Pannonische Geschichten

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Pannonische Geschichten
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Pannonische Geschichten

Herausgeber: contentplus communications GmbH, Augsburg

Autorin: Gaby Hühn-Keller

Titelbild: Gaby Hühn-Keller

published by: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

Copyright: © 2011 contentplus communications GmbH

ISBN 978-3-8442-1009-5

www.contentplus.de

Zur Autorin


Gaby Hühn-Keller

Geb.: 1942 in Raabfidisch (Rábafüzes), Ungarn

Lyrik – Texte – Malerei

Künstlerisch tätig seit dem zwanzigsten Lebensjahr.

Freizeitpädagogin, mit schwerpunktmäßiger Ausbildung in der Sparte Malen und Kreatives Gestalten. Als VHS-Dozentin Leiterin von Malkursen. Dreißig Jahre mit Senioren Erarbeitung und Ausführung von kunstgewerblichen Arbeiten. Ferner entstand aus Gesprächs- und Lesekreisen ein „Koch- und Lesebuch“ wie auch eine Sammlung alter Albumverse „Dies zur Erinnerung...“, beides veröffentlicht.

Als freischaffende Malerin bevorzugt Landschaften und Bilder surrealen Inhaltes in Aquarell- und Mischtechnik. Einzelausstellungen und regelmäßige Beteiligung an Gruppenausstellungen.

Auf dem Gebiet der Literatur drei eigene Lyrikbände: „Schlangengebet“, „Zeitbrücken“, „Sensible Wesen“. Kurzgeschichten erschienen in zahlreichen Anthologien und Literaturzeitschriften.

Mitglied in der Künstlergilde Landsberg-Lech-Ammersee seit 1962.

Mitglied in der Interessengemeinschaft deutschsprachiger Autoren e.V. (IGdA) seit 1981.

3. und 8. Preis im Bundeswettbewerb des Kuratoriums deutscher Altenhilfe für die künstlerische Arbeit mit Senioren.

„Rudolf-Descher-Feder“ 2009 von der IGdA als Anerkennung für das literarische Schaffen.

2011 elektronisches Buch „Pannonische Geschichten“. In diesen Geschichten spannt sich der Bogen zeitlich von der frühen Nachkriegszeit bis heute, räumlich von Ungarn bis Bayern. Sie geben Zeugnis von einer gelungen Integration im neuen Umfeld nach der gewaltsamen Aussiedlung 1946. Sie erzählen aber auch von den mannigfachen Verbindungen mit der alten Heimat.

Pannonische Pforte

Es mag im Jahr 2005 gewesen sein, als ich zusammen mit meinem Mann zur Beerdigung meines Onkels Imre fuhr. Oder war es zwei, drei Jahre früher? Als Beifahrerin hatte ich jedenfalls die Muße, aus dem Fenster zu schauen. Da entdeckte ich an einem dieser vielen Kreisverkehre, die plötzlich auch im äußersten Osten Österreichs vor und nach jedem Dorf eine Straßeninsel umzirkelten, neben den Abzweighinweisen ein zusätzliches, eher beiläufig unauffälliges Schild. Dem entnahm ich beim zügigen Vorbeifahren, dass man sich hier an der „Pannonischen Pforte“, dem Tor nach Ungarn befinde. Ob dies nun auf der Umgehungsstraße von Fürstenfeld war oder schon vorher, unmittelbar an der Stelle, wo wir die Burgenland-Autobahn verlassen hatten, weiß ich jetzt nicht mehr. Ich stutzte nur: Aha, die Straße nagelneu, verbreitert, dem vermehrten Verkehrsaufkommen durch den Wegfall der Grenzen und dem zunehmenden Warenverkehr mit dem Osten der EU angepasst – aber, gleichzeitig eine geographisch-kulturelle Rückbesinnung, die man für mitteilenswert hielt. Oder diente das Schild lediglich der Werbung für Fremdenverkehr? Wie dem auch sei, so einen Hinweis hatte ich in 40 Jahren vorher nirgends gesehen.

Sicher, wenn Sie googeln, wird Ihnen unter dem Schlagwort „Pannonische Pforte“ der eine oder andere Übergang oder eine Region auch weiter nördlich, etwa von Wien aus nach Osten angegeben. Aber ich spreche jetzt von dieser Straße, auf der ich das Schild gesehen habe. Auf welcher ich gefahren bin, immer, wenn ich meinen Geburtsort Rábafüzes mit dem Auto aufgesucht habe: Von der Straße, die sich durch das romantische Lafnitztal schlängelt. Auf der man gerne mal bremst, um einem Reh oder einem schillernden Fasan das Queren der Fahrbahn zu ermöglichen. Die verbreiterte Straße, die Kreisel und der stärkere Verkehr tun der Schönheit der Landschaft nur wenig Abbruch. Lediglich mir mag dieser Fortschritt nicht so gut gefallen, weil eben für mich die Strecke bis zu den Grenzorten Heiligenkreuz und Rábafüzes mit persönlicher Nostalgie belegt ist. Dazu gehört für mich das Bild der alten, unveränderten Straße, die schlicht und unverkreiselt durch alle Dörfer führte.

Über diese Straße erreicht man den pannonischen Raum, dem schon die alten Römer diesen Namen gegeben haben. Illyrische Völker hatten hier gelebt. Seit etwa der Zeitenwende war er römische Provinz. Es folgte Alarich mit seinen Westgoten, später kamen die Langobarden. Ab Mitte des sechsten Jahrhunderts streiften die Awaren, ein tatarisches Reitervolk in diesem Raum umher und schließlich ab 894 die Magyaren, die Ungarn, die bekanntlich weite Teile Mitteleuropas unsicher gemacht haben, bis sie schließlich in der Schlacht auf dem Lechfeld im Jahre 955 von Otto dem Großen endgültig besiegt wurden. Von da ab sind sie sesshaft geworden. Sie haben von nun an den pannonischen Raum kulturell geformt. Ganz stimmt das so nicht. Nach ihrer Christianisierung beeinflusste die byzantinische Kultur ihre eigene. Und schon kurz vor 1200 wurden Deutsche, die Siebenbürger Sachsen angesiedelt, die ihre Sprache und Tradition beibehielten. Wieder später begannen die Türkeneinfälle und eine 150 Jahre dauernde Zeit der Türkenherrschaft. Aber all die Türkenschlachten, eine davon direkt zwischen Raab und Lafnitz bei Mogersdorf, auch Schlacht bei Szentgotthárd genannt, unmittelbar an dem Dreiländer-Eck Österreich-Slowenien-Ungarn, im Jahre 1664, waren zeitlich später als die Ansiedlung deutscher Bauern, hauptsächlich aus Bayern und Franken, in diese Gegend an der Pforte nach Pannonien.

In der Regierungszeit Kaiser Heinrichs IV. wanderten sie ab 1076 in das heutige südliche Burgenland ein (früher das ungarische Komitat Ödenburg). Sie nennen sich Heinzen, in ihrem Dialekt Heanzen oder Hienzen, im Ungarischen Hiencek. Sie haben sich über die Jahrhunderte ihren Dialekt bewahrt. Während der Zeit, als auch das heute österreichische Burgenland noch ungarisch war, wurde in den Schulen dieser Dialekt und nicht das Hochdeutsche gelehrt. Die Teilung des Burgenlandes erfolgte nach dem Ersten Weltkrieg. Und da muss ich eigentlich mit meinen Pannonischen Geschichten beginnen. Denn mein Großvater lebte damals im heute österreichischen Teil. Meine Mutter wurde im Jahr 1913 in dem kleinen Flecken Markt Neuhodis bei Rechnitz, sozusagen direkt im Herzen dieses Hienzenlandes geboren. Aber, sie gehört nicht diesem alten deutschen Stamm an. Sie hatte ungarische Eltern, die mit Kind und Kegel Anfang der 1920er Jahre nach dieser nachkrieglichen Grenzziehung ins in Ungarn verbliebene Rábafüzes (deutsch Raabfidisch) gezogen waren, um den Verwandten beider Elternteile näher zu sein. Von da ab besuchten auch meine Mutter und ihre Schwestern noch ein paar Jahre eine Schule, in welcher im Hienzen-Dialekt und auch in der Amtssprache ungarisch unterrichtet wurde. Meine Mutter erlernte das Deutsche nur mäßig, da sie schon in jungen Jahren nach Budapest ging. Ihre jüngeren Schwestern hingegen gut. Sie konnten in die Sprache ihrer Umgebung hineinwachsen. Im Haus der Großeltern sprach man immer ungarisch. In Rábafüzes, wo sich mein Großvater einen kleineren Bauernhof mit einer dazugehörigen Schmiede gekauft hatte, war er der „ungarische Schmied“. Die Stammeszugehörigkeit zu nennen war wichtig, denn die meisten Dorfbewohner gehörten zu den deutschsprachigen Hienzen. Es gab auch noch den einen oder anderen Kroaten im Dorf, einige Juden und auf dem Hügel oberhalb des Dorfes lebten ein paar Roma-Familien. Die Bevölkerung war auch konfessionell gemischt. Diese gemischte Bevölkerung war typisch und koexistent gefördert unter der Jahrhunderte langen Oberherrschaft der Habsburger.

Die radikale Veränderung brachte die unmittelbare Nachkriegszeit des Zweiten Weltkrieges. Mit Deutschland hatte auch der Kriegspartner Ungarn, der besonders den Russland-Feldzug unterstützte, den Krieg verloren. Im August 1945 trafen sich die alliierten Siegermächte USA (Truman), UdSSR (Stalin) und Großbritannien (Churchill) in Potsdam zu einer Konferenz, um für das besiegte Deutschland Gebietsabtretungen und neue Grenzverläufe festzulegen und die Vertreibung Deutschsprachiger oder Deutschstämmiger aus den besetzten Gebieten zu veranlassen. Dies betraf etwa 6000 Hienzen aus dem Raum Szentgotthárd und Körmend, die im Mai 1946 in den Landkreis Landsberg am Lech ausgesiedelt wurden. Unter ihnen befand sich auch mein Vater, der kein Hienze war aber ein deutschstämmiger Donauschwabe. Seine Vorfahren wurden zu Maria Theresias Zeiten angeworben, um sich in Südostungarn anzusiedeln. Diese Landschaft um die Stadt Fünfkirchen (Pécs) war zu dieser Zeit durch große Türkenschlachten, letztlich durch den Sieg über die Türken und deren endgültigen Rückzug geradezu menschenleer. Mit meinem Vater, der nach Rábafüzes hingeheiratet und sich als Frisör selbständig gemacht hatte, ging meine Mutter. Sie wurde amtlicherseits nicht gezwungen, mit ihm zu gehen. Sie konnte sich aber anschließen. Und mit ihnen ging ich. Selbstverständlich ungefragt. Ich war ein vierjähriges Kind.

Die vielen Male, die ich seit meinem zwanzigsten Lebensjahr durch diese Pannonische Pforte zu meinem Geburtsort und in dessen nähere und weitere Umgebung, sowie überhaupt in fast alle Landstriche Ungarns gefahren bin, war ich auch immer auf einer gewissen Spurensuche nach den Wurzeln meiner Familie und der Mentalität der dortigen Menschen. Einige meiner Erlebnisse lege ich in diesen „Pannonischen Geschichten“ einem interessierten Leserkreis vor. Sie sind über viele Jahre entstanden und befinden sich einzeln in der einen oder anderen Anthologie oder in literarischen Zeitschriften, auch in meinen Familiengeschichten. Die Geschichten sind lose aneinander gereiht, in einer gewissen chronologischen Reihenfolge. Bewusst habe ich nicht die Romanform gewählt. Dazwischen gestreut finden sich „Anekdoten“. In dieser kurzen Form lässt sich für mich der Charakter dieser liebenswerten, lebenstüchtigen Menschen, die östlich und westlich der Pannonischen Pforte leben oder lebten, besser beschreiben. Viele von ihnen leben jetzt in Bayern, von wo ihre Vorfahren ja schon fast vor tausend Jahren gekommen waren. Für sie schließt sich so der Kreis, selbst wenn sie darüber nie nachgedacht haben oder es sogar gar nicht wissen. Für mich kann dieser Kreis nicht gelten, da meine Stammeswurzeln noch etwas weiter verzweigt sind und in andere Richtungen laufen.

 

Ich erinnere mich gerne an einen schon längst verstorbenen, älteren Freund aus Budapest. Er hatte mich in den 1970er Jahren in Augsburg zu einer politischen Versammlung mitgenommen. Franz Josef Strauß hatte Otto von Habsburg eingeladen, über EUROPA zu sprechen, seine Vision darzulegen über eine zu gründende Europapartei. „Solltest du dich entwurzelt fühlen“, sagte mein Freund, „so entwurzelt, wie ich mich fühle, denke daran, vielleicht gibt es einmal ein Vereintes Europa. Darin findest du deinen Platz.“

Unterm Birnbaum

„Apu gyere most – Papa, komm jetzt“, forderte ich meinen Vater auf. Er hatte mir versprochen, mit mir ans Dorfende zu gehen, zu einem Birnbaum. Wir gingen los, hatten den letzten Bauernhof hinter uns gelassen und da sahen wir ihn: In voller Pracht stand er in der milden Septembersonne, hing über und über voller Birnen. Angekommen, umkreisten wir den Baum, suchten sorgfältig das Gras ab, ob Birnen herabgefallen waren. Es lag jedoch keine einzige unversehrte Birne da. Angeschlagene, halb verfaulte, vom Fallen Aufgeplatzte, ja. Ein süßer mostiger Geruch vermischte sich mit dem von Gras und warmer Erde, kitzelte mir in der Nase, wenn ich mich bückte, um eine Birne umzudrehen. Wespen flogen auf und Fliegen. Ameisen krabbelten mir rasch auf die kleinen Finger. Ich bekam Angst und schrie auf. Schließlich fing ich an zu weinen, weil ich Hunger hatte, und keine der Birnen war gut. „Da waren heute schon viele da“, sagte mein Vater. Die vielen, die er meinte, waren andere Heimatvertriebene wie wir auch. Sie lebten jetzt in diesem bayerischen Dorf. Ein ganzes Dorf aus Ungarn zwangsumgesiedelt in ein bayerisches Dorf.

Dieser Birnbaum stand auf Gemeindeflur, gehörte keinem und jedem. Schnell hatte sich bei den Flüchtlingen herumgesprochen, dass man alle Früchte, die von alleine herunterfallen, aufklauben und mitnehmen darf. Mein Vater hob schließlich drei, vier Birnen auf. Er schnitt sie mit seinem Taschenmesser sorgfältig aus. Wir setzten uns ins Gras und aßen gemeinsam. Als wir fertig waren, sagte er: „Wir warten, bis eine Birne herunterfällt. Dann werden wir die ersten sein. Du klaubst sie auf und nimmst sie mit nach Hause.“

Wir saßen gemütlich, schauten über die Wiese zu einem kleinen Bach. „Das ist der „Verlorene Bach““, wusste mein Vater. „Er entspringt nicht weit von hier, fließt dreißig, vierzig Kilometer, und verschwindet plötzlich wieder. So sagen es jedenfalls die Einheimischen.“ Ich hüpfte die paar Sprünge die Wiese hinunter zum Bach, hob mein Röcklein an, stieg ins schnell fließende Wasser hinein. Seine Kühle umspülte mich bis zu den Oberschenkeln. „Komm raus, du bist dünn. Das Wasser könnte dich umreißen“, hörte ich meinen Vater hinter mir.

Wir gingen zum Birnbaum zurück, setzten uns wieder. Die Sonne trocknete langsam meine Beine. „Erzähl doch“, bat ich, „erzähl von deinem Hund. Als du ein Kind warst und einen Hund hattest.“ Mein Vater erzählte von seinem Spitz. Wie er mit ihm gespielt hatte, wie der Hund ihm in den Weinberg gefolgt war. Dass er ihn sogar zur Schule begleitet und gewartet hatte, bis die Schule aus war. Ich sah den kleinen Hund nun deutlich vor mir und fragte: „Könnten wir nicht auch so einen Hund haben; dann hätte ich einen Spielkameraden.“ „Hunde fressen Fleisch. Wir haben doch selbst kaum zu essen. Du siehst schon. es geht nicht.“ Ich schaute ihn an und merkte, dass er traurig war. Er sagte nun: „Unsere Verwandten in Ungarn haben zwar jetzt die Russen am Hals, aber sie haben wenigstens zu essen. Sie haben ihren eigenen Birnbaum – und wir, wir müssen hier sitzen und warten, bis eine Birne herunterfällt. Das geht mir wirklich ans Gemüt!“ Ich kuschelte mich etwas näher an ihn, um ihn zu trösten. Er legte seinen Arm um mich und sagte: „Im Moment könnte mir nur ein Zigeuner helfen. Der hat eine Geige und spielt einem sein Lieblingslied vor, wenn man traurig ist. Weil das Lied so schön ist, kann man weinen, dann fühlt man sich gleich besser. Aber hier in Bayern gibt es nicht einmal einen Zigeuner.“

Da machte es neben uns „plopp“. Eine Birne war heruntergefallen: Goldgelb, unversehrt, duftend und reif!

Der Küchen-Amts-Wohnzimmer-Frisiersalon

Es war Mitte Mai 1946, als wir mit den zugelassenen insgesamt 50 kg Gepäck für drei Personen in Landsberg am Lech nach einwöchiger Fahrt in einem langen langen Güterzug ankamen. Unser überaus geschrumpfter Hausrat befand sich in der Aussteuertruhe meiner ungarischen Großmutter. Dazu zwei bezogene Federbetten mit Kissen, in je ein Laken eingebunden extra.

Wir waren eine der kleinsten Familien: Meine Eltern und ich.

In Landsberg am Bahnhof standen amerikanische Soldaten mit Militär-Lkws bereit, um uns auf die umliegenden Dörfer zu verteilen. Nach einer Liste wurden sowohl Personen wie auch Gepäck aufgeladen. Wir wurden einer Kolonne mit etwa 40 Familien für ein Dorf namens Petzenhausen zugeordnet. Ich war ein vierjähriges Kind. Mir war eingeschärft worden, die Hand meiner Mutter auf keinen Fall loszulassen. Obwohl ich vom ganzen Vorgang nichts verstand und vor allem kein deutsches Wort, geschweige denn ein englisches, sehe ich die ganze Szenerie genau so deutlich vor mir, als wäre es gestern passiert. Ein Soldat fasst mich an der Taille und schwupp bin ich auf dem Laster. Ich schreie, weil die Hand meiner Mutter weg ist. Aber sofort hilft er meiner Mutter hoch. Ich beruhige mich. Dann hebt man unsere Truhe rauf, wirft das Bettzeug nach. Mein Vater steigt als Letzter von der Gruppe auf. Die Klappe wird hochgeschlagen und verriegelt. Der Konvoi setzt sich in Bewegung. Während wir abfahren, geht das Verladen unserer deutschsprachigen Dorfgemeinschaft aus Ungarn weiter.

In besagtem Dorf halten die Laster im geräumigen Hof einer Gastwirtschaft mit bäuerlichem Anwesen. Wir steigen wieder alle aus und bekommen pro Familie einen Zettel mit Namen und Hausnummer unseres zukünftigen Hauswirtes. Man muss das Haus suchen und wieder zurückkommen. Der Fahrer bringt dann die Gepäckstücke hin.

Meine Eltern machen sich auf die Suche. Ich tripple mit. Wir durchlaufen das ganze Dorf und finden nicht die richtige Nummer. „Man wird uns doch nicht auf einem Einsiedlerhof weit außerhalb einquartieren“, befürchtet meine Mutter. „Außerdem wird es wohl das kleinste Loch sein, das einer übrig hat. Wir sind nur zu Dritt.“ „Hör auf zu jammern, jetzt wird mal gefragt,“ sagt mein Vater und geht auf eine Frau zu. Das Haus befinde sich direkt unterhalb des Wirtshauses, wird ihm gesagt. Wir gehen hin. “Es ist kein Bauernhof. Ob das was zu bedeuten hat?“, wundert sich mein Vater.

Wieder beim Wirt, wurden wir schon von einem amerikanischen Soldaten und einem deutschen Zivilisten erwartet. Oft wurde mir später erzählt, was die gesagt hätten: „Are you the barber?“, der Uniformierte. „Sind Sie der Frisör?“, der Dolmetscher. „Ja, warum?“ Meinem Vater wurde erklärt, dass er eine größere Wohnung bekomme als drei Personen zusteht, mit der Auflage, hier als Frisör tätig zu werden, denn es gäbe weit und breit keinen. Mein Vater stimmte sofort zu. Wir gingen wieder hinunter zu dem Haus. Der Laster brachte Truhe und Bettzeug.

Eine ältere Frau öffnete die Haustür und zeigte den Soldaten, wohin sie die Sachen bringen sollten. „Ja habt’s eis sonscht nix?“, soll sie kopfschüttelnd gesagt haben.

Wir folgten unserem Gepäck und befanden uns in einem geräumigen Zimmer. Man ließ uns allein. Meine Eltern schauten sich in diesem Raum um. Mein Vater schritt, weit ausholend, in beide Richtungen, um sachlich festzustellen: „Der Raum misst etwa fünf mal fünf Meter.“ „Ein sehr angenehmes Zimmer mit diesem Dielenboden und der Holztäfelung rundum“, fügte meine Mutter hinzu. „Und schau dir diesen wunderschönen grünen hohen Kachelofen an. Der hat rechts noch einen kleinen Kochherd mit Wasserschiff dran.“ Sie öffnete das Heizungstürchen und schaute hinein. „Der Kochherd hat einen eigenen Zug, wie praktisch.“ Der Raum war spärlich eingerichtet. In der rechten hinteren Ecke stand eine schöne Biedermeier-Kommode. Darüber hing ein dazu passender, großer Spiegel mit breitem Holzrahmen. Mein Vater ging hin, strich mit beiden Händen über das glatte Holz und sagte ganz gerührt: „Wie geschaffen für meine Arbeit. Fehlt nur noch ein Frisörstuhl.“ Er zog die Schubladen auf. Alle waren randvoll. „Schade, dass ich nichts hineintun kann. Ich werde mein Werkzeug eben oben drauf legen.“ Es befand sich noch ein zierlicher Tisch mit zwei Stühlen zwischen den beiden Fenstern der einen Seite. Über dem Tisch hing eine Uhr, ein alter Regulator, mit gedrechselten Elementen am Gehäuse, der sich jetzt mit tiefen Schlägen bemerkbar machte. In der anderen hinteren Ecke stand eine Nähmaschine mit Fußbetrieb. Darüber war ein Herrgottswinkel eingerichtet. Vom Ofen bis zur Außenwand erstreckte sich eine schmale Kastenbank, deren Sitzfläche meine Mutter nun hochklappte. „Hier werde ich Teller, Tassen, das Besteck und die Geschirrtücher reingeben, weil es keinerlei Schränke gibt. Was mag das für ein Raum sein, groß, wie er ist. Ein Wohnzimmer ist es nicht. Eine Küche auch nicht. Und überhaupt: Nachdem wir jetzt eine Woche im Viehwaggon auf Stroh geschlafen haben, werden wir uns wohl hier auf den blanken Bretterboden legen, bis wir uns ein Bett oder Matratzen erwirtschaftet haben.“ “Dafür können wir tanzen. Platz genug ist da“, warf mein Vater ein.

Plötzlich stand die Hauswirtin im Zimmer. Mein Vater schwenkte augenblicklich auf Deutsch um und ich verstand nichts mehr. Wir wurden in den Hausgang geführt. Sie zeigte uns eine Toilette. Dann ging es in den kleinen Hof. Dort war gespaltenes Holz gestapelt. Davon durften wir nehmen, falls wir etwas kochen wollten. Die Hausfrau ging wieder zurück und brachte uns aus ihrer Küche einen Wassereimer. Das Wasser musste man beim Nachbarn im Hof holen. Wir gingen alle hin. Das Wasser floss aus einem Rohr in einen betonierten Behälter und durch ein anderes Rohr wieder ab in einen Kanal. Die kleine Gruppe unterhielt sich und mein Vater schöpfte den ersten Eimer Wasser im neuen Wohnort. Ich hörte das Wort „danke“ von ihm und dachte mir, er schaut jetzt so, wie wenn er zu jemandem „köszönöm“ sagt. Ich wollte mir das Wort merken.

Dann ging es zurück. Die Hauswirtin kam nochmals mit zu uns rein und zeigte auf das Bettzeug, das mitten im Zimmer lag. Sie öffnete eine Tür, die uns in dieser hochgetäfelten Wand wegen derselben Holzfarbe noch gar nicht aufgefallen war und führte uns in einen angrenzenden Raum, der ungefähr halb so groß war wie der erste. Darin stand rechts und links der Tür der Länge nach an der Wand je ein Bett mit Strohsack und auf der gegenüber liegenden Seite zwei schmale hellblaue Schränke, bemalt mit Rosen. Einen davon hatte sie leer gemacht. Dies wäre unser Schlafzimmer. Und wieder hörte ich, jetzt von beiden, dieses „danke, danke.“ Als die Frau gegangen war, fielen sie sich um den Hals und nahmen mich hoch zu sich.

Der Frisiersalon

Schneller als gedacht, verwandelte sich das große Zimmer in einen Frisiersalon. Noch am selben Abend kamen zwei alte Männer, um sich die Haare schneiden zu lassen. Mein Vater holte sein Werkzeug aus der Truhe und stellte die Stühle bereit. Einen zum Schneiden, einen zum Sitzen. Es stellte sich heraus, dass es die Brüder der Hauswirtin waren. Sie lebten hier zusammen. Alle Drei waren ledig gebliebene Geschwister des reichsten Bauern im Dorf. Die Männer arbeiteten auf dessen Bauernhof. Die Schwester führte ihnen den Haushalt. Sie kamen zum Mittagessen und dann wieder zum Feierabend und zum Übernachten hier her. Sie erzählten auch, dass dieses Haus früher die Schule gewesen sei und unser Wohnraum war damals das Klassenzimmer. Dieses Haus gehöre jetzt ihrem Bruder. Später würde es mal ihr Austragshaus sein. Für das Haarschneiden verlangte mein Vater natürlich nichts.

Am nächsten Spätnachmittag kam der Nachbar, von dem wir das Wasser holten mit seinem Sohn. Diesen beiden kostete der Schnitt auch nichts. Nach dem Abendessen kam einer der alten Hausherrn und sagte meinem Vater, er möge sein Handwerkszeug zusammenpacken, die Männer auf dem Hof (er meinte den Bauernhof seines Bruders) bräuchten alle einen Haarschnitt. Er möge heute Abend noch kommen. Als mein Vater wieder zurück war, witzelte er: „Das fängt ja gut an. Ich hab schon ein Dutzend Männer „geschoren“, anders kann man es bei deren Pelz nicht ausdrücken und noch nichts verdient. Alle gehören zu Familien, denen wir eigentlich etwas schulden. Oder doch nicht?“

 

Der nächste Tag war ein Sonntag. Die Einheimischen hatten in der Kirche die frisch geschnittenen „Köpfe“ entdeckt und nach dem Gottesdienst die Betreffenden gleich gefragt, „wo und wer“. Und so kam es, dass ein paar Minuten später die ersten Kirchgänger in ihren guten Sonntagsanzügen bei uns im großen Zimmer standen. Wir waren gerade so mit dem Frühstück fertig und schon angezogen. Die Männer setzten sich auf die Truhe und auf die Bank neben dem Ofen. Einige blieben stehen. Mein Vater stellte die beiden Stühle vor die Kommode und fing mit dem Haarschnitt an. Meine Mutter sagte zu mir, ich solle mich ruhig verhalten, bat einen Kunden auf den zweiten Stuhl und schnitt auch. Die Männer kamen aus dem Staunen gar nicht raus. Wahrscheinlich hatten sie noch nie eine Frau diese Arbeit verrichten sehen. Meine Mutter hatte dies von meinem Vater abgeschaut, und machte es ganz gut. Wenn er während des Krieges eingezogen war, hatte sie sein Geschäft immer alleine geführt. Ich setzte mich unter das kleine Tischchen und beobachtete das Geschehen. Es kamen immer mehr Männer. Der Raum wurde immer voller, die Stimmen lauter. Einer überschrie den Anderen. Zigaretten wurden herumgereicht, auch mal eine Zigarre. Meine Mutter suchte mit den Augen verzweifelt nach kleinen Gefäßen, die man als Aschenbecher hätte nehmen können. Sie entschied sich für die drei Untertassen, die vom Frühstück noch auf dem Tischchen standen. Ich musste sie verteilen. Dann ging das Gequalme los. Es kamen immer noch mehr Männer. Mein Vater sagte etwas, da gingen die zuletzt Gekommenen, um später wieder zu erscheinen. Das ging so bis zum Zwölfuhrläuten. Da waren die meisten fertig oder verschwanden schlagartig ohne Haarschnitt zum Mittagessen.

Kein Haar in der Suppe

Natürlich nicht. Es war ja nichts gekocht worden. Meine Mutter riss die Fenster auf zum Lüften und lieh sich von der Hauswirtin Besen und Schaufel aus, um sorgfältig all dies Winterfell, wie sie sagte, zusammenzukehren. Wohin sie es entsorgte, weiß ich gar nicht. Als alles sauber war, goss sie aus dem Eimer Wasser in eine Schüssel und wir wuschen uns alle Drei die Hände. „Eigentlich wollten die ja alle zum Frühschoppen. Aber heute kamen sie halt zu mir“, sagte mein Vater. Es gab, wie schon morgens, kalte Milch, hart gewordenes Brot noch aus Ungarn und für meine Eltern einen Streifen von einer immer kleiner werdenden Speckschwarte. Dazu tüchtig frisches Wasser gegen den Durst. Dann zählte mein Vater das Geld. „Heute Abend, wenn gemolken wird, können wir beim Nachbarbauern wieder Milch kaufen und die von gestern bezahlen. Vielleicht reicht es auch für ein paar Eier. Morgen früh mache ich mich auf den Weg, um zu sehen, ob es in einem der Nachbardörfer eine Bäckerei gibt. Ich muss mich erst umschauen, was diese Reichsmark überhaupt wert sind. Wahrscheinlich gar nichts oder nicht viel“, meinte er. Übrigens, Haare in der Suppe gab es bei uns nie. Egal, ob viele Kunden da waren oder wenige, ob meine Mutter meinem Vater half oder Zeit hatte, zu kochen.

Meine Puppe

Kaum hatte mein Vater das Geld weggesteckt, klopfte es. Herein trat sein Freund Richard mit zwei Töchtern, ungefähr in meinem Alter. Sie hatten je eine kleine Puppe dabei. Der Anblick der Puppen führte dazu, dass mir einfiel, dass auch ich eine kleine Stoffpuppe hatte. Sofort fing ich an zu nörgeln, dass jetzt auch ich meine Puppe wolle. Meine Mutter erklärte mir, dass wir die nicht hätten mitnehmen können. Ich aber wusste es besser, denn ich hatte sie in einem unbeaufsichtigten Moment unter einer bauchigen Schüssel versteckt. Ich jammerte so lange, bis meine Mutter die Truhe öffnete, diese Schüssel hochhob – und da lag sie. Etwas flachgequetscht zwar aber freundlich lächelnd. „Hatte sie also doch noch Platz. Wann hast du die denn reingeschmuggelt?“, wunderte sie sich und gab sie mir. Ich drückte sie an mich und meine Tränen waren weg.

Das Wetter war schön. Die Erwachsenen beschlossen, im Dorf herumzugehen, um zu sehen, wo die einzelnen Familien untergekommen waren. Ich konnte mit den Mädchen nicht sprechen. Aber das machte nichts. Wir liefen mit unseren Puppen einfach den Erwachsenen hinterher. Am Ende des Dorfes waren die Großeltern, drei Tanten und sogar noch zwei Cousinen der Mädchen in zwei Zimmern untergebracht. Diese verwandtschaftlichen Verhältnisse wurden mir von meiner Mutter nach dem Besuch erklärt. Und es machte sie traurig, und mich dann auch, dass alle ihre vielen Verwandten jetzt für uns so unerreichbar weit weg waren. „Wir müssen doch hoffentlich nicht für immer bleiben“, seufzte sie.

Ab dem nächsten Tag ereignete sich viel, was aber nicht mich betraf, sondern hauptsächlich meinen Vater. Gerade, als er losgehen wollte, um Brot aufzutreiben, erschien ein Herr aus einem Amt. Er legte mehrere Blätter mit – für mich farbigen, gemusterten kleinen Bildchen – auf den Tisch. Deren Anblick schien meine Eltern sehr zu erfreuen. Einen Teil davon nahm mein Vater zu sich, leerte seine Frisörtasche, eine Art geräumiger Aktentasche aus Leder aus und ging weg. Gegen Mittag kam er zurück und legte den Inhalt seiner Tasche auf den Tisch: Zucker, Salz, Margarine, Mehl, Brot, Grieß, Suppenwürfel. Ich bekam sofort ein frisches Margarinebrot mit Zucker. Er wusste nun, dass es zwei kleine Krämerläden im Dorf gab, im Nachbarort einen Bäcker und ebenfalls dort am Samstag Fleischwaren. „Die Bauern tauschen gerne Eier und Butter gegen diese Lebensmittelmarken“, fügte er hinzu.

Schwere Wörter lerne ich zuerst

Also: „Lebensmittelmarken“. Ich versuchte, es nachzusprechen. Selbst meine Mutter musste dieses Wort üben und es klang anders als bei meinem Vater. Am nächsten Tag kam ein anderer amtlicher Herr. Der erläuterte meinem Vater irgendetwas ganz ausführlich. Der nickte immerzu und sagte „ja, ja“, so wie er ungarisch „igen, igen“ zu sagen pflegte. Der Herr ließ Formblätter und einige Bleistifte da. Mein Vater ging wieder weg und am Nachmittag kamen fünf, sechs Männer aus unserem früheren Dorf bei uns zusammen. Sie besprachen sich recht lange und nahmen fast alle Formblätter und Bleistifte mit. Schon am nächsten Tag kamen sie wieder, legten alle Blätter auf das Tischchen. Einer entfaltete sie, las Namen vor, ein anderer schrieb etwas auf ein leeres Blatt und machte Striche. Sie sagten „aha“ und „soso“ und „ja der“. Dann zählten sie. Ich saß die ganze Zeit mit meiner Puppe neben der Kommode auf dem Fußboden und beobachtete sie. Zum Schluss gab es zwei Namen: Fischl und Keller. Meine Mutter stellte unsere drei großen Tassen gefüllt mit Brunnenwasser auf den Tisch. Die Männer prosteten sich zu und tranken je zu zweit eine Tasse Wasser und fanden dies furchtbar lustig. „Dann also Keller“, und schickten sich an, zu gehen. „Ein Titel ohne Mittel“ antwortete mein Vater und schob sie lachend zur Tür hinaus.

Meine Mutter heizte zum ersten Mal diesen Nebenofen ein. Sie packte die Pfanne und einen Topf aus und bereitete Rührei, dazu Brot mit Margarine. Als Nachspeise gab es Grießbrei mit Zucker. „Zur Feier des Tages“, sagte sie. „Fast schon ein Festtagsessen“, lobte mein Vater. Man hatte ihn zum „Flüchtlings-Obmann“ gewählt. „Das haben wir jetzt von diesem großen Zimmer: Amtsgeschäfte, Haare schneiden, kochen, wohnen. Die werden den ganzen Tag hier herumsitzen.“ Ich nervte ihn so lange, bis er mir mehrmals erzählte, was da vorgefallen war. Und, als ob ich ein gleichaltriger aber etwas begriffsstutziger Mensch wäre, ging er darauf ein.

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