Morgenröthe

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39

Das Vorurteil vom »reinen Geiste«. – Überall, wo die Lehre von der reinen Geistigkeit geherrscht hat, hat sie mit ihren Ausschweifungen die Nervenkraft zerstört: sie lehrte den Körper geringschätzen, vernachlässigen oder quälen, und um aller seiner Triebe willen den Menschen selber quälen und geringschätzen; sie gab verdüsterte, gespannte, gedrückte Seelen, – welche noch überdies glaubten, die Ursache ihres Elend-Gefühls zu kennen und sie vielleicht heben zu können! »Im Körper muß sie liegen! er blüht immer noch zu sehr!« – so schlossen sie, während tatsächlich derselbe gegen seine fortwährende Verhöhnung durch seine Schmerzen Einsprache über Einsprache erhob. Eine allgemeine, chronisch gewordene Übernervosität war endlich das Los jener tugendhaften Reingeistigen: die Lust lernten sie nur noch in der Form der Ekstase und anderer Vorläufer des Wahnsinns kennen – und ihr System kam auf seine Spitze, als es die Ekstase als das Höheziel des Lebens und als den verurteilenden Maßstab für alles Irdische nahm.

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Das Grübeln über Gebräuche. – Zahllose Vorschriften der Sitte, einem einmaligen seltsamen Vorkommnis flüchtig abgelesen, wurden sehr schnell unverständlich; es ließ sich ihre Absicht ebensowenig mit Sicherheit ausrechnen wie die Strafe, welche der Übertretung folgen werde; selbst über die Folge der Zeremonien blieb Zweifel; – aber indem man darüber hin und her riet, wuchs das Objekt eines solchen Grübelns an Wert, und gerade das Absurdeste eines Gebrauches ging zuletzt in die heiligste Heiligkeit über. Man denke nicht gering von der hier in Jahrtausenden aufgewendeten Kraft der Menschheit und am wenigsten von der Wirkung dieses Grübelns über Gebräuche! Wir sind hier auf der ungeheuren Übungsstätte des Intellektes angelangt, – nicht nur daß hier die Religionen ausgesponnen und fortgesponnen werden: hier ist die würdige, obschon schauerliche Vorwelt der Wissenschaft hier wuchs der Dichter, der Denker, der Arzt, der Gesetzgeber! Die Angst vor dem Unverständlichen, welches in zweideutiger Weise von uns Zeremonien forderte, ging allmählich in den Reiz des Schwerverständlichen über, und wo man nicht zu ergründen wußte, lernte man schaffen.

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Zur Wertbestimmung der vita contemplativa. – Vergessen wir als Menschen der vita contemplativa nicht, welche Art von Übel und Unsegen durch die verschiedenen Nachwirkungen der Beschaulichkeit auf die Menschen der vita activa gekommen ist, – kurz, welche Gegenrechnung die vita activa uns zu machen hat, wenn wir allzu stolz mit unseren Wohltaten uns vor ihr brüsten. Erstens: die sogenannten religiösen Naturen, welche der Zahl nach unter den Kontemplativen überwiegen und folglich ihre gemeinste Spezies abgeben, haben zu allen Zeiten dahin gewirkt, den praktischen Menschen das Leben schwer zu machen und es ihnen womöglich zu verleiden: den Himmel verdüstern, die Sonne auslöschen, die Freude verdächtigen, die Hoffnungen entwerten, die tätige Hand lähmen, – das haben sie verstanden, ebenso wie sie für elende Zeiten und Empfindungen ihre Tröstungen, Almosen, Handreichungen und Segenssprüche gehabt haben. Zweitens: die Künstler, etwas seltener als die Religiösen, aber doch immer noch eine häufige Art von Menschen der vita contemplativa, sind als Personen zumeist unleidlich, launisch, neidisch, gewaltsam, unfriedlich gewesen: diese Wirkung ist von den erheiternden und erhebenden Wirkungen ihrer Werke in Abzug zu bringen. Drittens: die Philosophen, eine Gattung, in der sich religiöse und künstlerische Kräfte beisammen vorfinden, doch so, daß etwas Drittes, das Dialektische, die Lust am Demonstrieren, noch daneben Platz hat, sind die Urheber von Übeln nach der Weise der Religiösen und der Künstler gewesen und haben noch dazu durch ihren dialektischen Hang vielen Menschen Langeweile gemacht; doch war ihre Zahl immer sehr klein. Viertens: die Denker und die wissenschaftlichen Arbeiter; sie waren selten auf Wirkungen aus, sondern gruben sich still ihre Maulwurfslöcher. So haben sie wenig Verdruss und Unbehagen gemacht und oft als Gegenstand des Spottes und Gelächters sogar, ohne es zu wollen, den Menschen der vita activa das Leben erleichtert. Zuletzt ist die Wissenschaft doch etwas sehr Nützliches für alle geworden: wenn dieses Nutzens halber jetzt sehr viele zur vita activa Vorherbestimmte sich einen Weg zur Wissenschaft bahnen, im Schweiße ihres Angesichts und nicht ohne Kopfzerbrechen und Verwünschungen, so trägt doch an solchem Ungemach die Schar der Denker und wissenschaftlichen Arbeiter keine Schuld; es ist »selbstgeschaffene Pein«.

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Herkunft der vita contemplativa. – In rohen Zeiten, wo die pessimistischen Urteile über Mensch und Welt herrschen, ist der einzelne im Gefühle seiner vollen Kraft immer darauf aus, jenen Urteilen gemäß zu handeln, also die Vorstellung in Aktion zu übersetzen, durch Jagd, Raub, Überfall, Misshandlung und Mord, eingerechnet die blässeren Abbilder jener Handlungen, wie sie innerhalb der Gemeinde allein geduldet werden. Läßt seine Kraft aber nach, fühlt er sich müde oder krank oder schwermütig oder übersättigt und infolge davon zeitweilig wunsch- und begierdenlos, so ist er da ein verhältnismäßig besserer, das heißt weniger schädlicher Mensch, und seine pessimistischen Vorstellungen entladen sich dann nur noch in Worten und Gedanken, zum Beispiel über den Wert seiner Genossen oder seines Weibes oder seines Lebens oder seiner Götter, – seine Urteile werden böse Urteile sein. In diesem Zustande wird er zum Denker und Vorausverkünder, oder er dichtet an seinem Aberglauben weiter und sinnt neue Gebräuche aus, oder er spottet seiner Feinde –: was er aber auch erdenkt, alle Erzeugnisse müssen seinen Zustand widerspiegeln, also die Zunahme der Furcht und der Ermüdung, die Abnahme seiner Schätzung des Handelns und Genießens; der Gehalt dieser Erzeugnisse muß dem Gehalte dieser dichterischen, denkerischen, priesterlichen Stimmungen entsprechen; das böse Urteil muß darin regieren. Später nannte man alle die, welche andauernd taten, was früher der einzelne in jenem Zustande tat, welche also böse urteilten, melancholisch und tatenarm lebten, Dichter oder Denker oder Priester oder Medizinmänner –: man würde solche Menschen, weil sie nicht genug handelten, gerne geringgeschätzt und aus der Gemeinde gestoßen haben; aber es gab eine Gefahr dabei, – sie waren dem Aberglauben und der Spur göttlicher Kräfte nachgegangen, man zweifelte nicht daran, daß sie über unbekannte Mittel der Macht geböten. Dies ist die Schätzung, in der das älteste Geschlecht kontemplativer Naturen lebte, – genau so weit verachtet, als sie nicht gefürchtet wurden! In solcher vermummten Gestalt, in solchem zweideutigen Ansehen, mit einem bösen Herzen und oft mit einem geängstigten Kopfe, ist die Kontemplation zuerst auf der Erde erschienen, zugleich schwach und furchtbar, im geheimen verachtet und öffentlich mit abergläubischer Ehrerbietung überschüttet! Hier, wie immer, muß es heißen: pudenda origo!

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Wie viele Kräfte jetzt im Denker zusammenkommen müssen. – Sich dem sinnlichen Anschauen zu entfremden, sich zum Abstrakten zu erheben, – das ist wirklich einmal als Erhebung gefühlt worden: wir können es nicht ganz mehr nachempfinden. Das Schwelgen in den blassesten Wort- und Dingbildern, das Spiel mit solchen unschaubaren, unhörbaren, unfühlbaren Wesen wurde wie ein Leben in einer andern höheren Welt empfunden, aus der tiefen Verachtung der sinnlich tastbaren, verführerischen und bösen Welt heraus. »Diese abstracta verführen nicht mehr, aber sie können uns führen!« – dabei schwang man sich wie aufwärts. Nicht der Inhalt dieser Spiele der Geistigkeit, sie selber sind »das Höhere« in den Vorzeiten der Wissenschaft gewesen. Daher Platos Bewunderung der Dialektik und sein begeisterter Glaube an ihre notwendige Beziehung zu dem guten entsinnlichten Menschen. Nicht nur die Erkenntnisse sind einzeln und allmählich entdeckt worden, sondern auch die Mittel der Erkenntnis überhaupt, die Zustände und Operationen, die im Menschen dem Erkennen vorausgehen. Und jedesmal schien es, als ob die neu entdeckte Operation oder der neu empfundene Zustand nicht ein Mittel zu allem Erkennen, sondern schon Inhalt, Ziel und Summe alles Erkennenswerten sei. Der Denker hat die Phantasie, den Aufschwung, die Abstraktion, die Entsinnlichung, die Erfindung, die Ahnung, die Induktion, die Dialektik, die Deduktion, die Kritik, die Materialsammlung, die unpersönliche Denkweise, die Beschaulichkeit und die Zusammenschauung und nicht am wenigsten Gerechtigkeit und Liebe gegen alles, was da ist, nötig, – aber alle diese Mittel haben einzeln in der Geschichte der vita contemplativa einmal als Zwecke und letzte Zwecke gegolten und jene Seligkeit ihren Erfindern gegeben, welche beim Aufleuchten eines letzten Zweckes in die menschliche Seele kommt.

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Ursprung und Bedeutung. – Warum kommt mir dieser Gedanke immer wieder und leuchtet mir in immer bunteren Farben? – daß ehemals die Forscher, wenn sie auf dem Wege zum Ursprung der Dinge waren, immer etwas von dem zu finden meinten, was von unschätzbarer Bedeutung für alles Handeln und Urteilen sei, ja, daß man stets voraussetzte, von der Einsicht in den Ursprung der Dinge müsse des Menschen Heil abhängen: daß wir jetzt hingegen, je weiter wir dem Ursprung nachgehen, um so weniger mit unseren Interessen beteiligt sind; ja, daß alle unsere Wertschätzungen und »Interessiertheiten«, die wir in die Dinge gelegt haben, anfangen ihren Sinn zu verlieren, je mehr wir mit unserer Erkenntnis zurück und an die Dinge selbst heran gelangen. Mit der Einsicht in den Ursprung nimmt die Bedeutungslosigkeit des Ursprungs zu: während das Nächste, das Um-uns und In-uns allmählich Farben und Schönheiten und Rätsel und Reichtümer von Bedeutung aufzuzeigen beginnt, von denen sich die ältere Menschheit nichts träumen ließ. Ehemals gingen die Denker gleich eingefangenen Tieren ingrimmig herum, immer nach den Stäben ihres Käfigs spähend und gegen diese anspringend, um sie zu zerbrechen: und selig schien der, welcher durch eine Lücke etwas von dem Draußen, von dem Jenseits und der Ferne zu sehen glaubte.

 

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Ein Tragödien-Ausgang der Erkenntnis. – Von allen Mitteln der Erhebung sind es die Menschenopfer gewesen, welche zu allen Zeiten den Menschen am meisten erhoben und gehoben haben. Und vielleicht könnte mit einem ungeheuren Gedanken immer noch jede andere Bestrebung niedergerungen werden, so daß ihm der Sieg über den Siegreichsten gelänge, – mit dem Gedanken der sich opfernden Menschheit. Wem aber sollte sie sich opfern? Man kann bereits darauf schwören, daß, wenn jemals das Sternbild dieses Gedankens am Horizonte erscheint, die Erkenntnis der Wahrheit als das einzige ungeheure Ziel übriggeblieben sein wird, dem ein solches Opfer angemessen wäre, weil ihm kein Opfer zu groß ist. Inzwischen ist das Problem noch nie aufgestellt worden, inwiefern der Menschheit, als einem Ganzen, Schritte möglich sind, die Erkenntnis zu fördern; geschweige denn, welcher Erkenntnistrieb die Menschheit so weit treiben könnte, sich selber darzubringen, um mit dem Leuchten einer vorwegnehmenden Weisheit im Auge zu sterben. Vielleicht, wenn einmal eine Verbrüderung mit Bewohnern anderer Sterne zum Zweck der Erkenntnis hergestellt ist, und man einige Jahrtausende lang sich sein Wissen von Stern zu Stern mitgeteilt hat: vielleicht, daß dann die Begeisterung der Erkenntnis auf eine solche Flut-Höhe kommt!

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Zweifel am Zweifel. – »Welch gutes Kopfkissen ist der Zweifel für einen wohlgebauten Kopf!« – dies Wort Montaignes hat Pascal immer erbittert, denn es verlangte niemanden gerade so stark nach einem guten Kopfkissen als ihn. Woran fehlte es doch? –

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Die Worte liegen uns im Wege! – Überall, wo die Uralten ein Wort hinstellten, da glaubten sie eine Entdeckung gemacht zu haben. Wie anders stand es in Wahrheit! – sie hatten an ein Problem gerührt, und indem sie wähnten, es gelöst zu haben, hatten sie ein Hemmnis der Lösung geschaffen. – Jetzt muß man bei jeder Erkenntnis über steinharte verewigte Worte stolpern, und wird dabei eher ein Bein brechen als ein Wort.

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»Erkenne dich selbst« ist die ganze Wissenschaft. – Erst am Ende der Erkenntnis aller Dinge wird der Mensch sich selber erkannt haben. Denn die Dinge sind nur die Grenzen des Menschen.

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Das neue Grundgefühl: unsere endgültige Vergänglichkeit. – Ehemals suchte man zum Gefühl der Herrlichkeit des Menschen zu kommen, indem man auf seine göttliche Abkunft hinzeigte: dies ist jetzt ein verbotener Weg geworden, denn an seiner Tür steht der Affe, nebst anderem greulichen Getier, und fletscht verständnisvoll die Zähne, wie um zu sagen: nicht weiter in dieser Richtung! So versucht man es jetzt in der entgegengesetzten Richtung: der Weg, wohin die Menschheit geht, soll zum Beweise ihrer Herrlichkeit und Gottverwandtschaft dienen. Ach, auch damit ist es nichts! Am Ende dieses Weges steht die Graburne des letzten Menschen und Totengräbers (mit der Aufschrift »nihil humani a me alienum puto«). Wie hoch die Menschheit sich entwickelt haben möge – und vielleicht wird sie am Ende gar tiefer als am Anfang stehen! – es gibt für sie keinen Übergang in eine höhere Ordnung, so wenig die Ameise und der Ohrwurm am Ende ihrer »Erdenbahn« zur Gottverwandtschaft und Ewigkeit emporsteigen. Das Werden schleppt das Gewesensein hinter sich her: warum sollte es von diesem ewigen Schauspiele eine Ausnahme für irgendein Sternchen und wiederum für ein Gattungchen auf ihm geben! Fort mit solchen Sentimentalitäten!

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Der Glaube an den Rausch. – Die Menschen der erhabenen und verzückten Augenblicke, denen es für gewöhnlich, um des Gegensatzes willen und wegen der verschwenderischen Abnützung ihrer Nervenkräfte, elend und trostlos zumute ist, betrachten jene Augenblicke als das eigentliche Selbst, als »sich«, das Elend und die Trostlosigkeit als die Wirkung des »Außer-sich«; und deshalb denken sie an ihre Umgebung, ihre Zeit, ihre ganze Welt mit rachsüchtigen Gefühlen. Der Rausch gilt ihnen als das wahre Leben, als das eigentliche Ich: in allem anderen sehen sie die Gegner und Verhinderer des Rausches, sei dieser nun geistiger, sittlicher, religiöser oder künstlerischer Natur. Diesen schwärmerischen Trunkenbolden verdankt die Menschheit viel Übles: denn sie sind die unersättlichen Unkraut-Aussäer der Unzufriedenheit mit sich und den Nächsten, der Zeit- und Weltverachtung und namentlich der Welt-Müdigkeit. Vielleicht könnte eine ganze Hölle von Verbrechern nicht diese drückende, land- und luft-verderbende, unheimliche Nachwirkung in die fernste Ferne hin haben, wie jene kleine edle Gemeinde von Unbändigen, Phantasten, Halbverrückten, von Genies, die sich nicht beherrschen können und allen möglichen Genuss an sich erst dann haben, wenn sie sich völlig verlieren: während der Verbrecher sehr oft noch einen Beweis von ausgezeichneter Selbstbeherrschung, Aufopferung und Klugheit gibt und diese Eigenschaften bei denen, welche ihn fürchten, wach erhält. Durch ihn wird der Himmel über dem Leben vielleicht gefährlich und düster, aber die Luft bleibt kräftig und streng. – Zu alledem pflanzen jene Schwärmer mit allen ihren Kräften den Glauben an den Rausch als an das Leben im Leben: einen furchtbaren Glauben! Wie die Wilden jetzt schnell durch das »Feuerwasser« verdorben werden und zugrunde gehen, so ist die Menschheit im ganzen und großen langsam und gründlich durch die geistigen Feuerwässer trunken machender Gefühle und durch die, welche die Begierde danach lebendig erhielten, verdorben worden: vielleicht geht sie noch daran zugrunde.

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So wie wir noch sind! – »Seien wir nachsichtig gegen die großen Einäugigen!« – hat Stuart Mill gesagt: als ob Nachsicht zu erbitten nötig wäre, wo man gewöhnt ist, ihnen Glauben und beinahe Anbetung zu zollen! Ich sage: seien wir nachsichtig gegen die Zweiäugigen, große und kleine, – denn höher als bis zur Nachsicht werden wir, so wie wir sind, es doch nicht bringen!

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Wo sind die neuen Ärzte der Seele? – Die Mittel des Trostes sind es gewesen, durch welche das Leben erst jenen leidvollen Grundcharakter, an den man jetzt glaubt, bekommen hat; die größte Krankheit der Menschen ist aus der Bekämpfung ihrer Krankheiten entstanden, und die anscheinenden Heilmittel haben auf die Dauer Schlimmeres erzeugt, als das war, was mit ihnen beseitigt werden sollte. Aus Unkenntnis hielt man die augenblicklich wirkenden, betäubenden und berauschenden Mittel, die sogenannten Tröstungen, für die eigentlichen Heilkräfte, ja man merkte es nicht einmal, daß man diese sofortigen Erleichterungen oft mit der allgemeinen und tiefen Verschlechterung des Leidens bezahlte, daß die Kranken an der Nachwirkung des Rausches, später an der Entbehrung des Rausches und noch später an einem drückenden Gesamtgefühl von Unruhe, Nervenzittern und Ungesundheit zu leiden hatten. Wenn man bis zu einem gewissen Grade erkrankt war, genas man nicht mehr, – dafür sorgten die Ärzte der Seele, die allgemein beglaubigten und angebeteten. – Man sagt Schopenhauer nach, und mit Recht, daß er die Leiden der Menschheit endlich einmal wieder ernst genommen habe: wo ist der, welcher endlich auch einmal die Gegenmittel gegen diese Leiden ernst nimmt und die unerhörte Quacksalberei an den Pranger stellt, mit der, unter den herrlichsten Namen, bis jetzt die Menschheit ihre Seelenkrankheiten zu behandeln gewöhnt ist?

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Missbrauch der Gewissenhaften. – Die Gewissenhaften und nicht die Gewissenlosen waren es, die so furchtbar unter dem Druck von Bußpredigten und Höllenängsten zu leiden hatten, zumal wenn sie zugleich Menschen der Phantasie waren. Also ist gerade denen das Leben am meisten verdüstert worden, welche Heiterkeit und anmutige Bilder nötig hatten – nicht nur zu ihrer Erholung und Genesung von sich selber, sondern damit die Menschheit sich ihrer erfreuen könne und von ihrer Schönheit einen Strahl in sich hinübernehme. Oh, wie viel überflüssige Grausamkeit und Tierquälerei ist von jenen Religionen ausgegangen, welche die Sünde erfunden haben! Und von den Menschen, welche durch sie den höchsten Genuss ihrer Macht haben wollten!

54

Die Gedanken über die Krankheit! – Die Phantasie des Kranken beruhigen, daß er wenigstens nicht, wie bisher, mehr von seinen Gedanken über seine Krankheit zu leiden hat als von der Krankheit selber, – ich denke, das ist etwas! Und es ist nicht wenig! Versteht ihr nun unsere Aufgabe?

55

Die »Wege«. – Die angeblichen »kürzeren Wege« haben die Menschheit immer in große Gefahr gebracht; sie verläßt immer bei der frohen Botschaft, daß ein solcher kürzerer Weg gefunden sei, ihren Weg – und verliert den Weg.

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Der Apostat des freien Geistes. – Wer hat denn gegen fromme glaubensstarke Menschen eine Abneigung? Umgekehrt, sehen wir sie nicht mit stiller Hochachtung an und freuen uns ihrer, mit einem gründlichen Bedauern, daß diese trefflichen Menschen nicht mit uns zusammenempfinden? Aber woher stammt jener tiefe plötzliche Widerwille ohne Gründe gegen den, der einmal alle Freiheit des Geistes hatte und am Ende »gläubig« wurde? Denken wir daran, so ist es uns, als hätten wir einen ekelhaften Anblick gehabt, den wir schnell von der Seele wegwischen müßten! Würden wir nicht dem verehrtesten Menschen den Rücken drehen, wenn er in dieser Beziehung uns verdächtig würde? Und zwar nicht aus einer moralischen Verurteilung, sondern aus einem plötzlichen Ekel und Grausen! Woher diese Schärfe der Empfindung! Vielleicht wird uns dieser oder jener zu verstehen geben, daß wir im Grunde unser selber nicht ganz sicher seien? Daß wir beizeiten Dornenhecken der spitzesten Verachtung um uns pflanzten, damit wir im entscheidenden Augenblicke, wo das Alter uns schwach und vergeßlich mache, über unsere eigene Verachtung nicht hinwegkönnten? – Aufrichtig: diese Vermutung greift fehl, und wer sie macht, weiß nichts von dem, was den freien Geist bewegt und bestimmt: wie wenig erscheint ihm das Verändern seiner Meinungen an sich als verächtlich! Wie verehrt er umgekehrt in der Fähigkeit, seine Meinungen zu wechseln, eine seltene und hohe Auszeichnung, namentlich wenn sie bis ins Alter hineinreicht! Und selbst zu den verbotenen Früchten des spernere se sperni und des spernere se ipsum greift sein Ehrgeiz hinauf (und nicht sein Kleinmut): geschweige daß er die Angst des Eitlen und Bequemen davor hätte! Zu alledem gilt ihm die Lehre von der Unschuld aller Meinungen so sicher wie die Lehre von der Unschuld aller Handlungen: wie könnte er vor dem Apostaten der geistigen Freiheit zum Richter und Henker werden! Vielmehr berührt ihn sein Anblick, wie der Anblick eines widerlich Erkrankten den Arzt berührt: der physische Ekel vor dem Schwammigen, Erweichten, Überwuchernden, Eiternden siegt einen Augenblick über die Vernunft und den Willen, zu helfen. So wird unser guter Wille von der Vorstellung der ungeheuren Unredlichkeit überwältigt, welche im Apostaten des freien Geistes gewaltet haben muß: von der Vorstellung einer allgemeinen und bis ins Knochengerüst des Charakters greifenden Entartung. –

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Andere Furcht, andere Sicherheit. – Das Christentum hatte dem Leben eine ganz neue und unbegrenzte Gefährlichkeit beigelegt, und damit ebenfalls ganz neue Sicherheiten, Genüsse, Erholungen und Abschätzungen aller Dinge geschaffen. Diese Gefährlichkeit leugnet unser Jahrhundert, und mit gutem Gewissen: und doch schleppt es die alten Gewohnheiten der christlichen Sicherheit, des christlichen Genießens, Sich-Erholens, Abschätzens noch mit sich fort! Und bis in seine edelsten Künste und Philosophien hinein! Wie matt und verbraucht, wie halb und linkisch, wie willkürlich-fanatisch und vor allem: wie unsicher muß das alles sich ausnehmen, jetzt, da jener furchtbare Gegensatz dazu, die allgegenwärtige Furcht des Christen für sein ewiges Heil, verlorengegangen ist!

 

58

Das Christentum und die Affekte. – Aus dem Christentum ist auch ein großer volkstümlicher Protest gegen die Philosophie herauszuhören: die Vernunft der alten Weisen hatte den Menschen die Affekte widerraten, das Christentum will dieselben ihnen wiedergeben. Zu diesem Zwecke spricht es der Tugend, so wie sie von den Philosophen gefaßt war, – als Sieg der Vernunft über den Affekt – allen moralischen Wert ab, verurteilt überhaupt die Vernünftigkeit und fordert die Affekte heraus, sich in ihrer äußersten Stärke und Pracht zu offenbaren: als Liebe zu Gott, Furcht vor Gott, als fanatischen Glauben an Gott, als blindestes Hoffen auf Gott.

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Irrtum als Labsal. – Man mag sagen, was man will: das Christentum hat die Menschen von der Last der moralischen Anforderungen befreien wollen, dadurch, daß es einen kürzeren Weg zur Vollkommenheit zu zeigen meinte: ganz so, wie einige Philosophen sich der mühseligen und langwierigen Dialektik und der Sammlung streng geprüfter Tatsachen entschlagen zu können wähnten und auf einen »königlichen Weg zur Wahrheit« verwiesen. Es war beide Male ein Irrtum, – aber doch ein großes Labsal für Übermüde und Verzweifelnde in der Wüste.

60

Aller Geist wird endlich leiblich sichtbar. – Das Christentum hat den gesamten Geist zahlloser Unterwerfungslustiger, aller jener feinen und groben Enthusiasten der Demütigung und Anbetung in sich geschlungen, es ist damit aus einer ländlichen Plumpheit – an welche man zum Beispiel bei dem ältesten Bilde des Apostels Petrus stark erinnert wird – eine sehr geistreiche Religion geworden, mit Tausenden von Falten, Hintergedanken und Ausflüchten im Gesichte; es hat die Menschheit Europas gewitzigt und nicht nur theologisch verschlagen gemacht. In diesem Geiste und im Bunde mit der Macht und sehr oft mit der tiefsten Überzeugung und Ehrlichkeit der Hingebung hat es vielleicht die feinsten Gestalten der menschlichen Gesellschaft ausgemeißelt, die es bisher gegeben hat: die Gestalten der höheren und höchsten katholischen Geistlichkeit, namentlich wenn diese einem vornehmen Geschlecht entsprossen waren und von vornherein angeborene Anmut der Gebärden, herrschende Augen und schöne Hände und Füße hinzubrachten. Hier erreicht das menschliche Antlitz jene Durchgeistigung, die durch die beständige Ebbe und Flut der zwei Arten des Glückes (des Gefühls der Macht und des Gefühls der Ergebung) hervorgebracht wird, nachdem eine ausgedachte Lebensweise das Tier im Menschen gebändigt hat; hier hält eine Tätigkeit, die im Segnen, Sündenvergeben und Repräsentieren der Gottheit besteht, fortwährend das Gefühl einer übermenschlichen Mission in der Seele, ja auch im Leibe wach; hier herrscht jene vornehme Verachtung gegen die Gebrechlichkeit von Körper und Wohlfahrt des Glückes, wie sie geborenen Soldaten zu eigen ist; man hat im Gehorchen seinen Stolz, was das Auszeichnende aller Aristokraten ausmacht; man hat in der ungeheuren Unmöglichkeit seiner Aufgabe seine Entschuldigung und seine Idealität. Die mächtige Schönheit und Feinheit der Kirchenfürsten hat immerdar für das Volk die Wahrheit der Kirche bewiesen; eine zeitweilige Brutalisierung der Geistlichkeit (wie zu Zeiten Luthers) führte immer den Glauben an das Gegenteil mit sich. – Und dies Ergebnis menschlicher Schönheit und Feinheit in der Harmonie von Gestalt, Geist und Aufgabe wäre, mit dem Ende der Religionen, auch zu Grabe getragen? Und Höheres ließe sich nicht erreichen, nicht einmal ersinnen?

61

Das Opfer, das not tut. – Diese ernsten, tüchtigen, rechtlichen, tief empfindenden Menschen, welche jetzt noch von Herzen Christen sind: sie sind es sich schuldig, einmal auf längere Zeit versuchsweise ohne Christentum zu leben, sie sind es ihrem Glauben schuldig, einmal auf diese Art einen Aufenthalt »in der Wüste« zu nehmen, – nur damit sie sich das Recht erwerben, in der Frage, ob das Christentum nötig sei, mitzureden. Einstweilen kleben sie an ihrer Scholle und lästern von da aus die Welt jenseits der Scholle: ja, sie sind böse und erbittert, wenn jemand zu verstehen gibt, daß jenseits der Scholle eben noch die ganze, ganze Welt liegt! daß das Christentum, alles in allem, eben nur ein Winkel ist! Nein, euer Zeugnis wiegt nicht eher etwas, als bis ihr jahrelang ohne Christentum gelebt habt, mit einer ehrlichen Inbrunst danach, es im Gegenteile des Christentums auszuhalten: bis ihr weit, weit von ihm fortgewandert seid. Nicht wenn das Heimweh euch zurücktreibt, sondern das Urteil auf Grund einer strengen Vergleichung, so hat euer Heimkehren etwas zu bedeuten! – Die zukünftigen Menschen werden es einmal so mit allen Wertschätzungen der Vergangenheit machen; man muß sie freiwillig noch einmal durchleben, und ebenso ihr Gegenteil, – um schließlich das Recht zu haben, sie durch das Sieb fallen zu lassen.

62

Vom Ursprung der Religionen. – Wie kann einer seine eigene Meinung über die Dinge als eine Offenbarung empfinden? Dies ist das Problem von der Entstehung der Religionen: jedesmal hat es einen Menschen dabei gegeben, in welchem jener Vorgang möglich war. Die Voraussetzung ist, daß er vorher schon an Offenbarungen glaubte. Nun gewinnt er eines Tages plötzlich seinen neuen Gedanken, und das Beseligende einer eigenen großen, Welt und Dasein umspannenden Hypothese tritt so gewaltig in sein Bewusstsein, daß er sich nicht als Schöpfer einer solchen Seligkeit zu fühlen wagt und die Ursache davon und wieder die Ursache der Ursache jenes neuen Gedankens seinem Gotte zuschreibt: als dessen Offenbarung. Wie sollte ein Mensch der Urheber eines so großen Glückes sein können! – lautet sein pessimistischer Zweifel. Dazu wirken nun im Verborgenen andere Hebel: zum Beispiele man bekräftigt eine Meinung vor sich dadurch, daß man sie als Offenbarung empfindet, man streicht damit das Hypothetische weg, man entzieht sie der Kritik, ja dem Zweifel, man macht sie heilig. So erniedrigt man sich zwar selber zum Organon, aber unser Gedanke siegt zuletzt als Gottesgedanke, – dieses Gefühl, damit am Ende Sieger zu bleiben, erringt die Oberhand über jenes Gefühl der Erniedrigung. Auch ein anderes Gefühl spielt im Hintergrunde: wenn man sein Erzeugnis über sich selber erhebt und scheinbar vom eigenen Werte absieht, so gibt es doch dabei ein Frohlocken von Vaterliebe und Vaterstolz, das alles ausgleicht und mehr als ausgleicht.

63

Nächsten-Hass. – Gesetzt, wir empfänden den anderen so, wie er sich selber empfindet – das, was Schopenhauer Mitleid nennt und was richtiger Ein-Leid, Einleidigkeit hieße –, so würden wir ihn hassen müssen, wenn er sich selber, gleich Pascal, hassenswert findet. Und so empfand wohl auch Pascal im ganzen gegen die Menschen, und ebenso das alte Christentum, das man, unter Nero, des odium generis humani »überführte«, wie Tacitus meldet.

64

Die Verzweifelnden. – Das Christentum hat den Instinkt des Jägers für alle die, welche irgendwodurch überhaupt zur Verzweiflung zu bringen sind, – nur eine Auswahl der Menschheit ist deren fähig. Hinter ihnen ist es immer her, ihnen lauert es auf. Pascal machte den Versuch, ob nicht mit Hilfe der schneidendsten Erkenntnis jedermann zur Verzweiflung gebracht werden könnte; – der Versuch mißlang, zu seiner zweiten Verzweiflung.

65

Brahmanen- und Christentum. – Es gibt Rezepte zum Gefühle der Macht, einmal für solche, welche sich selber beherrschen können und welche bereits dadurch in einem Gefühle der Macht zu Hause sind; sodann für solche, welchen gerade dies fehlt. Für Menschen der ersten Gattung hat das Brahmanentum Sorge getragen, für Menschen der zweiten Gattung das Christentum.

66

Fähigkeit der Vision. – Durch das ganze Mittelalter hindurch galt als das eigentliche und entscheidende Merkmal des höchsten Menschentums: daß man der Vision – das heißt einer tiefen geistigen Störung! – fähig sei. Und im Grunde gehen die mittelalterlichen Lebensvorschriften aller höheren Naturen (der religiosi) darauf hinaus, den Menschen der Vision fähig zu machen! Was Wunder, wenn noch in unsere Zeit hinein eine Überschätzung halbgestörter, phantastischer, fanatischer, sogenannter genialer Personen überströmte; »sie haben Dinge gesehen, die andere nicht sehen«, – gewiß! und dies sollte uns vorsichtig gegen sie stimmen, aber nicht gläubig!

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