Altes Herz geht auf die Reise

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4. Kapitel
Worin Professor Kittguß der einen Nacht entrinnt, doch in eine noch dunklere gerät

Manch einer, männlich oder weiblich, hätte in der Lage von Professor Kittguß vielen Lärm gemacht, mit den Füßen gegen die Kohlenstalltür getrommelt, nach dem Schlieker geschrien oder geflucht oder geweint. Der Professor, der aus der Heiligen Schrift wußte, daß des Menschen Trachten böse von Jugend auf ist, der aber als rechter Jünger seines Herrn stets so gehandelt hatte, als sei es gut – der Professor also tat von alledem nichts, sondern stand stockstill hinter der zugeschlagenen Tür, wo er eben stand. Nicht einmal die Tasche setzte er ab.

Er war nun nichts wie ein sehr alter Mann, der seinen Kräften viel zu viel zugetraut hatte und den der Hunger mit Schwindel und aussetzendem Denken quälte. Er wußte nicht mehr recht, wo er eigentlich war und warum er hier war. Und wenn ihm dann wieder Sinn und Ziel seiner Reise in die Erinnerung kamen, so fiel ihm auch sofort ein, wie ahnungslos und fremd er in eine Aufgabe wie diese hineingeraten war, und keiner konnte von der eigenen Unzulänglichkeit überzeugter sein als er.

»Ach ja«, seufzte er einmal. »Ach, freilich ja.«

Und dann war er wieder still. Ein Geduldiger ist stark. Eine Nacht kann nicht ewig währen, und jede Tür wird einmal wieder geöffnet.

»Ach, freilich ja.«

Aus dem Dunkel kam es wie Antwort, raschelnd strich es näher. Dann glitt es um seine Beine, und grünlich glänzende Augen sahen ihn an. Es dauerte aber seine Zeit, bis Professor Kittguß begriff, welch Gefährtin sein Verlies teilte, und als er sich nun niederbeugte zur Katze, sie zu streicheln, da kam er nicht auf eins der vielen Koseworte, die wir Menschen für unsere uralte Hausgefährtin gefunden haben, von der Pussi über die Mieze zur Musch, sondern er sprach sie ganz Schriftdeutsch und feierlich an: »Ja, meine liebe Katze ... Ja, meine gute Katze ...«

Die Katze war auch damit ganz zufrieden, und sie strich immer behaglicher um ihn und rieb den Kopf stets emsiger an seinen schwarzen Beinkleidern. Aber zum Schnurren geriet es ihr doch nicht, sondern plötzlich fing sie an zu miauen.

Sie miaute aber so eindringlich und stets stärker und fordernder, daß selbst dem tierfremden Professor der Gedanke kam, sie wolle noch anderes wie Streicheln. Und nach langem Überlegen riet er denn auch auf sein eigenes Leiden: den Hunger. Eine ganze Weile redete er dem Tier zu: »Katze, ich habe ja auch nichts ...« Bis ihm endlich einfiel, daß er doch etwas hatte. Nämlich von der Müllern als zweites Frühstück in der Reisetasche: ein hartgekochtes Ei und eine Buttersemmel.

Die kramte er aus, während das Tier ihn immer jämmerlicher bestürmte, und teilte brüderlich; wenn aber ein Anteil doch größer wurde, so war es nicht seiner.

Dann stand er wieder geduldig im Dunkeln – das Katzentier hatte sich gesättigt verkrochen – und wartete. Schließlich – er wußte nicht, hatte er nun sehr lange oder erst kurze Zeit gewartet, klirrte die Tür wieder und tat sich auf. Der Ausblick auf den nachtdunklen Hof wurde frei, der seinen Augen nach dem schwarzen Kohlenstall freilich dämmerhell schien, und da stand Schlieker und sagte: »Na, nun machen Sie, daß Sie fortkommen. Das wird Sie lehren, sich in anderer Leute Sachen zu mengen.«

Der Professor sah den Schlieker wohl auf dem Hof, aber der Schlieker sah den Professor nicht im schwarzen Stall, und da es mit des Professors Entschluss zum Gehen nur langsam war – denn er wußte ja gar nicht wohin, und erledigt war auch nichts –, so bekam der Schlieker einen gewaltigen Schreck. Er stieß einen Fluch aus und sagte bei sich: »Es wird dem alten Knacker doch nichts passiert sein?! Das wäre eine schöne Geschichte! Ich will Licht ...«

Doch da trat der Professor aus der Bude und ging langsam und ein wenig wankend (denn es war ihm sehr schlecht, und das Gegessene vermehrte nur seine Übelkeit) an dem Bauern vorbei, als sehe er ihn nicht. Dann aber blieb er doch stehen, drehte sich um und sagte: »Auch die Katze zu füttern darf man nicht vergessen.«

Er ging wieder weiter, und dem Schlieker wurde es vor der stillen Gestalt fast unheimlich, stärker schien sie zu schwanken. Dann blieb sie wieder stehen und fragte, halb über die Schulter: »Wollen Sie mir nicht einen Handstock leihen? Ich bin ein alter Mann, und ich weiß nicht, wie weit ich diese Nacht noch zu gehen habe.«

»Jawohl, gern, Herr Professor«, rief Schlieker und sprang wie erlöst ins Haus. Denn wohl zumute war ihm vor seinem stillen Gast, der kein böses Wort sagte, aus vielen Gründen nicht; und wir alle kaufen uns gerne unser schlechtes Gewissen für einen Dreier ab. So sprang er erlöst ins Haus und brachte dem Professor eilfertig den Stock.

»Danke auch schön«, sagte der Professor.

»Nichts zu danken«, antwortete Päule Schlieker und hatte mehr recht damit, als er meinte.

»Ich schicke ihn dann morgen zurück«, sagte der Professor und ging. »Es eilt nicht. Es eilt gar nicht«, versetzte Schlieker und sah der hohen Gestalt nach. »Gute Nacht, Herr Professor«, rief er auch noch. Aber darauf bekam er keine Antwort mehr.

Nicht, daß der Professor dem Schlieker keine gute Nacht hätte wünschen mögen. Nein, aber er war mit seinen Gedanken schon weitab, er überlegte, wo er diese Nacht bleiben würde. Dabei dachte er an die Krugsküche mit den leise raschelnden Regimentern von Schaben, und es ekelte ihn in seiner Säuberlichkeit. Und wieder dachte er an den endlosen, sandigen Weg bis zum Bahnhof Kriwitz, und Müdigkeit und Gleichgültigkeit wuchsen so, daß er sich am liebsten auf einen Stein am Weg hingesetzt hätte, zum Einschlafen.

Aber auch davor bewahrte ihn sein Sinn für Ordnung, und plötzlich fiel ihm der fröhliche Bauer Tamm ein und gleich wurde ihm leichter. Es war, als ginge ein helles Licht von dieser Fröhlichkeit aus, in seine Brust hinein.

»Er ist gerade der Rechte für mich«, dachte er. »Und um Rat und Hilfe werde ich bei ihm auch nicht vergebens anklopfen.« –

Dann kam er aus dem Kalten ins Warme, aus dem Dunkel ins Licht, über seinem Kopf bimmelte die Türschelle endlos, und gerade vor ihm saß auf der Diele vor einem hochaufgefüllten Teller mit fettglänzendem Gesicht der dicke Bauer Tamm, links die Frau Lowising, rechts der Sohn Maxe.

»Ich bin nicht zu sprechen, ich esse«, rief Tamm und blinzelte mit seinen Äuglein, um den Besucher unter der Tür zu erkennen.

Der stand still.

»Oh, Vadding!« rief die Frau Louise, »das ist ja der alte Herr Professor, der zu Schliekers gegangen ist wegen der Marie. Hütefritz hat uns doch erzählt ... Schon war sie hoch, faßte den alten Mann sanft bei der Hand, zog ihn unter das Lampenlicht und sah ihn besorgt an. Aber wie sie ihn so ansah, der da ganz ergeben und verloren lächelnd dastand, lief ein Lächeln über ihr Gesicht, und sie wollte es verschlucken. Aber es kam wieder und wurde stärker, und es wurde ein Lachen daraus, und jetzt lachten auch schon die beiden Männer, und es war eine ganze Weile weiter nichts zu hören als: »Haha!« und »Hihi!« und »Hoho!« und: »Haltet mich! Haltet mich! Ich darf bei vollem Magen nicht so lachen!«

Doch der alte Lehrer stand in all dem Lachen völlig verloren da, und einen Augenblick grübelte er darüber, ob wohl je in seinem Leben Menschen schon einmal so über ihn gelacht hätten.

Und dann fiel ihm wieder sein stilles Studierzimmer mit der stummen Müllern ein, wo ihm so etwas nie hätte geschehen können ... Aber da rief auch schon die Bäurin Tamm ganz erschrocken: »Nein, Herr Professor, es ist ja wohl eine Sünde und Schande, daß wir hier stehen und über solchen feinen Herrn lachen, dumme Menschen, die wir sind. – Willst du jetzt endlich ruhig sein, Maxe! Hol lieber den Spiegel! – Das sieht ja wohl ein jeder, daß Sie keine Ahnung haben, wie Sie ausschauen; und wer Sie so hinterlistig zugerichtet hat, das braucht uns keiner erst zu erzählen. Den Schleicher kennen wir alle hier im Dorf, plattdeutsch und hochdeutsch, Herr Professor. – Und nun weise dem Herrn mal sein Gesicht, Maxe!«

Der Professor blickte in den Spiegel, und da sah er denn, daß er von der Katzenstreichelei und Fütterei sein Teil Kohlenstaub aus dem Schliekerschen Stall abbekommen hatte. Und wenn schon das ganze Gesicht mit Schwarz und Schmuddelig und Grau schlimm genug aussah, um den Mund saß es in noch dickeren Krusten. Hatte ihm schon vorher das Abendessen nicht gutgetan, so wurde ihm jetzt, da er seinen wahren Brotbelag vor Augen hatte, völlig wind und wehe im Leib.

So hat sich wohl noch nie ein geistlicher Professor vom Königlichen Prinz-Joachim-Gymnasium an der Grunewaldstraße zu Berlin-Schöneberg ins Angesicht geschaut; und so tat er's denn mit aller Gründlichkeit und meinte dazu sachte: »Aber der Herr Schlieker hat dies denn nun doch nicht getan, liebe Frau. Ich habe nämlich die Katze in seinem Kohlenstall gefüttert.«

»O Gott, o Gott!« stöhnte der dicke Tamm auf seinem Sofa. »Ganz wie der schwarze König aus dem Mohrenlande. Und auch so freundlich. Haltet mich! Haltet mich!«

Aber bei ihm war das Halten nicht so notwendig wie bei einem andern, denn plötzlich sagte der Professor ganz kläglich: »Ich möchte Ihnen keine Ungelegenheiten machen. Aber ich glaube, ich falle um.« Und damit sank er auch schon an der starken Frau Lowising hin, und hätte sie nicht schnell den Ohnmächtigen umgefaßt, so wäre er wohl hart auf dem Steinfußboden hingeschlagen.

Sein in der Pfanne aufgebratenes Gänseweißsauer mit Röstkartoffeln, auf das er sich so gefreut hatte, hat der dicke Bauer Tamm an diesem Abend nur mit Unterbrechungen – und kalt – essen können. Denn er hat doch immer nachsehen müssen, ob der Professor Kittguß auch richtig ins Bett gebracht wurde und ob die Ziegelsteine, die sie ihm gegen die kalten, müden Füße legten, nicht zu heiß waren. Und in eigener Person ist er noch in Holztuffeln in die Schenke geschoben und hat mit dem Krüger Otto Beier beratschlagt, was so einem alten Mann wohl zur Stärkung anzubieten und einzuflößen wäre.

 

Mit einer Flasche schönem altem Rotwein ist er zurückgekehrt, und dann hat er mit seiner Frau in der Küche einen süßen Glühwein gekocht, und sie sprudelten auch noch ein Eigelb hinein. Aber dabei verabredeten sie, daß sie morgen früh den alten Herrn mit dem Stuhlwagen wieder auf die Bahn und nach Hause schicken wollten: Denn »denen hier ist er nicht gewachsen, nicht dem Schlieker und der Marie auch nicht. Und was will er hier überhaupt?! Wenn's der Behörde recht ist, wie Schliekers es treiben, so wollen wir uns um Gottes willen nicht einmischen. Den Schlieker mag niemand zum Feind, und unserer wäre er gleich, wohnte der alte Mann bei uns.«

Als sie aber mit ihrem Glühwein zum Bewußtlosen zurückkehrten, saß der aufrecht und gerade im Bett und sah sie groß und fremd an. Sie redeten ihm zu, er möge doch trinken und sich wieder hinlegen und gesundschlafen – da bat er nur sanft um seine Bibel aus der Handtasche.

Er bekam sie, aber wenn sich gleich dies Buch der Bücher von selbst bei der Offenbarung Johannis aufschlug: für dieses Mal blätterte der Professor Kittguß weit zurück. Er blätterte durch das ganze Neue Testament und blätterte weiter zurück, bis zu den Psalmen Davids. Und hier las er den 10. Psalm vom Übermut der Feinde, und er las unter anderm: »Herr, warum trittst du so ferne, verbirgst dich zur Zeit der Not? Weil der Gottlose Übermut treibt, muß der Elende leiden ... Der Gottlosen Mund ist voll Fluchens, Falschheit und Trugs, seine Zunge richtet Mühe und Arbeit an. Er sitzt und lauert in den Dörfern; er erwürgt die Unschuldigen heimlich ... Stehe auf, Herr; Gott, erhebe deine Hand, vergiß der Elenden nicht! ...«

Dann sah der Professor Kittguß seine Wirtsleute traurig an, seufzte tief, legte sich auf die Seite und schloß die Augen. Tamms aber schlichen sich auf Zehenspitzen aus dem Zimmer und nahmen die Lampe mit fort.

Jawohl, ja, das Licht war fortgenommen, und Professor Kittguß lag allein mit sich im Dunkeln. Er war sehr traurig, sehr mutlos, sehr krank. Das ungewohnte Bett quälte ihn, ungewohnte Gedanken quälten ihn. Gerade vierundzwanzig Stunden und vier war es her, daß der närrische Bote sein geborgenes, weltfernes Heim betreten hatte, und hier lag er, schon am Ende der körperlichen Kräfte, aber auch müde, todmüde in seinem Geist ... Und morgen würde er wieder zu Päule Schlieker hingehen müssen, und wieder würde er der Tücke und der Falschheit ausgeliefert sein. Was aber würde er erreichen? Was wollte er erreichen? Was in aller Welt konnte er tun –?

Der Professor warf sich auf die andere Seite, aber eine tröstliche Seite war die auch nicht. Er dachte an Vorladungen, gerichtliche Streitigkeiten, Anwälte gar, an Prozesse hin und her – und nun war es ihm, als stünde er in seinem alten Klassenzimmer auf dem Katheder, und eine seltsame Schülerversammlung hatte er vor sich. Da waren bärtige Gesichter, die ihm bekannt und doch fremd erschienen; da waren aber auch der Hütefritz und der Greis, der nach dem Schinken geklettert war. Da saßen der dicke Bauer Tamm und seine Frau Lowising und der derbe Sohn; und nebeneinander hielten den Finger hoch der Päule Schlieker und sein Weib Mali.

An die Tafel aber hatte der Professor seine Gleichung zur Auflösung der apokalyptischen Zeitläufte geschrieben. Er sah sie an, und sie war richtig. Doch niemanden von all denen, die mit dem Finger zeigten, rief der Professor, sondern er sah angestrengt in den Ofenwinkel. Dort war es dämmrig, aber er meinte doch, eine sanfte Helligkeit zu schauen, und er rief leise: »Rosemarie!«

Langsam ging sie zu ihm aufs Pult, und wieder sah er den unbestimmten Märchenglanz ihrer blaugrauen Augen, und das Herz tat ihm weh.

Aber sie nahm von ihm nicht die Kreide, die er ihr bot zur Lösung der Gleichung, sondern sie nahm den Schwamm aus der Schale, und langsam löschte sie Zahl um Zahl. Wie aber eine Zahl nach der andern verging, war es, als breite sich die Schwärze der Tafel im Klassenzimmer aus, und von Zahl zu Zahl ward es dunkler, und schließlich verblieb dem alten Professor nichts wie ein heller Schimmer von ihrer Gestalt.

»Rosemarie!« rief er verzweifelt. »Was tust du?«

Da erlosch auch der Schimmer ihrer Gestalt. Und er war ganz allein und fürchtete sich.

Wiederum war es dem Professor, als läge er in seinem Bett. Er wußte aber nicht, ob er träumte oder wachte. Er hörte ein leichtes Prasseln gegen die Fenster, und aus dem Prasseln rief eine schwache Stimme: »Pate! Wach auf, Pate!«

Er stand auf aus dem Bett und ging ans Fenster und öffnete es, und ein Schatten im Dunkeln sagte: »Pate, kannst du mir denn nicht helfen?! Jetzt soll ich zur Strafe, weil du gekommen bist, die ganze Nacht Wäsche waschen, und ich bin doch so müde, daß ich die Beine nicht mehr unter meinem Leib spüre.«

Professor Kittguß aber rief unwillig: »Könnt ihr denn nicht Frieden halten?! Ich bin ein alter Mann und wünsche nur noch Ruhe und Frieden. Du hast mich nun schon hergerufen, in dies unfriedliche Dorf, zu unfriedlichem Volk, und heute nacht hast du mir auch noch meine Gleichung ausgelöscht, so daß ich nichts mehr habe. Wir alle müssen unsere Heimsuchungen und Plagen ertragen, und ich kann dir nicht helfen.«

Da war es, als weinte der Schatten leise, und dann zerging er in der Nacht. Wo er gestanden hatte, war ein Busch, und traurig schloß der Professor das Fenster, legte sich nieder und quälte sich wegen der harten Worte, die er gesprochen hatte.

Darüber versank er in tiefen, traumlosen Schlaf, und als er erwachte, war es hell in seinem Zimmer von einer fröhlichen Oktobersonne.

An seinem Bett aber saß Frau Lowising, sah ihn freundlich an und sagte: »So, Herr Professor, nun frühstücken Sie erst einmal ordentlich, und wenn Sie dann kräftig genug sind, so ziehen Sie sich an, und unser Maxe fährt Sie zur Bahn. Sehen Sie, was wollen Sie sich hier auf Ihre alten Tage noch mit schlechten Leuten plagen und schlagen? Gegen die Schliekers ist noch keiner Herr geworden, so werden Sie's auch nicht. Die Rosemarie ist auch kein Engel, wenn ihr schon alles Tier- und Kinderzeug anhängt, und daß sie arbeiten lernt, ist ihr nur gut. Wenn Sie aber ganz etwas übriges tun mögen, und Sie haben es und können es, so schicken Sie den Schliekers allmonatlich Geld. Nicht zu viel, dreißig Mark vielleicht, und Sie bedingen sich aus, daß die Schliekers die Marie nett behandeln. Denn für Geld tun die alles, und da bringen sie es vielleicht sogar über sich, nett zu einem Menschen zu sein.«

Bei Beginn dieser Rede hatte der Professor noch eine deutliche Erinnerung an seinen Traum gehabt und hatte die Frau Louise unterbrechen und fragen wollen, ob Rosemarie wohl wirklich in der Nacht an seinem Fenster um Hilfe gerufen hätte. Aber je weiter die zutunliche Frau mit ihrer Rede kam, um so unwichtiger und unwirklicher wurde der Traum, und was sie sagte, schien ihm alles Hand und Fuß zu haben.

Wenn er also zuerst noch ein wenig ängstlich und schuldbewußt gefragt hatte: »Meinen Sie das wirklich?« – so war er nach drei Minuten schon fest überzeugt, daß es so das beste sei, und für sein Geld werde es die Rosemarie haben wie im Himmel.

»Ja, ja«, nickte er immer freundlicher zu der freundlichen Frau. »Dann machen wir es so ...«

»Gottlob, Herr Professor!« atmete Frau Tamm auf. »Sie wären ja wohl hier ganz hin geworden über aller Streiterei und Feindschaft. Und ich denke, der Maxe kann den offenen Stuhlwagen nehmen, es ist heute so ein freundlicher, heller Tag wie ein letzter Sommertag.«

»Ja, ja«, sagte der Professor zufrieden und sah vom Bett über die Schulter zum Fenster. »Es sieht heute sehr hell und freundlich aus.«

Darin aber irrten sie beide: die Bäuerin Louise Tamm wie der Professor Gotthold Kittguß aus Berlin: es war nicht hell und freundlich, es war finsterste Nacht für den Professor Kittguß.

5. Kapitel
Worin Professor Kittguß den zweiten Ruf des Engels erfährt

Eigentlich saß Professor Kittguß, warm zugedeckt, recht gut neben Maxe, dem Kutscher – eigentlich trabten die beiden Braunen schön sachte über den Sandweg, der herwärts so mühselig gewesen –, eigentlich hatte das stille, friedliche Land mit dem herbstlichen Blätterfall seinem Herzen guttun müssen – aber nein, dem Professor war nicht wohl. Gar nicht! Es war angenehm, nun wieder planend an die große, sechzehnjährige, geruhige Arbeit zu denken und an den Vers, der als nächster zu deuten war – es war natürlich auch richtig, daß die Unruhe in der Brust von den Anstrengungen des gestrigen Tages kam und von nichts anderm, gar nichts anderm.

Aber schließlich kam doch ein Heckentor in Sicht, und auf ihm saß, mit den Beinen baumelnd und die Harmonika blasend, ein Junge. Der Professor erkannte ihn wohl: es war der Hütefritz. Und auch der Junge erkannte den Professor, und das Lied vom Heidenröslein brach mitteninne ab. Die Augen des Jungen wurden immer größer, bis sie so groß wie die Teetassenaugen aus dem Märchen schienen; er sah erstarrt, ohne jedes Beinebammeln, mit den großen Augen und dem ganz offenen Munde den abreisenden Professor an.

Der sah ihn wieder an, und die Unruhe in der Brust wurde stärker, wurde zu einem Druck auf dem Herzen. Am liebsten hätte er den Maxe um einen kurzen Halt gebeten. Am liebsten wäre er vom Wagen gestiegen und hätte dem Jungen erklärt, daß so doch nichts für seine Freundin Rosemarie zu tun sei, daß aber Geld geschickt werden und daß damit alles, alles gut werden würde ...

Aber es ging zu schnell, die Braunen trabten, und das Jammerbild auf dem Heckentor glitt vorbei. Nur der Maxe schnüffelte noch wütend durch die Nase und drohte: »Das werde ich dem Bengel, dem Hütefritzen, schon zeigen, ob er zu dudeln oder zu hüten hat! Immer gehen seine Kühe in unsern Klee!«

Worauf der Professor hastig erwiderte: »Oh, nicht doch! Oh, bitte nicht doch!«

Dann schwiegen sie wieder beide, bis die Hecken zurückblieben und das Land sich mit allerlei Äckern immer weiter auftat. Über einen Hügelrücken sah schon der schieferschwarze Kirchturm von Kriwitz, und Maxe verkündete: »Wir schaffen den Zug gerade noch.«

Doch zur gleichen Minute parierte er die Pferde in langsamsten Schritt und starrte verblüfft eine seltsame Prozession an, die ihnen auf dem Straßenrand entgegenkam. Es waren aber eins, zwei, drei, vier, fünf Diakonissen, die da in ihren schwarzen Übermäntelchen und weißen Hauben, eine hinter der andern, gegen den Stuhlwagen anrückten. Jede von den Schwestern trug ein Köfferchen in der Hand, und so gingen sie, ohne die Augen zu heben, heran – vorüber, und nur die letzte, eine derbe, rotbackige, wie gerade vom Lande geholt, hob für einen Augenblick die Augen und sagte leise: »Guten Tag.«

Weil aber die vorderste, ein wahrer Mannskerl von einer Frau, mit wehenden Haaren am Kinn, hustend brummte, erschrak sie und lief beschleunigt, das Täschchen schwenkend, hinter den andern drein.

Der Maxe, den Kopf im Nacken, starrte und starrte, bis die fünf Schwestern um die nächste Hügelecke verschwunden waren. Dann aber drehte er sich, vor Schadenfreude wahrhaft strahlend, dem Professor zu und sagte aus tiefster Brust: »O – haua – haua – ha! So mußte es kommen. Darauf fress ich einen Besen, der Päule Schlieker kriegt heute keinen guten Tag ...«

»Was haben denn die Diakonissen mit Herrn Schlieker zu tun?« fragte der Professor ängstlich.

»Zu tun –!?« fragte der Maxe dagegen, fast empört über so viel Unverstand. »Zu holen haben sie die Kinder!«

»Welche Kinder?« fragte der Professor und hätte doch lieber nicht weiter gefragt.

»Natürlich die Pflegekinder, die bei Schliekers sind. Aber wer nicht hört, muß fühlen. Jetzt holen sie ihm die Kinder fort und damit hundertfünfzig Mark im Monat! Ohgottegottegott – wie das den Schliekers weh tun wird!«

Und Maxe grinste über das ganze dicke, derbe Gesicht vor Mitgefühl.

Der Professor mußte immer noch weiter fragen, sein Gewissen ließ ihm keine Ruhe. »Halten die Schliekers denn die Kinder wirklich so schlecht?«

Aber der Maxe war ein Bauernsohn und vorsichtig wie seine Eltern. »Weiß ich das?!« fragte er dagegen. »Ich gehe nicht zu Schliekers, und auf das Gerede der Leute darf man nicht hören. Aber jedenfalls sind die fünf Schwestern unterwegs, und ich gäbe einen Taler, wenn ich beim Wegholen über den Zaun sehen könnte. – Willst du mal laufen, Liese! Wir kriegen den Zug nicht mehr!«

 

»Und die Rosemarie?« fragte der Professor angstvoll. » Das Kind holen die Schwestern doch wohl auch?«

»Die kleine Thürke? Wieso denn die –?! Die Thürke ist Vormundschaft, und die fünf lütten Bälger sind Landratsamt – das hat doch nichts miteinander zu tun, Herr Professor!«

»Aber das Kind kann doch nicht dort gelassen werden«, protestierte der. »Wenn die Schliekers so schlecht sind ...«

»Da geht er hin!« schrie Maxe und hielt die Pferde mit einem Ruck an. »Haben wir's doch nicht geschafft! Ich sage es ja. Ich sage es ja!«

Und richtig – eben tauchte pustend und schnaufend hinter dem Kriwitzer Bahnhofshäuschen die Kleinbahnlokomotive auf, zwei Wägelchen hinter sich. Mit Klingling-Klingling fuhr sie die Hügelseite entlang und Klingling-Klingling verschwand sie im Walde.

»Da!« sagte der Maxe und starrte.

Der Professor Kittguß starrte mit. »Und was machen wir nun?« fragte er dann hilfeflehend seinen Kutscher.

»Fahren Sie doch mit dem Sechs-Uhr-Zug, Herr Professor«, sagte der Maxe überredend und erinnerte sich sehr, wie dringlich die Eltern diesen Gast aus dem Dorf gewünscht hatten. »Kriwitz kann man sich schon mal ein paar Stunden ansehen, und bei Stillfritzens im ›Erbherzog‹ ißt man großartig!«

Und damit war er auch schon runter vom Wagen, hatte die Reisetasche auf die Straße gesetzt und bot dem Professor die Hand zum Absteigen.

Der nahm sie mechanisch. »Beinahe«, sagte er bedenklich, »beinahe wäre es wohl Pflicht, wieder nach Unsadel zu fahren. Da nun die Schwestern zu Schliekers gehen ...«

»I wo, Herr Professor«, sagte Maxe leichthin und war schon wieder oben. »Was hat denn das mit dem zu tun? Ich sage es Ihnen doch, Amt ist Amt und Vormundschaft ist Vormundschaft. Auf Wiedersehen, Herr Professor, und gute Reise. Ich werde die Eltern auch schön grüßen.«

Damit aber stand der Professor Kittguß allein auf dem Vizinalwege von Unsadel nach Kriwitz und sah dem Stuhlwagen, den Braunen und dem Maxe nach, die sich eilig entfernten. Etwas war nicht recht, und was das Unrechte war, das wußte er auch, aber er wollte es nicht wissen.

So nahm er denn seine Tasche und ging langsam in das große Amts- und Pfarrdorf Kriwitz hinein, am Bahnhof vorüber durch die lange Häuserzeile mit ihren nicht städtischen und nicht ländlichen Häusern und mit ihren fünf gewaltigen Kaufläden. Denn Kriwitz ist ein rechter Landhandelsort, in dem der Bauer ein- und verkauft, was alles er braucht und erübrigen kann.

Der Professor aber wäre wohl in all seinen Gedanken immer weitergegangen durch den Ort, aus dem Ort in das herbstliche Land hinein, wenn er nicht plötzlich von einer stattlichen Torfahrt her angerufen wäre: »He, Sie! Ja, Sie mit der Tasche!«

Der Professor sah unschlüssig auf den Mann, der da mit listig und vergnügt funkelnden Augen und dem unglaublichsten blauroten Zinken von der Welt unter dem Tore stand.

»Meinen Sie etwa mich, lieber Herr?« fragte er behutsam.

Der andere sah suchend die Straße auf und ab. »Sehen Sie noch eine Tasche?« fragte er. »Ich jedenfalls nicht! – Nein, Sie sind der Mann, Sie hängen an der Tasche. Also sind Sie ein Reisender. Aber wenn«, sprach der Mann und rieb sich nachdenklich den Kolben, »ein Reisender in unsern schönen Ort kommt, so geht er nicht am ›Erbherzog‹ vorbei, sondern hilft dem armen Stillfritz, das Bier laufend zu halten. Das ist im Interesse aller.«

»Soso«, sagte der Professor vorsichtig. »Sie sind also ein Gastwirt?«

»Oh, lieber Herr«, rief der andere, »alles, was wir sind, waren und sein werden, das können wir uns drinnen bei einem Topp Bier viel besser erzählen!«

»Ich trinke nie Bier«, sagte der Professor, nicht ganz auf der Höhe eines Erklärers der Offenbarung. »Und am Vormittag schon gar nicht.«

»Aber einen lütten Köm?« fragte der Wirt und kniff die Augen ein. »Einen schönen, klaren Köm?«

»Nie!«

»Und doch so alt geworden«, meinte der Wirt bedauernd. »Aber Scherz beiseite, kommen Sie rein, und leisten Sie mir ein bißchen Gesellschaft. Ihre Zigarren oder was Sie da in der Tasche tragen, kriegen Sie immer noch in einer halben Stunde verkauft. Ach, lieber Herr«, bat er nun wirklich, »Sie ahnen ja nicht, was das für einen Gastwirt heißt, der sich Morgen für Morgen seine toten Bierhähne und die leere Gaststube anschaut – wie kümmerlich einem da zumute ist.«

Dem Professor war auch kümmerlich zumute, und die fünf oder sechs Stunden bis zum nächsten Zug abzulaufen ging über seine Kraft. Zweifelnd betrachtete er sich seinen seltsamen Partner. »Aber Bier oder Schnaps trinke ich nicht«, erklärte er dann.

»Müssen Sie ja gar nicht«, antwortete der Wirt. »Jetzt kommen Sie erst mal rein. Meine Frau hat eine schöne Hühnerbrühe auf dem Feuer, und wer sanft ist, will auch sanft essen – Sie sind doch sanft?«

»Ich hoffe es«, sagte der Professor und setzte sich aufatmend auf die Ofenbank.

»Habe ich gleich gesehen«, antwortete der Wirt zufrieden. »Also Hühnerbrühe? Ja? Wirklich –? Na, – denn schön und prost!«

Er zapfte sich am Bierhahn ein halbes Glas, betrachtete es kummervoll, murmelte: »Trübe, trübe« – kippte es und sprach lebhafter: »In diesem Sommer, so zur Heuernte, wir haben manchmal sogar Autofahrer als Gäste, wegen der schönen Natur, ich verstehe nichts davon, aber meinetwegen, soll sie schön sein! Aber essen Sie was, jetzt bestelle ich Ihnen erst mal die Brühe! Sie sehen so bleich um die Nase aus. Nehmen Sie da meinen Kolben!« (Und der war wirklich erstaunlich blaurot.) »Ich werde meinem Feldwebel sagen, er soll Ihnen ein Ei reinschlagen.«

Er stand tiefsinnig vor dem Gast und schlug sich die Serviette gegen die Hosen.

»Sie wollten mir eine Tasse Hühnerbrühe bestellen«, mahnte der Professor, als nichts mehr kam.

»Ja, richtig«, besann sich der Wirt, ging aus der Tür und war schon wieder da. »Daß einen heutzutage keiner mehr zu Worte kommen läßt, man vergißt seine eigene Rederei. Stehe ich also im Frühjahr hier unterm Torweg, und das tollste Gewitter geht herunter mit einem Gepladder wie aus Mollen, da spritzt ein Auto vor, so ein richtiger feiner Berliner Wagen ... Und halten und Schlag auf und raus schießen zwei Damen und wollen hier rein ... Ich aber stelle mich so recht breit hin und kriege die eine zu fassen und kriege die andere zu fassen und halte sie und sage ganz gemütlich: ›Nur nicht drängeln, meine Damen, es kommt jede rein. Wer ist denn nun die Feinste und hat den Vortritt?‹ Und der Regen pladderte runter auf sie und lief ihnen in den Nacken, und geschrien haben sie und gezappelt ...« Er sah den Gast gespannt an und rieb sich wieder einmal den Kolben, den Zinken, die Leuchtblüte. »Denken Sie, die haben den Spaß verstanden?! Nicht die Bohne! Geschimpft haben sie wie die Spatzen, und weggefahren sind sie ohne Einkehren. Was aber der Mann war, der dazu gehörte, der hat mich noch Pflaumenaujust geheißen – bin ich Pflaumenaujust –?«

»Ja«, sprach der Professor mit fester Stimme. »Und wenn Sie mir jetzt nicht sofort die Hühnerbrühe bringen, gehe auch ich!«

Vor diesen starken Worten war der Wirt Stillfritz bis ans Ende des Lokals gewichen. »Sehen Sie«, sagte er bitter und sah den Professor vorwurfsvoll an, »gibt man sich Mühe und erheitert die Gäste, gleich heißt man Pflaumenaujust. Scherz wird heute nicht mehr verstanden. Aber wie unsereinem dabei zumute ist, danach fragt keiner. Es ist ja nicht nur das Bier in den Hähnen, wenn Not am Mann ist, halte ich das auch allein laufend, es ist ...«, er sah schielend zur Decke – »es ist noch ganz was andres. Es rieselt. Es fällt. Ich wünsche Ihnen ein Landhotel und jeden Sonntagmorgen pünktlich grauen Himmel und Regen, da wissen Sie, was Pflaumenaujust heißt ... Die Hühnersuppe kommt sofort, Herr!« schnarrte er plötzlich und war aus dem Lokal, und der Professor saß allein.

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