Armas vom See

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„Magst Du das Fruchtfleisch löffeln?”

„Oh ja, gern.”

Achternberg gab Armas die ausgepreßten Orangenhälften, reichte ihm einen Teelöffel und ließ ihn zunächst das Fruchtfleisch aus der Schale der Presse auflöffeln, ehe er das Ganze für sich selbst wiederholte. Dann setzte er sich zu dem Jungen an den Tisch.

„Du magst Bücher wirklich, nicht wahr?”

„Oh ja. Ich besitze selber etwa hundertzwanzig, Ihre Krimis und Erotikgeschichten mitgerechnet.” Armas nahm einen ordentlichen Zug des frischen Saftes. Man hörte es beinahe zischen, solch einen Durst hatte er.

„Was liest Du besonders gern?“

„Zur Unterhaltung besonders gern Krimis und schöne Erotika, sonst hätte ich Ihre Bücher nicht, aber ich mag auch Agatha Christie, vor allem ihren Privatdetektiv Hercule Poirot mit seinen kleinen grauen Zellen und wie übertrieben überzeugt er von sich ist, und Georges Simenon.”

„Liest Du auch andere Erotika?”

„Manchmal. ,Fifty Shades of Grey’ habe ich im Original gelesen, eine etwas verdrehte Geschichte, aber ganz witzig. Daß ein schönes Mädchen mit 21 noch Jungfrau sei, fand ich etwas seltsam, und sie zur Unterwürfigkeit zu zwingen und ein Mädchen zu verhauen, um selber Lust zu empfinden ist nicht gerade mein Ding, aber da draußen passiert sicher viel, was ich gar nicht kenne und für möglich halten würde. Ist das nicht so?” Armas trank das Glas leer, leckte seine Lippen und sah Achternberg fragend an.

„Da hast Du wohl recht. Ich staune manchmal selbst immer noch, was zwischen zwei Menschen so alles möglich ist, vor allem zwischen Mann und Frau.”

Armas besann sich kurz.

„Ich habe vor ein paar Monaten ein Buch von Henry Miller gelesen. billig von einem Grabbeltisch gekauft. Nach knapp der Hälfte habe ich es angewidert weggelegt. Der Typ war ja nur kaputt. Was der für eine Sicht auf die Frauen hatte, schrecklich. Aber angeblich ist es Weltliteratur, sogar von Frauen ins Deutsche übersetzt. Ob die sich nicht geekelt haben?“ Armas verzog sein Gesicht in Abscheu.

„Ich glaube, ich weiß, welchen Titel Du meinst. Mochte das Buch auch nicht. Habe in meinem Leben nur zwei fürchterlich langweilige Krimis und diese frauenverachtende Pornographie nicht zu Ende gelesen.”

Achternberg trank einen ordentlichen Schluck des frischen Saftes.

„Möchtest Du noch ein Glas?”

„Gern, wenn ich noch eines haben darf.”

„Aber gern.”

Achternberg erhob sich und wiederholte die

Prozedur.

„Und was liest Du sonst noch?”

„Hm, besonders gern Biographien. Es ist so spannend, was andere Menschen erlebt haben, vor allem in früheren Jahrhunderten.” Armas dachte kurz nach. „Manchmal kann ich kaum glauben, wie die Menschen damals ohne unsere heutigen Möglichkeiten überhaupt leben konnten. Wie schlecht die medizinische Versorgung war, daß man an einem schlechten Zahn oder am Blinddarm sterben konnte, oder auch, wie beschwerlich das Reisen war. Welche Abenteuer die Entdecker erlebt haben. Die spannenden Entdeckungsfahrten von James Cook oder auch die Reisen von Alexander von Humboldt. Da wäre ich gern dabei gewesen.”

Armas’ Augen leuchteten. Achternberg bewunderte die Begeisterungsfähigkeit des Jungen. Er sah ihn lebhaft vor sich in schmucker Kadettenuniform bei Captain Cook, in flammender Bewunderung an den Lippen des berühmten britischen Entdeckers hängend, der im Umgang bekanntlich nicht ganz einfach war. Oder wie er als glühend begeisterter Sekretär Humboldt in Südamerika begleitet haben könnte.

„Und was machst Du sonst gern, ich meine, nur ein Bücherwurm wirst Du auch nicht sein, oder?”

„Nö, bin ich auch nicht.“ Armas machte eine kurze Pause, als wollte er sich besinnen, ob er davon erzählen sollte. „Äh, ich singe sehr gern, ich zeichne und male, und, äh, ich weiß gar nicht, ob ich es jetzt schon …“

„Na, spuck es aus, Deinen Kopf wird es nicht kosten!“ Achterberg lächelte ihn aufmunternd an, goß den frischen O-Saft durch das Sieb und stellte das gut gefüllte Glas vor Armas hin.

„Oh, danke schön.“ Der Junge nahm wieder einen kräftigen Zug.

„Äh, ja, ich, äh, ich ... “

Achternberg nickte nochmals zur Aufmunterung und setzte seine Lachfalten dabei ein.

„Ja, äh, ich schreibe auch ... ein wenig.“

„Tatsächlich? Ist denn das die Möglichkeit! Ein Kollege!“

Armas strahlte, was ohne Zweifel die ehrenvolle Bezeichnung „Kollege“ ausgelöst hatte, und er wurde rot.

„Kein Grund, rot zu werden!“

Daß Achternberg es so deutlich bemerkt hatte, ließ Armas nur noch tiefer erröten, und er bekam unregelmäßig rote Flecken an Hals und Brust.

Für Achternberg war es ein weiteres willkommenes Zeichen, einen empfindsamen Menschen vor sich zu haben.

„Und was schreibst Du?“

„Soll ich das wirklich sagen?“

Armas wirkte plötzlich scheu und er senkte den Blick, ehe er seinen Gastgeber ebenso plötzlich entschlossen und fest ansah.

„Zärtliche Liebesgeschichten und brutale Morde.“

Armas schien erleichtert, daß es „draußen“ war.

Achternberg wirkte völlig gelassen, zeigte sich keineswegs irritiert.

„Und warum gerade diese beiden Themenbereiche?“

„Hm, mich interessieren die Gegensätze. Warum sind Menschen einerseits so unglaublich zärtlich miteinander, und andererseits sind sie in der Lage, sich aus teils nichtigen Gründen gräßlich abzuschlachten. Und manchmal passiert beides zwischen zwei Menschen, die sich einmal geliebt haben, das finde ich besonders beunruhigend und faszinierend zugleich.“

„Hast Du schon etwas veröffentlicht?“

„Ich habe es versucht, aber die Verlage, die ich angeschrieben habe, lehnten sämtlich ab. Ich bin wohl nicht gut genug.“

Armas sah ein wenig traurig aus.

„Du darfst Dich von ignoranten Lektoren nicht irre machen lassen. Mir ging das anfänglich auch so. Es passe nicht ins Programm, ihre Aufnahmekapazität sei begrenzt, dabei ist es meist nur der begrenzte Horizont mancher sogenannter Entscheidungsträger: wenn die nur kurz nicken, stoßen sie bereits an, …“ Armas grinste. „… manche waren zumindest so ehrlich, mitzuteilen, das Manuskript habe ihnen insgesamt nicht gefallen.“

„Und wie haben Sie es dann doch geschafft?“

„Über eBücher bei einem Online-Verlag. Ganz plötzlich platzte der Knoten und Druckverlage waren interessiert, nachdem eine Agentur in Berlin das Ganze in die Hand genommen hatte.“ Achternberg machte eine Pause und nahm einen kräftigen Schluck des frischen Orangensaftes. „Aber sag einmal, darf ich etwas von Deinen Texten lesen?“

Armas sah Achternberg bass erstaunt an.

„Das würde Sie wirklich interessieren?“

Achternberg schmunzelte.

„Natürlich, sonst würde ich es nicht sagen.“

„Und was möchten Sie haben? Krimi oder Erotika?“

„Beides. Schreibst Du bei den Krimis Einzelgeschichten oder eine Serie?“

„Sowohl als auch. Angus Ludwig McPherson Berghuber ist mein schottisch-bayerischer Inspektor, aber ich habe auch schon zwei Einzelfälle entwickelt.”

„Und bei der Erotika? Interessiert Dich mehr heterosexuelle Erotik oder homosexuelle?”

Armas wurde knallrot. Er schlug die Augen nieder. Achternberg war überrascht, daß seine völlig normale Frage den Jungen derart verlegen machte. Aber die nächste Überraschung war noch besser.

„Bisexualität finde ich spannend.”

Armas sah Achternberg fest an, der in des Jungen Augen die Befürchtung bemerkte, er könne dafür kritisiert werden.

„Warum gerade das?” Achternbergs rechte Augenbraue ging hoch.

„Es ist doch irgendwie witzig, daß es Menschen gibt, die sich auf beiden Gebieten ihre Streicheleinheiten holen, oder nicht?”

„Wenn Du es sagst. Man könnte es für komisch-seltsam, apart, aber auch beneidenswert halten.”

„Ich weiß immer noch nicht, was ich davon halten soll, aber ich habe einen Klassenkameraden schon mit Mädchen, aber auch mit Jungs knutschen sehen. Soll ich ihn nun bedauern, daß er sich nicht entscheiden kann, oder beneiden, daß er in der Lage ist, an beiden Ufern zu grasen?”

„Das kommt auf die Sichtweise an“, meinte Achternberg. „Manch einer lehnt es vielleicht nur deshalb ab, weil er neidisch ist oder sich selbst nicht traut oder in seinen bürgerlichen Konventionen gefangen ist, aus denen er sich qua Erziehung nicht lösen kann oder lösen will. Witzigerweise wird es Mädchen und Frauen weniger übelgenommen hin und wieder mit dem eigenen Geschlecht zu verkehren als Jungen und Männern. Als ich jung war, habe ich Frauen miteinander tanzen sehen, dabei fand niemand etwas, aber es hätten Männer in der Öffentlichkeit wagen sollen, miteinander Standard zu tanzen, da wäre die Hölle los gewesen. Das wird bis heute schief angesehen, denke ich. Sieht aber bestimmt irgendwie auch verquer aus, wenn ich ehrlich bin. Jedenfalls habe ich es noch nicht erlebt. In Schwulenkneipen mag das anders sein, keine Ahnung. Aber wie willst Du über bisexuelle Erotik schreiben, wenn Du keine Erfahrung hast, und wenn ich Dich richtig verstanden habe, bis Du noch Jungfrau. Du hast außer mit Selbstliebe überhaupt keine Erfahrung, nicht wahr?”

Armas senkte errötend den Kopf. Achternberg war klar, daß das des Jungen wunder Punkt war. In seiner Jugend waren alle Klassenkameraden, einschließlich er selbst, in diesem Alter durch die Bank Jungfrauen. Er wußte nur von zwei Mädchen, eine war eine Schönheit mit einem um einige Jahre älteren Partner, die andere ebenso hübsch wie wild, daß sie bereits Sex hatten, aber das war es auch. Man bezog aus Jugendzeitschriften mit legendären Beraterkolumnen seine „Kenntnisse”, aus den damals als anregend empfundenen, im Erwachsenenalter nur noch als lächerlich wahrgenommenen „Schulmädchenreporten” und den später fast kultigen Oswalt-Kolle-Aufklärungsfilmen. Alles von liebenswürdig harmloser Art − in einer Spielszene am Strand war die einzige echte Erektion im Halbdunkel zu sehen − nichts, im Vergleich zum überbordenden Sex- und Pornographieangebot, dem sich Armas und seine Generation ausgesetzt sahen, wenn er denn hinsah, wovon Achternberg als fast sicher ausging. Diese Überfrachtung hielt er nun schon wieder für mitleiderregend bis gefährlich für die Teenager, die damit ein falsches Bild von der erotischen Wirklichkeit vorgegaukelt bekamen. Aber woher sollten sie es auch haben? Von klinisch sauberem Aufklärungsunterricht in der Schule, wie er es mit knapp 16 Jahren durch einen Religions- und Wirtschaftskundelehrer erleben durfte und von Eltern, die bis in die Gegenwart nicht in der Lage waren mit ihren pubertierenden Kindern schamfrei darüber zu sprechen? Es mochte löbliche Ausnahmen geben, aber er kannte keine. Nach seinem Aufklärungsunterricht stand für ihn jedenfalls fest, daß sei alles viel zu kompliziert, das würde er nie machen. Wie solle das denn gehen, urinieren und Samen ausstoßen aus ein und derselben Leitung? Was wäre denn, wenn er gerade müsse und die Sahne sei im Anrollen … ? Fragen über Fragen. Alles reichlich seltsam und wenig praktikabel! Glücklicherweise hatte er sich später doch entschlossen, den Spaß mitzumachen und zu praktizieren, wann immer sich die Gelegenheit mit einer süßen Partnerin dazu bot.

 

„Kann man denn als Schriftsteller nur aus der Selbsterfahrung schöpfen oder nicht doch auch aus der Beobachtung und Phantasie?”

Armas legte seinen Kopf leicht schräg und erhob seinerseits die rechte Augenbraue.

„Das kommt darauf an, aus welchen Quellen man zu schöpfen vermag.”, erwiderte Achternberg. „Eine Grundregel besagt, man soll nur über das schreiben, was man kennt. Nun kann aber kein Krimiautor erst ein paar Verbrechen ausprobieren, ehe er über Kriminalfälle kompetent schreiben könnte. Das hieße Professionalität zu übertreiben. Dafür gibt es Pressestellen der Kripo, die meist gern helfen und oft betonen, man solle nur nicht über realitätsnahe Polizeiarbeit schreiben, das sei viel zu langweilig. Man muß dabei auch seine eigene dunkle Seite zu Wort kommen lassen, die man im wirklichen Leben zumeist erfolgreich unterdrückt.”

„Haben Sie denn eine dunkle Seite?” Armas war gespannt neugierig.

„Aber natürlich“, antwortete Achternberg knapp und ohne zu zögern. Danach trank er einen großen Schluck des frischen O-Saftes, als wolle er sich Zeit für die Formulierung einer ausführlicheren Antwort verschaffen. Und Armas faßte nach.

„Wie sieht sie denn aus, Ihre dunkle Seite?” Er legte den Kopf schräg.

„Oh, ganz einfach, wie bei den meisten Menschen. Ich habe bereits einige Morde in Gedanken begangen, ganz unabhängig von meinen Kriminalgeschichten. Dabei habe ich einige mir unliebsame Zeitgenossen bestialisch ins Jenseits befördert. Und Du, wie sieht das Dunkle in Dir aus?”

„Düüster, heel düüster [Dunkel, sehr dunkel]”, sagte der Junge plötzlich auf Platt und grinste.

Achternberg schmunzelte. Armas wollte es offenbar nicht erzählen. Achternberg machte keinen Versuch, weiter in ihn zu dringen. Armas würde schon irgendwann damit herausrücken.

„Aber sag, wie schreibst Du? Legst Du den gesamten Rahmen einer Geschichte vorab fest und füllst ihn dann aus oder schreibst Du szenenweise, wie es zum Beispiel Michael Ende getan hat, und fügst es danach zusammen ?”

„Nein, ich denke mir ein paar Figuren aus, die von Anfang an dabei sein sollen, eine Anfangsszene und dann lasse ich die Geschichte laufen, so wie es sich gerade ergibt. Ich weiß eigentlich nie, wie es ausgeht. Wie im wirklichen Leben, oder wissen Sie bei Ihren Geschichten vorher, wie sie enden werden?”

„Du wirst es kaum glauben, ich halte es exakt genauso. Ich lasse mich fast immer vom Ende überraschen, schreibe im Grund genommen nur mit, was meine Figuren vorgeben, die meist recht schnell ein Eigenleben entwickeln. Ich hätte zum Beispiel auch gedacht, daß Du heute per Fahrrad über Land zu mir kommen und Dich nackt auf meiner Terrasse sonnen würdest, so wie ich keine Vorstellung habe, wie es mit uns weitergeht.”

Achternberg sah Armas forschend an. Beide tranken den Rest des zweiten Glases des frisch gepreßten O-Saftes aus. Armas setzte seines zuerst ab.

„Sind wir denn ein ,Wir’ und ,Uns’? Und hat es Sie gestört, daß ich mich einfach so bei Ihnen niedergelassen habe, und daß ich auch hier lieber nackt herumlaufe?”

„Wenn Du mich störtest, wärest Du nicht hier, junger Mann”, stellte Achternberg entschieden klar, was über Armas’ Gesicht ein glückliches Lächeln huschen ließ, wobei nicht erkennbar war, ob er sich über sein Willkommensein oder die erstmalige Bezeichnung „junger Mann“ freute. Vermutlich beides.

„Daß Du auch hier gern nackt bist, stört mich ebensowenig, so ungewöhnlich wie es ist, aber das bist eben Du, und Du bist ein angenehmer Anblick, ein lebendes Kunstwerk der Natur, das man im Museum nur als kalte Bronze- oder Marmorstatue zu sehen bekommt.”

„Sehe ich denn aus wie ein Museumsstück?” wollte Armas schelmisch grinsend wissen. Dabei stand er auf, trat ein wenig zurück und nahm, wie einstudiert, äußerst gekonnt die Pose einer griechischen Jünglingsplastik ein, mit entsprechendem in die Ferne gehenden Gesichtsausdruck, den er aber nicht lange halten konnte, weil es ihn gar zu sehr amüsierte.

Achternberg betrachtete ihn so genau, als sähe er ihn an jenem Tag zum ersten Mal.

„Du bist eine Schönheit“, sagte er ruhig mit seiner sonoren Stimme, „und jedes Museum, jede Kunsthalle könnte sich glücklich schätzen, ein lebensnahes Bild oder eine klassische Skulptur von Dir zu besitzen. Du wärst ein Publikumsmagnet, ganz sicher. Beides würde ich jetzt sofort mit ersten Skizzen von Dir umsetzen, aber ich bin leider nur Wortkünstler, kann weder figürlich zeichnen noch malen, was ich jetzt mehr bedauere denn je. Aber vielleicht mache ich Photos von Dir, mag sein für einen Kalender oder einen Bildband. Was hieltest Du davon?”

„Keine schlechte Idee”, entspannte sich der schöne Jüngling, ohne weiter darauf einzugehen, und setzte sich wieder an den Küchentisch. „Aber ich kann zeichnen und malen. Darf ich Sie malen, wenn Sie lesen, schreiben, angeln?”

Armas sah Achternberg mit aufmunterndem Blick an, den Achternberg mit einem zustimmenden Gegenblick beantwortete.

„Ich störe Sie dabei gewiß nicht. Sie müssen mich gar nicht beachten, wenn ich meine Skizzen anfertige. Darf ich vielleicht meine Staffelei mitbringen, Leinwand und Malutensilien?”

„Bringe mit, was immer Du benötigst, um arbeiten zu können. Du störst mich bestimmt nicht. Ich nehme ab einem gewissen Punkt meine Umgebung nicht mehr wahr, wenn ich schreibe. Außer ich schreibe über Dich, dann nehme ich Deine Anwesenheit als zusätzliche Inspiration, weißt Du.”

Armas war sichtlich überrascht.

„Sie würden über mich schreiben? Ich bin doch gar nicht interessant.”

Armas’ rechte Augenbraue strebte nach Höherem.

„Ich verrate Dir etwas“, erwiderte Achternberg. „Ich schreibe bereits über Dich. Ich skizziere Dich, ja ich male und skulptiere Dich mit Worten.”

Armas errötete augenblicklich und senkte den Blick, nur um sein Gegenüber im nächsten Moment fest und neugierig anzusehen.

„Und wie machen Sie das? Sie kennen mich doch kaum.”

Da ließ Achternberg seinen PC hochfahren, suchte das begonnene Manuskript über den schönen Jüngling, bot Armas seinen Platz an und ließ ihn lesen, was er vorab bislang nicht einmal seinem Lektor erlaubt hatte.

*

Einen Tag später

Am nächsten Tag war Achternberg recht früh wach, früh für seine Verhältnisse. Es mochte hauptsächlich die Neugier darauf sein, was Armas an diesem Tag wohl tun würde, ob er sich überhaupt blicken ließe.

Nachdem Achternberg seinen Tagesbeginnritualen Genüge getan hatte, setzte er sich an seinen alten Schreibtisch, erledigte einige routinemäßige Internetabfragen und sah nach seiner elektronischen Post. Zum ersten Mal seit Tagen hatte er nicht das Bedürfnis, an den See zugehen, um den Jungen dort zu erwarten. Nach der Formulierung und Absendung eines Elektrogramms minderer Bedeutung sah er auf der Terrasse nach, ob mit dem Liegestuhl alles in Ordnung sei, stellte für Armas eine gute Sonnencreme bereit und breitete ein Badetuch über dem Liegepolster aus. Er war sich ziemlich sicher, daß der Junge an diesem Tag wieder über den Landweg zu ihm kommen würde. Vielleicht würde er sich zunächst sonnen wollen, ehe er zu malen begönne, was Achternberg als ziemlich gesichert annahm. Er würde derweil zu schreiben beginnen und sich nicht stören lassen, wie er auch Armas nicht würde stören wollen. So verging der Vormittag. Achternberg vergaß die Zeit und die Wahrnehmung seiner Umgebung.

Als er dann doch auf die Uhr sah, murmelte er vor sich hin, er müsse doch mal nachsehen, ob …

… und richtig, Armas war da. Er lag, als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt, gut eingecremt und mit Schweißperlen auf seinem gesamten Körper in der Sonne − und döste.

Achternberg betrachtete den schönen Jungen von der Seite, ohne ihn anzusprechen. Armas schien sich wirklich wohlzufühlen, ohne daß das gleich wieder durch eine Erektion angezeigt würde, was Achternberg aber bestenfalls zu einem kopfschüttelnden Schmunzeln gebracht hätte. Er fand diese körperliche Reaktion auf seelisches Wohlbefinden ebenso witzig wie seltsam, die den Jungen ohne Zweifel bei Gelegenheit in peinliche Situationen gebracht haben dürfte. Dessen war er sich sicher. Nicht alle Menschen reagierten auf solche unwillkürliche Zurschaustellung männlicher Qualitäten amüsiert und tolerant − ganz im Gegenteil, obwohl ausnahmslos jeder Mensch seine Existenz einer erfolgreichen Erektion verdankte. Unleugbar.

Achternberg hatte noch nicht herausgefunden, was an einem Phallus so bedrohlich sei, sobald er sich in Erregung aufrichtete, während er, erschlafft, ins ganze Gegenteil verkehrt, oft genug Gegenstand belächelnder Betrachtung wurde. Manchmal aber auch im aufgeregten Zustand, wenn er nicht in sanft aufwärts geschwungener, eleganter, gerader Habt-acht-Stellung sich präsentierte, sondern wie ein türkischer Krummsäbel nach unten deutete oder wie ein nach links oder rechts um die Ecke Guckender daherkam. Der weiblichen Blume wurde schon einiges abverlangt, um solche Scherze der Natur auszugleichen, denn der Weg ins Paradies ging nun einmal geradeaus und nicht um die Ecke, obwohl der Weg bis dorthin manchmal recht kurvenreich sein konnte. Achternberg hatte diesbezüglich seinen gehörigen Anteil an Lebens- und Liebeslektionen abbekommen. Armas stand das alles noch bevor. Immerhin besaß er ein liebenswürdiges Wesen und war körperlich exquisit ausgestattet.

Achternberg entschied sich, Armas nicht zu stören und zu seinem Schreibtisch zurückzukehren. Immerhin, er ertappte sich selbst bei dem Gedanken, wie schön es doch wäre, solch einen Jungen seinen Sohn nennen zu dürfen.

Mit Careen könnte er bereits einen Dreißigjährigen haben und mit einer anderen genau einen wie Armas. Plötzlich mußte er wieder an sie denken. Was wohl aus ihr geworden war?

Als er das Haus wieder betreten hatte, ließ er die Terrassentür offen − zur Lüftung, denn es war wieder sehr warm geworden, und um Armas ungehindert einzulassen, wann immer der Junge vom Sonnenbaden genug haben würde.

Achternberg hatte ziemlich schnell die Zeit wieder vergessen, als er im Augenwinkel eine Bewegung bemerkte. Er sah kurz auf. Armas hatte sich in gehöriger Entfernung positioniert.

Er stand, bekleidet mit einer bunt verschmierten, einst rein blauen Latzschürze, hinter seiner Staffelei und war konzentriert bei der Arbeit. Achternberg hatte sein Hereinkommen nicht bemerkt. Armas war offensichtlich in der Lage, sich geräuschlos zu bewegen, was barfuß, auf Teppichboden, wiederum nicht sonderlich schwer war. Er wollte den Jungen nicht aus der Konzentration bringen und wandte sich wieder seinem neuen Werk zu. So bemerkte er nicht, daß Armas Augenblicke später am Bild vorbeilugte und Achternberg − erneut − eingehend betrachtete. Beinahe hätten sich ihre stummen Blicke getroffen. Was sie dabei wohl empfunden haben würden?

Achternberg vermißte Kinder, seine eigenen, ungeborenen Kinder, mit allem, was dazugehörte: das erste Schreien nach der Geburt, die vollen Windeln, das erste Krabbeln, das erste Aufstehen, die ersten Schritte, das erste gesprochene Wort, das fröhliche Kinderlachen ... den Stolz und die Freude des Vaters.

Er fühlte, daß dieser ungewöhnliche siebzehnjährige männliche Teenager ihn als eine Art Ersatzvater ausgesucht hatte, na ja, vielleicht nicht gleich „Vater“, aber als eine neue männliche Bezugsperson. Und Achternberg fand es schön, ausgewählt worden zu sein. Der Junge brauchte diesen sozialen Kontakt in seiner Mensch- und Mann-Werdung, und er, Achternberg, war bereit, ihm alles zu geben, ihn alles zu lehren, was er als erwachsener Mann diesem jungen Leben mitgeben konnte.

 

Er konnte nicht anders, er lugte an seinem

PC-Bildschirm vorbei und sah Armas bei er Arbeit zu. Der Junge hielt seinen Blick konzentriert auf die Leinwand gerichtet. Er hatte offensichtlich die Grundskizze bereits fertig, denn er hielt die Farbpalette in seiner linken Hand, wodurch sein linker Oberarm angespannt war und der Bizeps sich deutlich abzeichnete. Es schien so, als könnte er jeden Augenblick aufschauen und das Objekt seiner kreativen Kunst erneut genau betrachten, aber es sah so aus, als habe er alles im Kopf und brächte es nun konzentriert in die Form, die er sich vorgestellt hatte.

Achternberg gestand sich selber ein, neugierig zu sein. Er war noch nie gezeichnet oder gar gemalt worden.

Welche Stilrichtung würde Armas wohl bevorzugen? Impressionismus, Expressionismus, Naturalismus, Surrealismus, am Ende gar Kubismus? Mit zwei Augen auf derselben Gesichtshälfte à la Picasso würde er sich nicht so gern dargestellt sehen oder mit einem überdimensionalen Federkiel als Phallus und einem Tintenfaß als Trinkpokal im Stile eines Dalí − sicher interessant im Freud’schen Sinne, aber nicht gerade sein privater Geschmack. Er bedauerte, mit dem Jungen nicht darüber gesprochen zu haben. Nun würde er hinnehmen müssen, wie Armas’ Künstlerauge ihn sah. Hoffentlich nicht nur als Strichmännchen mit rotem Punkt als Bauchnabel oder Ansammlung von Farbklecksen mit abstrus-ausschweifenden Erklärungen, die in einer Galerie oder einem Museum jedes Bild von der Wand hüpfen und davonlaufen ließen, könnte es denn von der Wand hüpfen und davonlaufen. Aber Achternberg bezähmte seine Neugier und blieb sitzen.

Als er das nächste Mal hinsah, die Schatten waren bereits länger geworden, war Armas verschwunden. Achternberg hatte es nicht bemerkt. Ein ums andere Mal hatte er das seltsame Gefühl, dieser Junge sei nur ein Geist, so geräuschlos, wie er sich entfernen konnte.

Er stand auf und ging zur Staffelei hinüber. Als er sah, daß Armas das Bild verhängt hatte, murmelte er mit einem Achselzucken vor sich hin, daß er sich wohl noch ein wenig würde gedulden müssen und kehrte an seinen Schreibtisch zurück.

*

Einen weiteren Tag später

Achternberg war ausnahmsweise einmal früh erwacht, obwohl er, wie üblich, bis spät in die Nacht geschrieben hatte. Es war kurz nach 7 Uhr. Etwas ungnädig blinzelte er seinen Wecker an, als könne der etwas dafür, diese Uhrzeit anzuzeigen. Nach Achternbergs unumstößlicher Meinung grenzte es an vorsätzlicher Körperverletzung, so früh aufzuwachen. Immerhin, die Natur meldete sich unverzüglich. So suchte er etwas mürrisch das Bad samt WC auf und schließlich die Küche, um wenigstens seinen Multivitaminsaft zu trinken. Zu einem Frühstück konnte er sich noch nicht durchringen. Um diese Uhrzeit? Da käme doch die Weltordnung ins Wanken. Seine Weltordnung. Sie war für ihn so fest gefügt, wie die unumstößlichen Mauern der Inka.

Doch seit ein paar Tagen war etwas Neues in sein Leben gekommen, ein junges Leben. Es hatte so selbstverständlich wie das Amen in der Kirche in seinem Leben Platz genommen − und noch mehr. Es schien tatsächlich die Absicht zu haben, in seinem Leben nicht nur zu verweilen, um sich auf der Wanderschaft der Lebenssuche auszuruhen und neue Energien zu tanken, es schien bei ihm bleiben zu wollen, als wäre es seinem Schoß entsprungen.

Armas!

Achternberg überlegte einen Moment, ob er das Ganze nicht vielleicht geträumt hatte. Doch als er, wenige Meter von seinem Schreibtisch entfernt, die abgedeckte Staffelei entdeckte, an die er sich genau erinnern konnte, daneben auf einem Stuhl die abgelegte bunt besprenkelte ehemals rein blaue Latzschürze, da war ihm klar, daß Armas anwesend war. Im Moment nicht körperlich, der schöne Teenager wäre nicht zu übersehen gewesen, schon angesichts seiner schieren Körpergröße von einem Meter neunzig nicht, aber sein Geist war da.

Achternberg trat an die verschlossene Terrassentür und ließ den Rolladen hochfahren. Die Morgensonne, die zuvor nur ein diffuses Licht durch die Vorhänge der seitlichen Fenster schicken konnte, erfüllte nun den gesamten Raum. Achternberg schob die Glastür zur Seite und trat hinaus. Er hatte sich, entgegen sonstiger Gewohnheit, einen Morgenmantel übergeworfen. Insgeheim hatte er mit Armas’ frühzeitiger Anwesenheit gerechnet, und da er selbst kein Teenager mehr war, betrachtete er einen optischen Wettstreit in beider Nacktheit für reichlich albern. Er mußte sich mit niemandem mehr messen, mit diesem Jüngling schon gleich gar nicht, der sich vielleicht veranlaßt fühlen könnte, sich Achternberg beim Sex vorzustellen − für einen Siebzehnjährigen schlicht eine Lachnummer, da gab er sich keinerlei Illusionen hin. Obwohl, wenn der Junge auch nur ansatzweise wüßte, was dabei so alles „abgehen” könnte, er würde vor Staunen sicher große Augen machen, aber die Probe aufs Exempel bliebe natürlich aus, so wie Armas für sich ausgeschlossen hatte, den jungmännlichen Lästermäulern in seiner Schule ein „Schauficken” zu bieten, damit man ihn nicht für schwul hielte.

Achternberg wunderte sich wieder, welche Schwierigkeiten der Junge mit diesen Verdächtigungen hatte, aber der Gruppenzwang, dieser liebe, grausame Gruppenzwang. Da hatte es seit seiner eigenen Schulzeit keinerlei Besserung gegeben, ja, es war sogar noch schlimmer geworden, hatte er das Gefühl. In seiner Zeit wurde das auf dem Schulhof ausgetragen, schlimmstenfalls noch in der Clique, und damit war es durch. Nun wurde alles in den asozialen Netzwerken ausgeplaudert oder in übler Nachrede weitergegeben und das Opfer war schlimmer an den Pranger gestellt, als es auf den übelsten Marktplätzen des Mittelalters hätte geschehen können. Ein Dorf weiter, in der nächsten Stadt, würde schon niemand mehr davon gewußt haben. Es sei denn, man wäre eine bekannte Persönlichkeit gewesen und durch Schmähschriften und bösartige Karikaturen verunglimpft worden, nachdem die ersten Druckmaschinen in Betrieb gegangen waren.

Nun, der Himmel des neuen Tages war blau, die Sonne schien, es war noch morgenfrisch, aber die heraufziehende Tageswärme deutete sich an. Achternberg war, trotz der frühen Stunde, guter Dinge und freute sich des Lebens. Und er freute sich, Armas wiederzusehen.

Er legte dem Jungen die Sonnenlotion in den Liegestuhl, dann zog er die Terrassentür wieder zu, ohne sie zu verriegeln, preßte in der Küche zwei Orangen aus, goß den Saft in ein großes Glas, deckte es gegen die unvermeidlichen Fliegen ab, löffelte das Fruchtfleisch auf − und ging wieder zu Bett. Er war sicher, daß Armas im Laufe des Vormittags so leise kommen würde, wie er tags zuvor verschwunden war, um seine Arbeit fortzusetzen.

Drei Stunden später.

Achternberg hatte seine Morgentoilette absolviert und in der Küche festgestellt, daß das große Glas Orangensaft nicht nur ausgetrunken, sondern bereits abgewaschen wieder auf dem Tisch stand. Armas war gekommen.

Achternberg nahm sein frugales Frühstück ein, ging danach in sein Schlafzimmer zurück und kleidete sich leger, gemäß der hochsommerlichen Temperaturen, ehe er sich einen frischen Grünen Tee zubereitete und mit dem dampfenden Teetopf in der Hand seinen Schreibtisch aufsuchte.

Von Armas war nichts zu sehen, aber er mußte im Haus gewesen sein. Die Staffelei war nicht mehr abgedeckt.

Ein heftiger Impuls der Neugier durchzuckte Achternberg, einen Blick auf das entstehende Werk zu werfen, aber er hatte nicht Armas’ Erlaubnis − und so beherrschte er sich. Nur auf die Terrasse sah er hinaus. Auch dort war Armas nicht zu entdecken. Der Liegestuhl stand unbenutzt da. Die Plastikflasche mit der Sonnenlotion war nicht bewegt worden.

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