie weiter. Da haben Ihre Gedanken, Ihre Ansichten aufgehört und mit fünfundfünfzig sind Sie noch immer fünfzehn! Sehen Sie sich doch im Spiegel! Auch körperlich ein überarbeiteter, blutarmer Jüngling. Nicht einmal einen ordentlichen Bart haben Sie! Und Sie wollen richten! Sie wollen Anspielungen machen! Sie wollen ein Mädel anschmieren, das zehnmal soviel durchgemacht und ertragen hat wie Sie, der durch Standesvorrechte und Denkunvermögen vom ganzen Leben fernblieb?«

»Weil Ihr Sohn sitzengeblieben ist ...«

»Ja, weil mein Sohn sitzengeblieben ist! Aber jetzt gehen Sie, denn nun schimpfe ich nur noch, und was Sie hören sollten, haben Sie gehört! Ihnen hilft es freilich nicht, aber mir hat es geholfen, Sie Auskehricht, unnützer, Sie Arschpauker, Sie –«

»Alma, wir gehen! Ich befehle dir ...«

»Ab! Und Ihren Sohn lassen Sie durch das Krankenauto holen, sonst bekommen Sie ihn nicht.«

»Alma!«

Aber die Frau fragt den Arzt: »Ist es sehr schlimm?«

»So lange ist es nie sehr schlimm. Pflegen Sie ihn nur gut. Und keine Vorwürfe, keine Ermahnungen. Wahrscheinlich wird er diese ganze Geschichte vergessen haben, wenn er zur Besinnung kommt. Ihr Arzt soll mich anrufen. Empfehle mich, gnädige Frau.«

Und ihr nachschauend: »Auch so eine Pute, der man alles in den Mund schmieren muß. Dumm sind diese Weiber ... Na!«

»Wird er wirklich alles vergessen?«

»Wenn ich es doch sage, Gerdakind! Ruhe ist wichtig, nicht? Und Eltern können so nölen, so schrecklich nölen, was? Ich bin selbst Vater. Adieu auch.«

Mutter und Sohn

»Fortschleichen? Feige Flucht? Oh, nur Erdientes wird Verdienst; ich habe Klagen und Abwehr zu ertragen, aber sprechen muß ich, den Eltern sagen, daß ich nicht will. Freilich –«

Anton springt auf, die Decke gleitet zur Erde. »Verdammtes Herz! Es gibt kein freilich. Ich sage es ihnen, sage sofort ...« Und wendet sich ängstlich horchend: »Herein! – Ja Mama?«

»Du läufst schon wieder herum, Anton, und der Arzt hat doch gesagt, du sollst dich noch schonen.«

»Verzeih, es geschah in Gedanken. Ich setze mich schon.«

»Ja, und das Denken! Papa hat dir so viele gute Bücher hin gelegt, aber nie liest du darin. Immer sitzt du und grübelst. Und das viele Grübeln ist auch ungesund.«

»Neinnein, natürlich werde ich lesen. Laß sehen –«

»Wart, ich hole sie dir. Bleib doch, ich kann ja so gut –«

»Nein, Mama, wirklich. Du sollst nicht –«

»Hier, Junge. Und dies schenke ich dir. Ich habe es dir gekauft. Es ist eine Sonderausgabe, vom Buch Ruth. Ich weiß ja nicht, ob es noch dein Geschmack –«

»Das Buch Ruth, Mutti –? Nein, höre einmal ...«

»Lies es mir zuliebe, Tonerl, ich bitte dich –«

Und plötzlich wirft er den Kopf auf den Tisch – helles Verwundern steigt in ihm auf: was tue ich denn? –, wirft den Kopf auf den Tisch und weint los, laut, schluchzend, wie er als Kind geweint, ein bißchen klagend, ein bißchen wimmernd, mit vielen Vokalen. Weiß das alles, tut's weiter, fühlt sich erlöst, und schon liegt der Kopf der Mutter neben dem seinen, ihre Haare kitzeln ein wenig, stören ein bißchen, aber nun geht ihr Schluchzen neben dem seinen, sie fühlen nicht, wessen Tränen die Wangen feuchten, die deinen, die meinen: sie weinen.

»Das ist das Leben, Junge, das Leben. Aber es wird wieder gut, glaube mir.«

»Nein ... nein ...«

Und steht plötzlich. Noch laufen die Tränen über sein Gesicht, das böse ist. »Geh, geh, sage ich dir. Nicht so. Ich will nicht weinen. Ich darf nicht – so mit dir weinen.«

»Was hast du? Bist du böse auf mich?«

»Nein, nicht auf dich. Auf mich. Geh, ich bitte dich.«

»So weit wären wir also nun: Heuchler. Mit der Mutter geweint, die an Reue glaubt! Und grade beschlossen, zu ihnen zu gehen und zu sagen –!«

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