Armas vom See

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Armas hatte gebannt zugehört, doch nun senkte er den Blick und mehr als das − er ließ den Kopf hängen.

Achternberg war schnell klar, daß den Jungen etwas bedrückte.

„Erzählst Du es mir?”

„Muß ich?” Armas sah ihn fast verzweifelt an.

„Du mußt gar nichts, nur eines fernen Tages sterben, aber vielleicht kann ich Dir helfen, dann sollte ich einfach wissen, was diese Lümmel mit Dir treiben.”

„Das ist es ja gerade! Sie verbreiten, daß ich es treibe − mit Jungs.”

Eine dicke Träne kullerte über seine rechte Wange, ohne daß er sein schönes Gesicht zum Weinen verzog. Es griff Achternberg derart ans Herz, daß er sich augenblicklich entschloß, dem verwundeten Jungen mit aller Macht beizustehen.

Aber an diesem Tag kam er nicht mehr dazu, denn plötzlich stand Armas auf, hechtete in den See und schwamm davon.

Achternberg blieb nichts anderes übrig, als ihm nachzusehen. Er rief ihm nicht nach, ließ ihn ziehen. Er würde wiederkommen. Doch drei Tage lang ließ Armas sich nicht blicken. Das große Badetuch, das Achternberg täglich am Seeufer ausbreitete, blieb unbenutzt. Das Handtuch zum Abtrocknen blieb fein säuberlich gefaltet liegen, ebenso der in Alufolie eingewickelte gebratene Putenimbiß. Die Sonnenmilch blieb unberührt.

Achternberg machte sich Sorgen um diesen wunderbaren Jungen und doch wieder nicht. Armas war verwundet, aber nicht tödlich. An seinen Grundfesten war gerüttelt worden, er war aber nicht wirklich in ihnen erschüttert. Sonst hätte er ganz anders reagiert, vielleicht gar längst die Dummheit begangen, sich das Leben zu nehmen. Er würde wiederkommen und Achternberg legte sich bereits erste Grundzüge eines Feldzugsplans gegen diese Bande zurecht. Und als er am vierten Tag nach Armas’ kummervollem Geständnis an den Holzsteg kam, saß der Junge bereits da. Er stützte sich nach hinten ab, ließ seine langen Beine im kühlen Wasser baumeln und genoß die Sonne auf seinem nackten Körper. Ein Blick zum Badetuch zeigte Achternberg, daß sein Besuch Hunger gehabt hatte: die Alufolie lag fein säuberlich quadratisch gefaltet daneben. Die Plastikflasche mit der Sonnenmilch stand neben Armas auf dem Holzsteg.

„Soll ich Dir den Rücken einreiben?”

„Hintern nicht vergessen“, scherzte Armas, als er sich umdrehte, Achternberg anlächelte und aufstand. Er hielt ihm die Plastikflasche hin. Beide sahen sich einen intensiven Moment lang in die Augen. Darin lag ein starkes, non-verbales Verständnis, eine tiefe Bindung, wie sie zwischen Seelenverwandten vorkommt.

„Dreh Dich um.”

Achternberg hatte seine Sachen abgestellt, öffnete die Flasche und drückte Armas, der sich wieder auf seinen Oberschenkeln abstützte und den Kopf vorbeugte, einen dicken Klecks zwischen die Schulterblätter. Armas zuckte leicht, wie schon beim ersten Mal.

Achternberg rieb des Jungen Schultern und Nacken ein, dann in kreisenden Bewegungen den Rücken hinunter bis zu seinen strammen Pobacken. Armas genoß die Nähe sichtlich. Für Achternberg wurde es immer deutlicher: der Junge war wirklich allein. Er sog jede Zuwendung auf wie ein trockener Schwamm, sei es mit ihm zu reden oder eine solch harmlose Nähe wie das Einreiben zum Sonnenschutz.

Nun, ganz so harmlos schien es aus Sicht des Jungen nicht zu sein: Als er sich nach Achternbergs „Fertig!” und dessen Klaps auf die Schulter umdrehte, hatte er eine halbe Erektion! Achternberg bemerkte es, natürlich, und Armas sah ihn zu seiner Überraschung nicht verlegen, sondern grinsend an.

„Mir geht’s gut, da krieg’ ich oft ‘n Ständer. Stört es Sie?”

„Nein. Nichts Unnatürliches.” Beide sahen sich schmunzelnd an, und Achternberg wuschelte ihm zum ersten Mal durch die Haare, als wolle er ihm ein nett gemeintes „Du Lausejunge!“ sagen. Dabei zog er ihn mit der Hand im Genick zu sich hin, wessen sich Armas lachend entwand.

Achternberg erinnerte sich aus seiner Schul- und Militärzeit an manch überdeutliche Beule im Schritt mancher Sportkameraden, die sie beim Ringen entwickelten. Die Kampferregung schlug auf die Lenden durch. Bei Armas war es ein zutiefst genossenes Wohlbefinden. Das war kein Grund zu einer wie auch immer gearteten Besorgnis, sondern zur Freude. Dem Jungen ging es gut.

„Setz’ Dich zu mir”, forderte Achternberg ihn auf. Armas ließ sich neben ihm nieder. Achternberg warf die Angel nicht aus. Der Junge war ihm wichtiger.

„Was hast Du in den letzten Tagen gemacht?”

Armas sah ihn mit offenem Blick an. Da war nichts mehr von dem tieftraurigen Jungen zu sehen, ganz im Gegenteil.

„Ich habe viel nachgedacht, in mich hineingehört, gelesen, auch von Ihnen, schöne Musik gehört, wundervoll onaniert, es hat richtig gut getan. Schockiert Sie das, daß ich viel onaniere?”

Achternberg schüttelte amüsiert den Kopf.

„Warum, mein Junge, sollte mich etwas schockieren, das völlig normal ist, sage mir das, warum?”

„Vielleicht, weil ich es so offen erzähle?”

„Darum bist Du zu beneiden. Als ich in Deinem Alter war, konnten wir das nicht. Viele Menschen können das bis heute nicht, sind Gefangene ihrer verklemmten Erziehung oder ihrer persönlichen Ängste. Oder sie haben niemanden, mit dem sie sich angstfrei austauschen können. Viel zu viel wird vertrauensselig in den sogenannten sozialen Netzwerken ausposaunt, dabei ist das hochgefährlich.”

Armas nickte zustimmend. Er hatte es erlebt, daß das Vertrauen eines Klassenkameraden schändlich mißbraucht worden war. Kevin hatte einem Kumpel im Freibad vertrauensselig erzählt, wie er sich selbst befriedige und gefragt, ob sie nicht mal ein Wettwichsen veranstalten könnten. Einen Tag später stand alles in einem asozialen Netzwerk nachzulesen. Seither lief der arme Junge nur noch mit gesenktem Kopf herum, traute sich mehr sich jemandem anzuschließen, wurde offen oder heimlich ausgelacht. Der sozial inkompetente Mob an der Schule hatte ein weiteres Opfer gefunden. Als Armas ihm beistehen wollte, wurde er brüsk zurückgewiesen, er solle weggehen, er sei doch schwul. Kevin schubste ihn regelrecht weg. Das soziale Gift fraß sich durch. Armas war ziemlich schockiert und zog sich selbst weiter zurück.

„Mit Ihnen kann ich offen sprechen, oder?”

Armas sah Achternberg prüfend an, legte seinen Kopf schräg.

„Das mußt Du noch fragen?”

„Nein. Sie haben recht. Mit Ihnen kann ich freimütig sein. Sie würde es ja auch nicht stören, wenn ich schwul wäre.”

„Jetzt reicht es mir aber bald”, wurde Achternberg energisch. „Warum reitest Du denn immer wieder darauf herum? Wenn es Dich heimlich interessiert, dann probiere es doch einfach mal aus, zum Donnerwetter! Aber heul‘ mir nicht die Ohren voll, wenn Dich miese Typen dafür halten, verflixte Kiste noch eins! Mir ist das egal, ob Du Blumenblätter naschst oder Lakritzstangen lutschst, verrückter Bengel.”

Armas lachte verschmitzt von einem Ohr zum anderen. „Kann es sein, daß Sie mich mögen?” Wieder legte er seinen Kopf schräg.

Achternberg sah ihn mit einem Blick an, der zwischen „Ich gebe Dir gleich eins an die Backe” und „Ich mag Dich sehr” schwankte.

„Natürlich mag ich Dich, sonst dürftest Du überhaupt nicht hier sein” − und das unterstrich er mit einem Klaps an Armas’ Hinterkopf, so daß der Junge „nickte” − „Du Bursche, Du! Du landest gleich im Bach!”

„Da müßten Sie mich aber wieder eincremen …” Im nächsten Moment sprang Armas auf und flitzte einige Meter auf Sicherheitsabstand, denn Achternbergs Mimik war plötzlich schlecht einzuschätzen. Sie schwankte zwischen einer Backpfeife und In-den-Arm-nehmen. Armas war ein einziges jungenhaftes Lachen. Achternbergs Gesicht hellte sich wieder auf. Er schüttelte mit dem Kopf, sah zu Boden und ließ ein leise grunzendes Lachen hören. Dann sah er mit schräggelegtem Kopf zu Armas hinüber, der in sicherem Abstand wartete, was nun passieren würde. Der suchte Achternbergs Blick. Achternberg winkte ihn schmunzelnd heran und stand auf. Armas kam langsam näher, wenn auch zögerlich.

„Nein, ich werde Dich nicht ertränken!”

Und dann geschah etwas, womit wohl beide nicht gerechnet hatten. Sie lagen sich plötzlich in den Armen. Ein ebenso lustiges wie seltsames Bild. Ein wenn auch luftig bekleideter Graukopf, aber immerhin komplett bekleideter erwachsener, großer Mann, und ein splitterfasernackter, braungebrannter, noch etwas größerer Teenager umarmten sich als wären sie Vater und Sohn oder Onkel und Neffe. Ignorante zufällige Beobachter hätten noch ganz anders denken können − honi soit qui mal y pense!

„Aber nicht, daß Du gleich wieder einen Ständer bekommst, Du Lümmel!”

„Nö, ganz sicher nicht”, schluchzte der Junge.

Achternberg löste sich von ihm und hielt ihn an beiden Schultern fest.

„Jetzt reicht es mir aber bald! Was ist mit Dir los? Erst lachst Du und nun …”

Armas schaute ihn scheu an, Wasser füllte seine Augen, und als er blinzelte, rollten zwei dicke Tränen über beide Wangen. Der Junge biß sich auf die Unterlippe − und schluckte. Mit seinen nassen Augen sah er Achternberg wie hilfesuchend an. Der ahnte etwas.

„Dich hat lange niemand mehr in den Arm genommen, nicht?”

Armas nickte.

„Ach herrje, der Junge ist ja sozial völlig vernachlässigt.”

„Komm, setz Dich zu mir.”

Achternberg strich ihm wie väterlich über die Haare. Armas wischte sich mit beiden Händen die Tränen aus dem Gesicht, holte tief Luft − und seufzte leise.

Achternberg setzte sich auf seinen Klappstuhl, Armas ließ sich im Schneidersitz zu seinen Füßen nieder.

„Erzähl.”

Armas räusperte sich und sah kurz zu Boden, ehe er Achternberg fest ansah.

„Ich bin nicht schwul.”

„Ich weiß. Ich weiß aber nicht, warum Du das immer wieder wie eine Entschuldigung wiederholst. Das mußt Du nicht, mir gegenüber schon gleich überhaupt nicht. Weißt Du, die Zeiten des unseligen Paragraphen 175 sind ein für allemal vorbei. …!”

 

„Und warum bin ich immer wieder gefragt worden, ob ich am 17. Mai geboren wurde?”

„Ach, hat man das getan? Da haben wir es wieder, Ablenkung von eigenen latenten Neigungen oder schlicht Boshaftigkeit, Lust am Quälen eines Dritten. Nun ja! Weil diese Arschlöcher, wenn sie diese Formulierung benutzt haben, eindeutig von ihren Vätern, eher noch von den Großvätern aufgehetzt worden sind. Das sind alles noch Hypotheken aus der alten Zeit. Kaiserzeit, NS-Zeit, die muffigen fünfziger Jahre der Adenauer-Ära. Kennst Du ja nur aus dem Geschichtsunterricht, sollte der an Deinem Gymnasium etwas taugen. Weißt Du, daß König Karl von Württemberg homosexuell war?”

Armas schaute erstaunt drein, zuckte kopfschüttelnd mit den Achseln.

„Der König lebte das ganz offen. Im liberalen Württemberg war es nicht strafbar. Karl war kein attraktiver Mann, Rauschebart, aber er hatte einen, wie man hört, unanständig schönen amerikanischen Metzgergesellen als Geliebten, den er in Friedrichshafen aushielt, wo er auch die meiste Zeit verbrachte. Die arme Königin Olga lebte weiter in der Residenz Stuttgart …”

„Er war verheiratet?” fragte Armas erstaunt dazwischen.

„Oh ja, aber kinderlos, wie man sich denken kann. Sein Nachfolger, Wilhelm II., ein Neffe zweiten Grades, war der Sohn des Prinzen Friedrich von Württemberg. Ohne seinen berühmten Minister von Varnbüler wäre damals das Königreich vermutlich an die Wand gefahren worden. Er hat ihn 1870 trotzdem entlassen und durch Mittnacht ersetzt. Als Wilhelm I. von Preußen einmal auf Staatsbesuch kam und Karl sich nach Stuttgart bequemen mußte, fragte ihn der preußische Monarch auch nach Gebäuden in der Residenz. Karl kannte sie nicht. Reichlich peinlich. Als Württemberg 1871 Teil des Deutschen Reiches wurde, machte sich Karl mit seinem Sexualleben strafbar, denn dann galt auch dort die übernommene preußische Gesetzgebung, aber natürlich passierte ihm nichts, da er als König unantastbar war.” Achternberg dozierte schon wieder.

„Der Glückliche”, seufzte Armas. „Den hat dummes Geschwätz nicht gekümmert.”

„Er war der König und bei ihm traf es zu. Und warum kümmert es Dich?”

„Na ja, ist doch blöd. Man wird komisch angesehen, muß sich gehässige Bemerkungen anhören, wird geschnitten, im Sport bei Mannschaftswahlen stehengelassen, in der Umkleide wird einem immer wieder das Handtuch weggerissen, ich solle doch mal meinen Pferdeschwanz zeigen, wer den denn lutsche, iaah, iaah! Ist doch Scheiße! Und manche Mädchen glauben das auch noch.” Armas runzelte in sichtbarer Verärgerung die Stirn.

„Dann sind es dumme Gänse. Obwohl, das ist eigentlich eine Beleidigung für jede intelligente, echte Gans.” Achternberg lächelte und konnte damit auch Armas wieder ein Schmunzeln auf dessen Gesicht zaubern.

„Und kein guter Freund hat zu Dir gehalten?”

„Nee. Falk hat sich zurückgezogen, als er gefragt wurde, wie es denn sei, wenn wir Neunundsechzig machten.”

„Ein feiger Blödmann und sicher kein wirklicher Freund. Er hätte sofort blaue Augen zu Deiner Verteidigung verteilen müssen. Vergiß ihn! Oder hast Du mal mit ihm?”

Armas sah ihn bestürzt an.

„Nein!”

„Ich frag’ ja nur. Hätte kein Problem damit. Das wäre in Deinem Alter ganz normale Neugier. Einfach mal ausprobieren.”

Armas staunte.

„Haben Sie denn?”

„Nein. Diese Lebenserfahrung ist an mir vorbeigegangen. Und ich weiß nicht, ob ich das bedauern soll, aber damals ging es auch mit HIV und Aids los, wir hätten schon aus Angst nicht. Neugierig waren wir schon, aber eben nicht aus tief verankerter Neigung, sondern nur um zu wissen, wie es sei, wenn ein Mädchen einen Jungen verwöhnt. Als dann die Mädels richtig interessant wurden, war das Thema durch. Hast Du denn mal daran gedacht?”

Armas senkte den Kopf. Er hatte.

„Mußt Dich nicht schlecht fühlen. Du bist völlig normal.”

„Finden Sie wirklich?” Armas sah ihn zweifelnd an. Er war rot geworden.

„Würde ich es sonst sagen?”

Es war Armas anzusehen, wie erleichtert er war. Die sommersprossige Heike hatte ihm sehr gut gefallen, sie sah in ihrem knappen, bunten Bikini einfach zu süß aus, aber ehe er sich getraut hatte, etwas zu sagen, hatte er sie an einen forschen Jungen aus der Nachbarklasse verloren.

Die anderen Mädchen, nicht wenige sehr hübsch und mit aufregenden Bikinifiguren, was ihn im Freibad häufiger veranlaßte, sich auf den Bauch zu legen, da man ihm meilenweit ansehen konnte, wie aufgeregt er war, waren für ihn unerreichbar. Denn wenn er eine Unterhaltung versuchte, erwiesen sie sich ein ums andere Mal als verkicherte Zicken, die kein gutes Gespräch suchten, oder sie neckten ihn, womit ein junger Bursche seines Alters nicht geneckt werden will. Ob er denn gut knutschen könne oder ganz direkt, ob er denn schon mal habe ... Sein Erröten machte jedes Mal eine Antwort überflüssig, bis es sich im Flurfunk und per SMS herumgesprochen hatte, daß er noch nicht hatte. Und dann seine von ihm für gut gehaltene Freundschaft mit Falk, der ihm in puncto guter Figur in nichts nachstand und auch bei den ach so „wichtigen” Zentimetern gleichauf mithalten konnte. Nur Falk war nicht beschnitten. Armas beneidete ihn darum, denn er fand, das man mit Vorhaut besser onanieren könne. Und als er ihn mal wie beiläufig gefragt hatte, ob ihm auch die Sahne ungewollt abginge, hatte Falk grinsend verneint. Das mache er anders. Wie denn anders als so, hatte Armas ihn gefragt und die eindeutige Handbewegung vollführt. Zu seinem Erstaunen hatte Falk daraufhin im uneinsehbaren Garten seiner Eltern die Badehose ausgezogen, sich masturbierend in Stimmung gebracht, dann gestreckt, nach vorn gebeugt und seinen freudig erregten Monsieur Bouchon mit seinen Lippen tief „umarmt” bis es sahnig wurde. Armas hatte fasziniert und mit steigernder Erregung zugesehen, konnte es schier nicht glauben. Er versuchte es auch, aber er schaffte es nicht zu seiner großen Enttäuschung. Zum ersten Mal wäre er neugierig gewesen, Falk zu „helfen” und sich von Falk helfen zu lassen, aber er traute sich nicht, zu fragen. Fortan rieselte es ihm seltsam durch den Körper, wenn er Falk nackt unter der Dusche oder in seinem Zimmer herumlaufen sah und wenn Falk bei ihm war und sie mal wieder nachmaßen, ob ihre Schwänze länger geworden waren. Es war ihnen wichtig, das zu wissen. Dann war Falk die blöde Frage nach 69 gestellt worden und die Freundschaft zerbrochen. Seither war Armas ein Solitär. Kein Klassenkamerad wollte mit ihm Freundschaft schließen oder traute sich nicht. Es kam sogar vor, daß einige den Duschbereich verließen, wenn er hereinkam. Dabei mußte er es sich gefallen lassen, daß kurz vor ihm Zungen in die Wangentasche gesteckt wurden oder Jungs in eindeutiger Manier an Mittelfingern lutschten. Einmal kamen zwei auf ihn zu, einer bückte sich und der andere vollführte mit wedelndem Schwanz unzweideutige Luftstöße. Armas hätte sich prügeln können und manchmal auch wirklich mögen, aber er beherrschte sich.

Achternberg hatte Armas’ Schilderung ruhig zugehört, obwohl es ihn aufregte, daß ein sensibler Junge derart gemobbt wurde.

„Du hättest diese Fingerlutscher fragen sollen, ob sie ihre Schnuller zu Hause vergessen hätten oder auch, ob sie dem dem neuen Verein der Schwanzlutscher beigetreten seien, von denen Du im Internet gelesen hättest. Machen die das noch einmal, wirst Du sehen, daß denen der Finger im Hals steckenbleibt.”

„Oder es gibt eine heiße Schlägerei!”

„Kannst Du Dich nicht wehren? Hau’ einen gekonnt zu Boden, pack’ den anderen, wenn es zwei sind, blitzschnell und hart bei den Eiern und hauche ihm mit tiefergelegter Stimme in Stephen-King-Manier ins Ohr, ob er ein Mann bleiben oder kinderlos sterben wolle. Grinse ihn dabei diabolisch an und mache aus Deinem Eiergriff einen Schraubstock. Glaub’ mir, der pinkelt sich vor Angst voll. Verschaffe Dir Respekt und lasse Dir nicht alles gefallen. Büst doch ‘n staatschen Jung! [Bist doch ein stattlicher Junge!] Eine gelungene k.o.- und Sack-Aktion und Du hast Deine Ruhe. Das spricht sich blitzschnell herum. Gehe zur Vorsicht eine Weile mit einem stabilen Stock als Wanderstab herum, um Dir Überfälle vom Hals zu halten − und wenn einige Wochen nichts passiert, hast Du gewonnen. Sieh aber zu, daß Du den Großmaul-Anführer erwischst. Die meisten sind bei solchen Sachen nur feige Mitläufer.”

„Meinen Sie wirklich?” Armas war der Zweifel anzusehen.

„Natürlich. Das liegt in der menschlichen Natur. Ein tapferer Landrat in Ostpreußen hat sich 1938 in Majorsuniform zusammen mit einem Wachtmeister mit gezogener Waffe vor eine Synagoge gestellt, als eine SA-Meute kam und das Gotteshaus zerstören wollte. Der Landrat hat ruhig mit dem Erschießen des ersten Mannes gedroht, der auf ihn zukäme, und die Synagoge blieb stehen, bis 1945 die Russen kamen. Die größten Schreihälse sind nur in der Masse mutig. Drohe ihnen an, sie als erste vorzunehmen, schon kneifen sie den Schwanz ein.

„Schade, daß Sie bei uns nicht Lehrer sind!”

„Ach weißt Du, ich schreibe lieber, kann ja nicht der ganzen Welt helfen, und doch, wenn ich Dir helfe, dann helfe ich irgendwie auch der Welt, denn Du trägst Dein neugewonnenes Selbstbewußtsein in die Welt hinaus und machst sie bestimmt ein bißchen besser. Da bin ich ganz zuversichtlich.”

Achternberg wuschelte lächelnd in Armas’ vollem schwarzen Schopf, was dem Jungen sichtlich gefiel.

„Aber sage mir mal die Namen der drei Haupthetzer, die glauben, Dich als schwul verleumden zu dürfen und wo die Typen anzutreffen sind.”

„Was haben Sie denn vor?”

„Etwas sehr wirkungsvolles − Du wirst sehen.”

Achternberg zückte einen kleinen Notizblock und einen Stift. Beides hatte er stets dabei, um spontane Gedanken aufschreiben zu können. Armas zögerte noch einen Moment, aber dann gab er ihm die Namen und beschrieb ihm, in welchem Freibad die Drei sich gewöhnlich aufhielten. Zwei von ihnen seien die nächsten drei Wochen noch nicht im Urlaub. Er war gespannt was passieren würde. Mit zufriedener Miene und Armas zuzwinkernd steckte der Schriftsteller Notizblock und Stift wieder ein. Dann warf er die Angel aus und Armas streckte sich auf dem Holzsteg aus. Das war zwar etwas unbequemer, aber offensichtlich wollte er in Achternbergs unmittelbarer Nähe bleiben. Die Sonne schien wie Honig auf die traute Zweisamkeit. Armas genoß die Wärme auf seiner Haut und Achternberg die Ruhe, die nun einkehrte. Er wollte nachdenken − und endlich diesen verflixten Hecht aus dem See holen. Die guten Gedanken kamen, nur der Hecht nicht.

Hinter ihm verschränkte Armas die Arme unter seinem Kopf, die Augen geschlossen − und bald zeigte seine Männlichkeit wieder Richtung Bauchnabel, aber das sah Achternberg nicht. Doch es würde ihn gefreut haben, denn der Junge fühlte sich unglaublich wohl. Seine Seele war von einiger Last befreit.

*

Am nächsten Tag

Am Abend zuvor hatte Achternberg ein wichtiges Telephonat geführt. Dabei hatte er vergnügte Mitwirkungsbereitschaft an seinem Feldzug gegen Armas’ Peiniger gefunden. Das sei doch mal ein schöner Sommerspaß, war unisono geantwortet worden. Beim Auflegen bestand Achternberg aus einem einzigen breiten Lächeln. Das würde eine unvergeßliche Lektion werden. Sein frugales Abendbrot schmeckte ihm gleich noch einmal so gut. Anschließend schrieb er bis spät in die Nacht.

Am Vormittag war er gut gelaunt aufgestanden, hatte geduscht und sich die Haare gewaschen, danach alles für Armas gerichtet. Es war für ihn absolut selbstverständlich, daß der Junge kommen würde. Er freute sich auf ihn. Er freute sich auf ihn, als würde sein Sohn nach Hause kommen. Achternberg lief zum Seeufer und arrangierte Armas’ Lagerplatz. Er hielt kurz Ausschau, ob der Junge sich vielleicht bereits näherte, aber es war nichts zu sehen. Als er zurück zu seinem Haus kam, erlebte er eine Überraschung.

„Prima, Sie sind zu Hause. Ich dachte schon, ich sei heute allein. Moin, Herr von Achternberg.”

Armas stand aus dem Liegestuhl auf der Terrasse auf und streckte Achternberg seine Hand entgegen. Der Hausherr war nicht überrascht, daß Armas nackt war, aber es überraschte ihn, den Jungen auf seiner Terrasse anzutreffen. Er sah sich kurz um: Armas’ Klamotten, ein hellblaues Hemd und kurze Jeans, von Unterwäsche oder einer Badehose war nichts zu sehen, lagen fein säuberlich zusammengelegt auf der Terrassenmauer. Die Sandalen standen, ordentlich nebeneinander gestellt, darunter am Boden. Daneben hatte er sein funkelnagelneues Fahrrad, ein Ortler Lillesand 7-Gang mit Korb, abgestellt. Es war die Damenversion ohne Querstange. Achternberg besah es sich genau.

 

„Fährt es sich gut?”

„Man kommt vorwärts”, antwortete Armas trocken.

„Vernünftigerweise kronjuwelenschonend”, murmelte Achternberg kopfnickend.

„Hab’ mir mal die Eier furchtbar geklemmt, seither kein Bedarf auf Querstange mehr, höchstens in der Hose …”

„… wenn Du mal eine trägst, nicht?”

„Genau!”

Beide lachten über die Wortspielerei − und klatschten zum ersten Mal die hohe Fünf.

Dann entdeckte Achternberg, daß Armas etwas mitgebracht hatte − seine, Achternbergs, sämtlichen Bücher! Deshalb der Besuch auf dem Landweg. Er nahm das oberste Exemplar weg.

„Du hast sie wirklich alle gekauft .…”

„... und gelesen!” Armas zog eine schmunzelnde Miene der Art „Was dachten Sie denn?”

„Und jetzt möchtest Du sie signiert haben?”

„Das war der Gedanke“, lächelte der Junge und stand auf. „Ich helfe Ihnen tragen.”

Armas nahm die übrigen Bücher aus dem Korb und sah Achternberg erwartungsvoll an.

„Na, dann komm’ mal ‘rein”, forderte der Hausherr ihn auf, ihm zu folgen, während er die Terrassentür aufschob. Es sah ein wenig so aus, als würde in alter Zeit ein Sklave seinem Herrn folgen, aber den Eindruck erweckte wohl nur Armas’ aparte Nacktheit, an der sich Achternberg nicht störte − Armas sowieso nicht. Er fand die Ungezwungenheit des Jungen einfach erfrischend. Irgendwie paßte es zu dessen Unschuld. Er ließ ihn zudem aus einem ganz persönlichen Grund gewähren: Achternberg sah sich selbst in ihm und wäre mit 17 gern so frei gewesen.

Armas ahnte noch nicht, daß ihm mit dem Betreten des Hauses ein selten gewährtes Privileg zuteil wurde. Achternberg ließ sonst so gut wie niemanden außerhalb seiner wenigen engen Freunde in seinen Privatbereich. Einen Autograph heischenden Leser schon gleich gar nicht. Er haßte ungebetenes Photographieren, und mit diesen lästigen modernen Handys konnte viel zu schnell seine Privatsphäre verletzt werden. Achternberg konnte diese Respektlosigkeit auf den Tod nicht ausstehen. Armas war nackt, wo sollte er da ein Handy haben?

Achternberg strebte seinem alten Schreibtisch zu, setzte sich und holte seinen Füllfederhalter mit der breiten Feder heraus, mit der er Bücher signierte, während er nach Lesungen mit einem dicken Filzstift autographierte.

Armas blieb neben dem alten Schreibmöbel stehen, das er im Stillen wegen seiner aus einer lange zurückliegenden Zeit überkommenden Schönheit bestaunte. Er war ein moderner Junge, aber ein Ästhet. Er liebte schöne alte Dinge.

„Für Armas …” setzte Achternberg an als er bemerkte, daß er den Familiennamen des Jungen nicht kannte.

„Wie heißt Du eigentlich? Ich meine, wie lautet Dein Familienname?

„Moulinville.”

Armas benahm sich, wie es einem Angehörigen des Adels wohl anstand. Er betonte sein „von” nicht. Es sprach für das Selbstbewußtsein des Jungen, daß er es nicht für nötig befand. Und sein Gegenüber konnte ihn gleich als einen Nachfahren von Hugenotten einordnen.

Als Achternberg die erste Widmung geschrieben und seine schwungvolle, doch klar leserliche Signatur darunter gesetzt hatte, legte Armas die übrigen Bücher auf dem Schreibtisch ab.

„Darf ich mich ein wenig umsehen?” Dabei deutete er auf die vollen Bücherwände.

„Aber natürlich, tu Dir keinen Zwang an. Die Kanadische Biographie steht übrigens dort rechts neben den roten Bänden der Neuen Deutschen Biographie.”

Armas wandte sich Achternbergs Bücherschätzen zu. Es waren seiner Schätzung nach mehrere tausend Exemplare. Er konnte sich auf Anhieb kaum sattsehen, was er da alles entdeckte. Er fand schnell den Band in dem der Marschall de Lévis aufgeführt war, zog ihn heraus und ließ sich in einem Sessel nieder, um den biographischen Artikel zu lesen. Achternberg sah mit Vergnügen, daß Armas seine Leidenschaft für gedruckte Bücher offensichtlich teilte. Im Zeitalter des Internets, der Digitalisierung, von Hör- und eBüchern war das nicht mehr selbstverständlich. Dabei waren und blieben für ihn gedruckte Bücher das einzig Wahre, denn nur ihnen haftete die zum Genuß notwendige Sinnlichkeit an.

Achternberg konnte sich köstlich amüsieren, wenn er Menschen beobachtete, die stundenlang auf irgendwelchen flachen Taschenbildschirmen oder ihren iPhones herumwischten.

Hin und wieder stellte er sich breit grinsend vor, was wohl passierte, wenn man solchen Leuten eine normale Tageszeitung zu lesen gäbe. Vermutlich hätten sie vergessen, daß man sie aufschlagen und umblättern müßte, während sie verzweifelt versuchten auf der ersten Seite „umzuwischen“. Warum geht denn das nicht? Und bei einer frischen Zeitung bekäme man gar schwarze Finger, weshalb gute herrschaftliche Diener und Butler bis in die Gegenwart Zeitungen bügelten, bevor sie der Herrschaft vorgelegt würden.

Während er Armas’ Exemplare seiner Bücher signierte, sah er immer mal zu dem Teenager hinüber, der, in einem Sessel sitzend, ganz vertieft in seiner Lektüre war. Er hatte sich offenbar „festgelesen“. Achternberg kannte das von sich selbst. Das war ihm als Kind und Teenager schon so gegangen, damals noch mit spannenden Comics wie „Sigurd” oder „Bessie”, dann den Karl-May-Bänden, später im Studium, bis zur Gegenwart − wenn ihn ein Text faszinierte, blieb er „dran“, vergaß alles um sich herum, Zeit und Raum, selbst das Essen. Einzig ein Rendezvous mit einem hübschen weiblichen Wesen hatte er noch nie verpaßt. Da hatte ihn seine innere Uhr immer rechtzeitig auf die alte Wanduhr blicken lassen, wenn die verabredete Stunde näher rückte, ohne daß man sich zehnmal per Handy das baldige Kommen hätte ansagen müssen. Diese lästigen Dinger gab es schlicht und ergreifend nicht.

Plötzlich bemerkte er im Augenwinkel, daß Armas aufgestanden war, und sah hin. Der Junge stellte gerade den herausgenommenen Band zurück.

Einen Moment lang fühlte Achternberg sich an Bilder von Henry Scott Tuke erinnert, die er vor geraumer Zeit einmal gesehen hatte. Wäre dieser Maler anwesend, hätte er vermutlich, als Armas sich leicht streckte, um das Regal mit der Lücke zu erreichen, gerufen Halt! Bleib’ so! und sein Skizzenbuch gezückt. Aber Tuke war bereits 1929 gestorben. Achternberg kannte keinen zeitgenössischen Maler, der ästhetisch ansprechende Bilder von älteren Teenager-Knaben fertigen würde, so wie er im Louvre den „Jüngling am Meer” von Hippolyte Flandrin gesehen hatte. Er würde Armas mit Worten „malen”. So könnte sich jeder Leser sein buchstäblich eigenes Bild machen.

Achternberg legte das letzte signierte Exemplar auf den Stapel.

„Magst Du ‘was trinken? Bei dieser Wärme wirst Du Durst haben.”

Armas drehte sich um, unterbrach sein Studium der Titel auf den Buchrücken.

„Oh ja, gern. Haben Sie O-Saft da?”

„Keinen aus der Flasche, aber ich kann Dir welchen frisch pressen.”

„Das wäre toll. Darf ich mitkommen?”

„Sicher.”

Armas folgte Achternberg in die große Küche des Hauses, sichtlich neugierig, wie weitere Bereiche des Domizils des von ihm bewunderten Schriftstellers aussahen.

Jeder Winkel des Gebäudes schien als Aufstellplatz für Bücher genutzt zu sein. Dazwischen hingen schöne Bilder von deutschen Leuchttürmen, norddeutschen Landschaften und mit Marinemotiven sowie gerahmte Photos von Großseglern aus aller Welt.

Armas vermißte etwas.

„Setz’ Dich.”

Achternberg deutete in der geräumigen norddeutschen Küche auf einen Stuhl, den Armas umdrehte, Platz nahm und sich mit den Armen auf der Rückenlehne abstützte.

Derweil holte Achternberg eine Glaspresse aus einem der Schränke, nahm zwei Orangen von einem Teller, halbierte sie mit einem scharfen Messer und drückte sie aus. Durch ein Sieb goß er den frischen Saft in ein Glas, das er Armas hinstellte.

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