Altes Herz geht auf die Reise

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Ja, allein, und nun war es ruhig um ihn. Eine Fliege burrte noch einmal schläfrig, ab und an fuhr ein Ackerwagen vorüber, aus der Küche rummelte ein Topf, und jetzt schalt eine Frau, und weinerlich antwortete die Stimme vom Wirt Stillfritz. Eine Uhr schlug, und das Eheduett in der Küche ging weiter, des Professors Kinn sank tiefer auf die Brust und der Kopf ganz vornüber. Ach, was ist der Ofen schön gelinde warm! – Und so war denn Professor Gotthold Kittguß nach den Strapazen des gestrigen Tages ein bißchen eingeschlafen und hätte sich über alle Gewissensbisse weg bis zum nächsten Zug hingeschlafen ...

Wenn nicht plötzlich die Gaststubentür geräuschvoll aufgegangen und jemand sehr festen Tritts mit jemandem sehr müden und hinkenden Tritts einmarschiert wäre. Als aber der Professor aus seinem Nickerchen etwas verlegen hochfuhr, da stand der feste Jemand vor ihm, hatte die Hand an den Tschako gelegt und sagte militärisch: »Sie gestatten, daß ich den Burschen mit reinbringe. Denn wenn ich ihn draußen lasse, türmt er bloß. Er ist schon zweimal getürmt, und darum sieht er auch so aus. Denn wer nicht hören will, muß fühlen!«

Damit blickte der Landgendarm Peter Gneis auf seinen Delinquenten und sagte bärbeißig, aber gar nicht böse: »So, mein Jungchen, dich hängen wir wohl am besten mit dem Kettchen hier an den Kleiderständer. Und wenn du dann mit einem Kleiderständer unterm Arm ausritzen willst, versuch es! Dämlich genug bist du dazu, wenn du auch lange nicht so dämlich bist, wie du aussiehst, und fassen tu ich dich allemal wieder.«

Der Professor sah, sah – und rieb sich die Augen. Aber was er sah, ließ sich nicht fortreiben: es war und blieb sein heimlicher Bote: Philipp, der vor zwei Tagen mit Rosemaries Brief bei ihm im Studierzimmer gestanden, der ihn nach Unsadel berufen hatte, um den er sich fast mit der jahrelang erprobten Witwe Müller gestritten hätte, derselbe Philipp – aber wie sah der Junge aus!

Damals schon war er ein recht kummervolles Geschöpf gewesen, aber wie er jetzt dastand und höchst naturgetreu tat, als sähe er nicht den Professor und gar nichts auf der Welt, schlotternd, mit hohlen Wangen und einem blaugeschlagenen oder -gefallenen Auge – da fiel dem Professor doch so allerlei auf die liebe Seele, und ganz unwillkürlich rief er: »Aber es ist doch nicht die Möglichkeit! Ist er denn das?!«

»Jawohl, ein entlaufener Knecht ist das«, sagte der Gendarm Peter Gneis strenge. »Und die Dresche, die ihm seine Dienstherrschaft bei der heutigen fröhlichen Heimkunft verabreichen wird, die möchten wir beide, Sie und ich, nicht besehen. – Ein Helles und einen Korn, Stillfritz. Ja, da staunst du. Das ist der entlaufene Knecht vom Päule Schlieker in Unsadel, und per Schub haben wir ihn, Kollege auf Kollege, von Gransee bis hier gebracht. Was in aller Welt er da gesucht hat, das wissen wir nicht und werden's auch nicht erfahren. Denn der stirbt eher, als daß er den Mund auftut.«

»Junge, Junge«, sagte Stillfritz und rieb sich wieder einmal seinen blauroten Methusalem. »Ich will es dir ja glauben, daß der Dienst beim Päule Schlieker nicht gerade ein Rosendienst ist. Aber das hättest du doch wissen müssen, daß man nach der Mecklenburgischen Gesindeordnung sein Jahr auszuhalten hat, gut oder schlecht. Aber wenn du nun einmal solch bösen Empfang haben sollst, oller Döskopp, du – keiner soll sagen, daß dich der Stillfritz zu deiner Prügelsuppe ohne eine Hühnersuppe hätte gehen lassen. Kiek mich an, Junge! Willst was essen –? Happenpappen, Happenpappen, so ... soooo?«

Und er kaute gewaltig schmatzend die Luft.

In das unbewegte Narrengesicht kam ein Schein von Leben und Helligkeit wie von einem Lächeln. Was aller Jammer und alle Entbehrung und alle wunden Füße nicht hatten vollbringen können, das vollbrachte jetzt der Wirt Stillfritz mit seinem Kauen: zwei einzelne, blanke, große Tränen rollten über die verhungerten Backen.

»Na, weine bloß nicht, Sohn! Gleich kriegst du was zu essen. – Nanu, was soll nun wieder das?!«

Denn da stand hoch und feierlich mit der Tasse Hühnerbrühe in der Hand der Professor Kittguß neben dem Wirt und sprach: »Wenn einer dem Jungen Essen zu geben hat, bin ich es. Und wenn einer fragt, Herr Gendarm, warum und zu wem er entlaufen ist, antworten Sie ihm: zu mir! Zu mir, dem Professor Gotthold Kittguß in Berlin, denn mir hat er einen Brief von meinem Patchen gebracht. Und wenn Kosten entstanden sind, will ich sie tragen. Und wenn es Prügel geben soll, will ich mitgehen, und es wird keine Prügel geben!«

»Ich denke, Sie reisen in Zigarren«, wunderte sich der Wirt.

»So – ho«, sagte der Gendarm amtlich und fingerte schon nach seinem Notizbuch. »Sie wollen also behaupten ...«

Und so wären sie denn wohl alle drei, nach Männerart, erst einmal in eine hübsche theoretische Verhandlung geraten, statt etwas Vernünftiges zu tun ..., wenn nicht der Duft der Hühnerbrühe dem verhungerten Philipp gar zu verlockend in die Nase gestiegen wäre. Fast riß er dem Professor die Tasse fort, setzte sie an, und leer war sie! Der Philipp aber blickte verblüfft in die Tasse und sah in diesem Augenblick genau wie jener berühmte Löwe aus, der meinte, ein Kalb zu verschlingen. Er erwischte aber die Erbse und fand, sein Maul blieb überraschend leer.

Da erkannten sie, was als erstes nottat, und keine fünf Minuten, so saß Philipp an einem Tisch, und die Kartoffelschüssel schien ihm keineswegs zu groß, und daß ein ausgewachsenes Suppenhuhn eigentlich ein Zweimännervogel ist, daran glaubte er auch nicht.

Er aß und aß, und die andern sahen ihm zu, und da ein tüchtiger Esser, der Gottes guter Gabe Ehre antut, stets Behaglichkeit verbreitet, so sagte auch der Landgendarm Peter Gneis jetzt ganz friedlich: »Ja, mein lieber Herr Professor aus Berlin, gutes Herz hin und schwacher Kopf her, aber Dienst ist Dienst und keine Hühnerbrühe, und eine Mecklenburgische Gesindeordnung steht nicht bloß auf dem Papier. Sie reden ja jetzt viel im Landtag, daß sie abgeschafft werden soll, weil sie menschenunwürdig ist, aber bis sie abgeschafft ist, muß ein entlaufener Dienstbote seiner Herrschaft wieder zugeführt werden. Auf der Herrschaft Kosten, versteht sich. Und da wird es wohl verdammt nach Prügeln riechen, denn den Schliekers tut jeder Pfennig weh, den sie hergeben müssen.«

»Aber man kann den Jungen diesen rohen Leuten doch nicht einfach ausliefern!« rief der Professor und dachte nicht nur an den Jungen, sondern auch an ein Mädchen.

»Doch kann man«, sprach der Gendarm. »Man muß sogar! Man muß viele Dinge, von denen so ein feiner Herr wie Sie gar nichts weiß! Dienst ist Dienst, damit muß man sich eben abfinden. Aber«, sagte er, »das blaue Auge von dem Philipp Münzer da, das dürfen Sie mir nicht anrechnen, das ist mir schon in Fürstenberg übergeben und kommt vielleicht von Gransee und noch weiter her.«

»Aber man kann doch nicht –!« rief der Professor noch einmal. »Man kann es doch nicht so weiter laufen lassen, wenn man weiß, wie bös es ist. Sie müssen mir doch helfen können, Herr Gendarm.«

»Ja, helfen ...«, sagte der Gendarm und hielt den Löffel auf dem Weg zum Mund an. Denn nun aßen sie alle schon, sachte war es Mittag geworden, und Frau Stillfritz aß mit. Bloß ihr Mann stand noch hinter der Theke und trank weiter sein Bier.

Eine Weile war es still, und nur der blöde Junge klapperte munter mit seinem Essgeschirr weiter. Als aber die Stille anfing drückend zu werden, ließ sich Frau Stillfritz vernehmen. Und was sie zu sagen hatte, das sagte sie sehr energisch, ja, sie schalt beinahe: »Da sitzt ihr, als wenn es Hühner schneite, und keiner weiß was. Denn so klug ihr reden könnt, ihr Männer, wenn es nur ums Reden geht, so dumm seid ihr, wenn nun wirklich mal was geschehen soll. Und mein Stillfritz, der auch immer die höchsten Töne singt, weiß auch nichts Besseres, als sich ein Glas nach dem andern einzuschenken. Solltest lieber was essen, Stillfritz, aber natürlich hast du wieder mal keinen Appetit, weil du dir ständig den Magen mit all dem Bier verdirbst ...«

»Ach Auguste«, sagte Stillfritz jämmerlich und schüttelte sein Bierglas.

»Jawohl, ach Auguste, ach Auguste, das ist alles, was du mit deinem klugen Männerverstand weißt. Aber, Herr Professor, Sie mögen ein sehr gelehrter Herr sein – davon, daß man aufsteht und ruft ›Man kann doch nicht!‹, wird die Welt nicht anders. Und nun noch dem Peter Gneis die Last zuzuschieben, das ist nicht hübsch von Ihnen! Der Peter Gneis ist Gendarm und für den Bengel verantwortlich. Ihnen zu Gefallen, Herr Professor, kann er den Jungen doch nun wirklich nicht laufen lassen.«

»Aber das verlange ich ja gar nicht«, sagte der Professor sehr kläglich. »Ich meine nur, man müßte ...«

»Aha!« unterbrach ihn Frau Stillfritz triumphierend. »Da hören wir es ja wieder: man! Man ist gar nichts, Herr Professor, entschuldigen Sie bloß, sondern Sie – Sie – Sie sind der Mann an der Spitze! Sie finden es bös, und also müssen Sie auch hingehen zum Päule Schlieker und es mit ihm zurechtbringen. Andere schicken, aber selbst hinter dem warmen Ofen hocken – ja, das glaube ich wohl!«

Und sie sah die Männer, einen nach dem anderen, funkelnd an, und dem Professor war unter ihrem Blick so schuldbewußt, viel schuldbewußter noch, als sie sich träumen ließ.

»Ich will ja auch gerne gehen!!« bat er.

»Na also«, antwortete sie, rasch versöhnt. »Man muß euch Männer nur immer wieder darauf stoßen, aber kräftig, daß ihr es auch begreift! Und meinen Stillfritz bringe ich auch noch mal in die Trinkerheilanstalt, wenn er gar nicht kapieren will, was ihm und unserm Hotel gut ist ...«

»Ach Auguste ...«

»Jawohl: ach Auguste ... Grade, ach Auguste! Aber wenn Sie mitgehen, Herr Professor, bleibt es nicht beim Bösesein, sondern kann gut werden. Es wird Sie was kosten, daß der Schlieker den Jungen aus dem Dienst läßt, aber der Peter Gneis soll Ihnen helfen, dafür hat er die Amtsgewalt, und auch darauf sehen, daß es nicht zu teuer wird ...«

 

»Tu ich, mach ich«, sagte der Gendarm. »Recht haben Sie, Frau Stillfritz!«

»Natürlich habe ich recht«, sagte Frau Stillfritz. »Wenn ich eine Suppe abschmecke, so schmeckt sie auch! Aber wenn der Junge losgekauft ist aus dem Dienst, Herr Professor, ist noch lange nicht alles zurecht. Denn wohin mit dem Jungen?«

»Ja, wohin?« fragte der Professor ganz hilflos.

»Wenn ich Sie mir so ansehe, Herr Professor, so kann ich mir Ihre Berliner Wohnung recht deutlich vorstellen, kein Stäubchen, und jeden Tag wird in allen Ecken gefegt. Und dazu der Junge, der Philipp Münzer, und vielleicht haben Sie auch noch so einen richtigen Hausdrachen ...«

»Nein, nein«, protestierte der Professor. »Eine sehr ordentliche, genaue Witfrau ...«

»Ich sage es ja«, sagte die Stillfritzen hochbefriedigt – »also doch einen Hausdrachen! Lehren Sie mich die Weiber kennen, die alte Junggesellen betreuen! – Zu Ihnen kann er also nicht. Aber bei uns ist der Hausdiener fort, und zur Bahn findet er schließlich doch hin in all seiner Düsigkeit und holt einen Koffer und bringt einen Koffer, und unsern Garten kann er uns auch umgraben, aber nicht so obenhin gekratzt, Junge, sondern ordentlich tief ...«

»Jau, Meestern!« ließ sich der Junge zum erstenmal vernehmen.

»Na also, sehen Sie, Herr Professor. – Er fühlt schon wo er hingehört. Und nun läßt du endlich mal deinen dämlichen Bierhahn los, Stillfritz, und sagst dem Nachbar, er hat 'ne Fuhre nach Unsadel. Denn jetzt nach dem Essen den ganzen Weg laufen, das ist für den alten Herrn zu weit, und das Geld für die Fuhre bezahlt er gerne. Hinten ist noch Platz für den Jungen und Herrn Gneis, und so hat jeder seinen Vorteil, und nur die ollen Pferde müssen sehen, wo sie bleiben in dem Sand!«

6. Kapitel
Worin alles anders kommt und Professor Kittguß ein heimlicher Flüchtling wird

Den ollen Pferden war nicht anzumerken, daß sie unzufrieden waren: sie trabten vergnügt ins Land hinein, und auch allen auf dem Wagen war angenehm zumute. Das heißt, von dem Jungen war das so bestimmt nicht zu sagen, weil er noch immer stumm war. Professor Kittguß, dem nun in vierundzwanzig Stunden zum dritten Mal der Unsadeler Landweg beschert war, sah diesmal ohne Gewissensbisse in den herbstlichen Sonnentag: in Kürze würde alles geregelt und jeder bestens zufrieden sein, und er würde heimkehren können zu seiner Apokalypse. Solchen Mut machte ihm der Gendarm Gneis.

Der Kutscher neben dem Professor, ein behaglicher Kriwitzer Ackerbürger, beschränkte die Unterhaltung völlig darauf, daß er von Zeit zu Zeit mit der Peitsche zeigte: »Das ist Hübners Brache. – Köllers Seradella könnte auch besser sein. – Sieh da, hat der Neitzel wirklich schon den Weizen in der Erde.«

Der Professor nickte dann mit dem Kopfe und sagte: »Ja so, ja so«, oder »Jawohl, jawohl«, und friedlich fuhren sie weiter.

Es schien ihm schon die selbstverständlichste Sache, daß er da mit einem Wagen über Land fuhr, ein verdorbenes Schicksal hinter sich aufgehuckt und ein gefährdetes vor sich. Er fand alles so natürlich, daß er recht eigentlich auf ein bestimmtes Heckentor wartete und sehnlich wünschte, es säße ein Junge darauf, nämlich der Hütefritze, und sähe ihn zurückfahren, nämlich den Professor Kittguß.

Aber das Heckentor war leer, und nur die Peitsche wies in die Lücke: »Wilhelm Gau seine Weide. Auch mehr Kattensteert als Klee und Gras!«

»Ach ja, ach ja«, antwortete der Professor.

Dann fuhren sie wieder hinaus aus dem Heckenweg, und das Dorf Unsadel lag noch immer am Wasser, und immer noch stieg der Laubwald drüben flammend uferan.

Der Wagen rollte schneller und schneller, hinter der Windmühle kamen die ersten Häuser, und alles war wieder so still und verwunschen und ausgestorben, heute nachmittag wie gestern nachmittag.

»Nanu!« sagte der Gendarm Gneis und wunderte sich sehr.

Sie rollten am Krug von Otto Beier vorbei, und der Professor zog die Schultern hoch, denn die Schaben hatte er immer noch nicht vergessen. Aber vergeblich schaute er dann in den Hof vom lustigen Bauern Tamm, heute hing dort kein Bauer vom Baum, heute war dort kein Schinkenhüpfen. Alles war leer und still und verlassen.

»Verstehst du das, Karl, wo sind die Leute?« fragte der Gendarm den Ackerbürger.

»Es muß was los sein im Unterdorf. Vielleicht brennt es.«

»Dann hätten wir Rauch sehen müssen, vorhin, als wir über die Kuppe kamen!« Gesicht und Stimme des Gendarmen wurden schon ganz dienstlich. Denn es stimmte was nicht, und was nicht stimmte, das hätte bei einigem Nachdenken Professor Kittguß erzählen können.

Aber der dachte nicht nach, und so fuhren sie ahnungslos an das letzte Gehöft heran und: »Da haben wir ja den Salat«, sagte der Kriwitzer Ackerbürger und parierte die Gäule.

»Was wollen denn hier all die Menschen –?« wunderte sich der Professor.

»Natürlich Päule Schlieker« – brummte der Gendarm und kletterte, den Jungen fest am Kettchen, vom Wagen. »Das sage ich dir aber, Junge, wenn du jetzt in dem Gedränge ausritzen willst und blamierst mich vor all den Leuten –!«

»Ach Gott, jetzt auch noch wieder der Professor!« rief die kräftige Frau Lowising. »Nun kommen auch Sie Unglückslamm zu all dieser Wirrnis und Frechheit ...«

»Natürlich, Karl, wenn was los ist bei uns, da müßt ihr Kriwitzer dabei sein!« lachte der dicke Bauer Tamm.

»Gottlob, daß du kommst, Peter Gneis«, sagte der Gemeindevorsteher Gottschalk schwitzend. »Er gibt sie nicht raus, und rein verrückt ist er ja wohl auch vor Wut. Er läßt keinen ins Haus.«

»Wer gibt wen nicht raus? Mach klar deine Meldung, Otto, dafür sind wir die Obrigkeit«, schnauzte der Gendarm, und ihm jedenfalls sah man die jetzt deutlich an.

Doch da brach es schon durch den ungeordneten Haufen Volks, der sich an Päule Schliekers Gartenzaun und in Päule Schliekers Einfahrt und auf Päule Schliekers Hof drängte – da brach es durch wie ein riesiger Heerbann, und eben jene fünf Diakonissen waren's, die der Professor heute am Vormittag gesehen und um die er seinen Zug versäumt hatte. Und genau wie am Vormittag hatten sie ihre Täschchen in der Hand und liefen eine hinter der andern im Gänsemarsch, und den Anfang machte der Mannskerl von Frau mit fliegenden Haaren am Kinn und den Beschluss die rotbackige Muntere wie frisch vom Lande.

Aber ganz anders als am Vormittag hingen ihnen jetzt die Haare verwirrt unter den Hauben hervor, und ihre Augen funkelten, und ihre Gesichter waren weiß oder rot von Zorn.

Der Mannskerl blieb vor dem Gendarmen stehen, und mit einem Ruck standen auch alle andern, und nur ihre Täschchen pendelten noch ein Weilchen.

»Gottlob, Herr Gneis, daß Sie kommen«, keuchte die Große. »Seit vier Stunden stehen wir hier vorm Haus und bitten und flehen und geben gute und böse Worte, daß er uns einläßt und die Pflegekinder übergibt, wie er laut Anordnung vom Landrat zu tun hat. Aber da rührt sich rein nichts, die Schliekers sind vielleicht absichtlich weggefahren und lassen uns hier stehen ...«

»Da«, sagte der Gendarm und zeigte auf den Schornstein, aus dem leichter Rauch hochstieg. »Da, Schwester Adelaide!« Und als die ihn verständnislos ansah: »Säuglinge können kein frisches Holz aufs Feuer legen. Die sind zu Haus, Schwester Adelaide, und lachen sich einen Ast, und nachher sagen sie, daß sie nichts gehört haben, weil sie geschlafen haben. – Aber ich an deiner Stelle hätte längst die Tür aufgebrochen, Gottschalk, und mit den Wippchen und der ganzen zivilen Unordnung hat es jetzt überhaupt ein Ende. – »Runter da alle vom Hof!« schrie der Gendarm. »Ihr habt hier gar nichts auf fremdem Eigentum zu suchen! – Soll ich dir Beine machen, Frieda? Junge, weg von der Hofmauer!«

Und mit Drängen und Schieben brachte er sie, immer seinen Gefangenen an der Kette, wirklich vom Hof und rief nun: »Jetzt! Mach das Hoftor zu, Gottschalk, und paß auf, daß keiner wieder reinkommt! Nur die Schwestern und du haben ein Recht hier – und höchstens noch der Professor – ja, wo ist der abgeblieben? – Na, egal, nun fange ich an!«

Damit schlug der Gendarm Peter Gneis kräftig gegen die Haustür und schrie: »Hier Gendarmerie! Öffnen Sie, im Namen des Gesetzes, Herr Schlieker – oder ich tret dir deine ollen Fichtenbretter in 'en Klump, daß nie wieder eine Tür daraus wird!«

Unterdes stand der Professor allein im Schliekerschen Garten. Die Menschenwoge hatte ihn vom Hof gespült, dann war er, ihr zu entgehen, ein paar Schritte um eine Hausecke gegangen und in den Garten geraten. Das war gut so, hier war er allein, schon war alles wieder zu viel gewesen, all die Menschen, ihr aufgeregtes Geschwätz, die Dinge, die geschehen waren und geschehen sollten, und an allem war er irgendwie beteiligt.

Undeutlich hörte er das Trampeln gegen die Haustür, die hallenden, kräftigen Rufe des Gendarmen – er setzte sich langsam auf eine Bank, die im Windschutz von Jasmin, Flieder und Pfaffenhütchen stand, und legte seinen großen, schwarzen, weichen Pastorenhut neben sich. Gedankenlos starrte er auf die paar verunkrauteten Herbstblumen zu seinen Füßen, ebenso gedankenlos lauschte er auf den Lärm vom Hof, der sich immer noch steigerte.

Da ließ ihn ein nahes Geräusch zusammenfahren. Eine Hintertür aus dem Haus zum Garten hatte sich geöffnet, ein Gesicht spähte vorsichtig hinaus. Professor Kittguß kannte dies Gesicht, ihm wurde angst.

Aber den Professor hinter seinen Büschen sah es nicht.

»Los, Marie!« rief Frau Schlieker, »es ist keiner hier. Ich will doch sehen, ob die ihren Willen kriegen!«

»Bitte nicht«, bat eine Stimme, die den Professor aufhorchen ließ. »Die Kinder können sich auf dem Wasser erkälten!«

»I wo, in der halben Stunde! Marie!« bat die Frau, »tu mir einmal im Leben einen Gefallen. Ich will auch so nett zu dir sein, wie ich kann. Wir haben doch recht, wenn sie so kommen, fünf Schwestern, das ganze Dorf, der Schulze und nun auch noch der eingebildete Narr, der Gendarm – da sollen sie gerade ihren Willen nicht kriegen! Rosemarie!« bat die Frau. »Ich verspreche dir, morgen wollen wir die Kinder auf dem Amt abliefern. Nur heute nicht, wo die wollen!« Das Mädchen schien zu zögern, sich zu besinnen.

»Tu es doch, Marie!« drängte die Frau. »Bitte!«

»Und wir bringen sie morgen bestimmt zum Amt? Du versprichst es, Mali?«

»Mein heiliges Ehrenwort, Rosemarie!«

»Dann soll es so sein. Mir hilft auch keiner, nicht der Gendarm, der mich immer nur auslacht, nicht ...«

Der Professor stand auf.

Da huschte es schon eilig hinter seinen Sträuchern vorüber, durch den Garten, zum See. Er hörte unterdrückt sprechen, eine Kette klirrte, dann weinte ein Kind.

Er stand entschlußlos, die Frau lief wieder an seinem Versteck vorbei, verschwand im Haus. »Was tue ich, rufe ich den Gendarmen?« überlegte er.

Die Frau kam zurück, noch ein Kind auf dem Arm. Blind und taub lief sie an ihm vorbei. Er folgte ihr durch den Garten, ans Wasser. In einem Boot saß wartend Rosemarie, sein Patenkind, die Kinder hockten oder lagen auf dem Bootsboden.

»Hier, Marie!« sagte Frau Schlieker. »Also bis Dunkelheit bleibst du im Schilf versteckt. Und daß du keines von den Kindern schreien läßt! Ich habe den Nuckel von Erna mit eingebunden.«

»Rosemarie!« rief der Professor voll Schmerz.

Sie sah auf zu ihm, eine Röte stieg in ihre Wangen, wurde stärker ... »Bist du doch da, Pate?« flüsterte sie.

»Was machen Sie hier auf meinem Grundstück?!« fauchte die Frau böse. »Immer der alte Krauter, der zu nichts mehr gut ist. – Los, Marie!«

Und sie gab dem Boot einen Tritt, daß es in den See schaukelte.

»Ich mit!« rief der Professor überlaut und wagte auf seine alten Tage den Sprung.

Er flog, die Tasche in der Hand, dahin über die Wasser ..., sie erschienen ihm unendlich weit und gefährlich ...

Er landete irgendwo, stürzte, fiel. Mit dem Leib schlug er gegen etwas Hartes, ein atemraubender Schmerz durchfuhr ihn ...

»Zurück! Raus mit dem Alten!« rief die Frau am Ufer und faßte nach dem Bootshaken.

»Fahr los!« befahl der Professor. Er saß gelblich, die Hand gegen den Leib gepreßt, auf dem Bootsboden und rang um Atem.

Das Mädchen sah den Bootshaken näher kommen und legte sich in die Ruder. Das Boot schoß auf den See hinaus.

 

»Was ist denn das für ein Skandal?« fragte Schlieker maßlos verwundert und öffnete die Tür, an der sie jetzt schon mit Kuhfuß und Brechstange wuchteten. »Herr Wachtmeister, das gibt eine Anzeige wegen Sachbeschädigung.«

Er stand in der Tür, daß er sie versperrte, und sah überlegen grinsend auf die Wütenden. »Und du, Gottschalk, du alter Dussel, bildest dir auch ein, weil du Schulze bist, mußt du deine Nase in alles stecken. Meine Haustür bezahlst du!«

»Keine Beleidigungen, Herr Schlieker«, sagte der Gendarm Peter Gneis wütend. »Wir haben lange genug geklopft und geschrien. Wenn es eine Anzeige gibt, so gibt es eine wegen Widerstand – und mit Geld ist es diesmal nicht abgemacht.«

»Geklopft?« fragte der Schlieker lachend und wich nicht einen Tritt aus der Tür. »Geschrien? Ja, Herr Gneis, davon habe ich nun wirklich nichts gehört. Ich war im Keller und habe die alten Rattenlöcher mit Glas und Zement verschmiert. Im Keller hört man nichts, und deswegen darf einem die Tür noch lange nicht kaputt geschlagen werden. So viel verstehe ich auch von Recht und Gesetz.«

»Seht ihr«, sagte der Gendarm und sah Schwestern und Schulzen vorwurfsvoll an. »Genau, wie ich es mir gedacht habe! Genau so! – Aber, Schlieker, Schlieker, das kann ich Ihnen heute schon sagen und nehme es auf meinen Diensteid: Diesmal geht es schlimm für Sie aus!«

»Immer ›Herr‹ Schlieker für Sie, Herr Wachtmeister Gneis«, griente Schlieker. »Ich versteh es ja, Sie sind bloß den Umgang mit solchen Verbrechern, wie Sie da einen an der Kette haben, gewöhnt, aber darum bleibe ich doch für Sie immer der ›Herr‹ Schlieker. – Ach, Philipp, mein Junge«, sagte er plötzlich ganz leise und zärtlich: »Freust du dich auch so, daß wir uns wiedersehen? Wirst dich heute noch immer weiter freuen, das verspreche ich dir, hoch und heilig.«

»Lassen Sie die Faxen, Herr Schlieker«, antwortete der Gendarm böse. »Alles andere und der Junge dazu – das findet sich nachher. Jetzt geben Sie erst einmal die fünf Pflegekinder heraus. Es ist eine Sünde und Schande, daß Sie die Schwestern den weiten Weg hierher haben machen lassen, wo Sie schon dreimal vom Amt aufgefordert sind, sie freiwillig abzuliefern.«

»Und habe ich sie denn nicht abgeliefert?« rief Schlieker maßlos erstaunt. »Heute in aller Frühe schon ist meine Pflegetochter mit den Kindern losgefahren, und jetzt müssen sie längst auf dem Amt sein!«

»Das lügen Sie!« rief die rotbackige Schwester empört. »Ich habe doch ein Kind im Haus weinen hören!«

»Herr Schlieker«, sagte der Gendarm überredend. »Was sollen solche Witze? Ich muß bloß Haussuchung machen, und Sie laden sich da Geschichten auf den Hals ... Seien Sie doch ein einziges Mal sinnig und vernünftig und nicht immer mit dem Kopf durch die Wand!«

»Aber ich bin sinnig und vernünftig! Ich sage Ihnen ja, die Kinder sind Klock fünfe auf das Amt gefahren. Wenn Sie nachsehen wollen, bitte schön, Herr Wachtmeister!«

Und damit trat er aus der Tür und gab sie frei.

Die andern flüsterten noch einen Augenblick miteinander, und er sah ihnen zu und grinste. Dann machten sie ihre Haussuchung, und daß die erfolglos bleiben mußte, das wissen wir ja schon. Aber die wußten es nicht und gingen von Raum zu Raum, und die dicke, bärtige Schwester ließ nichts aus, sondern fiel in eigener Person vor jedem Bett auf die Knie, um darunter zu sehen, und wühlte in jeder Kiste und in jedem Korb, als könne ein Kind unter altem Papier und Holzwolle liegen.

»Vielleicht unterm Sofa, Schwester Adelaide?« fragte Schlieker freundlich und versetzte dem Jungen Philipp wieder mal heimlich einen Knuff in die Rippen. Das tat er, sooft er nur konnte. Der arme Kerl ließ sein armes Narrengesicht immer tiefer hängen, und die nun kommende Schliekerherrschaft schien ihm wohl so unerträglich – zumal seine Freundin Rosemarie nicht zu sehen war –, daß er all seine Verstandeskräfte zusammennahm und dem Gendarmen ins Ohr flüsterte: »De Koahn!«

»Wie?!« fragte von der einen Seite der Gendarm, und von der andern bekam Philipp solch einen Puff, daß ihm fürs erste einmal die Luft ausging.

»Vielleicht im Wrukenkeller, Schwester Adelaide?« fragte der Päule freundlich und lüftete einladend die Klappe. Überzeugt waren sie ja nun, daß wirklich nichts im Haus war und der Schlieker ihnen wieder einmal einen Streich gespielt hatte, aber die rotbackige Schwester stieg doch noch hinab und fand wiederum nichts.

»De Koahn!« sagte der Junge dringlicher. Die ganze Hölle wartete auf ihn, das wußte er, aber was so einer, der ihre Qualen schon kennt, für einen Mut haben kann, das geht manchem Gesicherten über alles Begreifen.

»Der Kahn –?« fragte der Gendarm nachdenklich gedehnt. »Wat seggst du?« rief Schlieker jähzornig. »Was hest du to seggen! Hol din Mul o'er ...« Und der Junge bekam das erste »oder« schon, einen Stoß nämlich, daß er gegen die Wand taumelte.

»Lassen Sie das, Herr Schlieker!« verbot der Gendarm. »Natürlich der Kahn. Der dämliche Bengel ist schlauer als wir alle. Schnell nach dem Kahn!«

Und schon liefen sie alle, als brennte der See, zum Bootssteg hinunter; vorauf der Gendarm Peter Gneis mit dem Jungen am Kettchen. Dahinter der dürre Gemeindevorsteher, schimpfend und brummend. Dahinter die fünf Schwestern, die alte Bärbeißige voran, die Rotbackige hintennach, und die Taschen flogen, so liefen sie. Und zu Seiten des Zuges Päule Schlieker und seine Frau Mali – ja, auch die war plötzlich aufgetaucht und tuschelte mit ihrem Mann, tuschelte ...

Da aber lag der See vor ihnen, eine weite mattgrüne Fläche, unter einem blaßblauen Oktoberhimmel, und das Rohr stand still weithin an seinen Ufern.

Plötzlich stand diese ganze aufgeregte Schar Menschen stumm da und starrte auf den See und Steg, als sei da etwas zu sehen. Aber es war nichts zu sehen als eben Steg und See. Weiß der Himmel, was sie eigentlich erwartet hatten! Als könnten die Kindlein vom Himmel gefallen hier aufgereiht liegen – aber nichts, nichts, nichts!

»Und wo haben Sie Ihren Kahn, Herr Schlieker?« fragte der Gendarm mutlos.

»Meinen Kahn? Den habe ich meinem Vetter in Biestow geliehen. Der holt Holz mit ihm vom Biestower Warder.«

»Na schön«, sagte der Gendarm ergebungsvoll. »Sie müssen's ja wissen. Aber daß ich mir heute Abend noch Ihren Kahn in Biestow zeigen lasse, darauf können Sie ... Halt, Junge, was hast du da?«

Denn während er sprach, hatte Philipp, soweit es ihm das Kettchen erlaubte, sich zur Wasserkante gedrängt, und nun hatte er sich gebückt, und nun hob er's auf, und siehe, es war ein kleiner Kinderschuh, blauer Samt mit weißen Pünktchen.

»Herr Schlieker, ich frage Sie, wie kommt der Kinderschuh an Ihre Bootsstelle?« fragte der Gendarm feierlich, denn nun hatte er ein Indiz!

Aber der Schlieker antwortete nicht mit Worten, sondern mit Taten, für dieses Mal war ihm die Galle doch übergelaufen und die lange geübte Verstellungskunst verlorengegangen.

»Das werde ich dir weisen, verfluchter Spion!« Damit drang er auf den Jungen ein und mit ihm seine Frau, und die Schläge fielen hageldicht auf den Armen Philipp, der unter ihrer Wucht und dem Anprall wankte.

Und weil er doch mit dem Gendarmen verkettet war, kam auch der ins Wanken, und Schläge bekam der auch, mit Absicht oder ohne, es war nicht zu protokollieren.

Er fluchte und hob die Hand, und Schulze Gottschalk sprang schlichtend dazwischen und machte es noch schlimmer. Nur die Schwestern schrien bloß aufgeregt, bis auf die Bärbeißige, die stumm Frau Schlieker von hinten festhielt.

Plötzlich aber fuhr aus all dem Geschrei und Gedräng und Geprügel eine zum Kratzen gekrümmte Hand auf des Gendarmen Gesicht zu, und als der die eigene zur Verteidigung hob, rutschte ihm der Knebel des Kettchens fort. Kaum aber merkte der Junge das, so schoß er wie eine Flintenkugel davon, einige zu Fall bringend, anderen zwischen den Beinen hindurch – und schon kletterte er über einen Zaun, lief durch einen Obstgarten, verschwand hinter Büschen, tauchte noch einmal auf, ferne schon am Waldrand.

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