Menschliches, Allzumenschliches

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Das menschliche »Ding an sich«

. – Das verwundbarste Ding und doch das unbesiegbarste ist die menschliche Eitelkeit: ja, durch die Verwundung wächst seine Kraft und kann zuletzt riesengroß werden.





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Die Posse vieler Arbeitsamen

. – Sie erkämpfen durch ein Übermaß von Anstrengung sich freie Zeit und wissen nachher Nichts mit ihr anzufangen als die Stunden abzuzählen, bis sie abgelaufen sind.





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Viel Freude haben.

 – Wer viel Freude hat, muß ein guter Mensch sein: aber vielleicht ist er nicht der klügste, obwohl er gerade Das erreicht, was der Klügste mit aller seiner Klugheit erstrebt.





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Im Spiegel der Natur

. – Ist ein Mensch nicht ziemlich genau beschrieben, wenn man hört, daß er gern zwischen gelben hohen Kornfeldern geht, daß er die Waldes- und Blumenfarben des abglühenden und vergilbten Herbstes allen andern vorzieht, weil sie auf Schöneres hindeuten als der Natur je gelingt, daß er unter großen fettblättrigen Nutzbäumen sich ganz heimisch wie unter Bluts-Verwandten fühlt, daß im Gebirge seine größte Freude ist, jenen kleinen abgelegenen Seen zu begegnen, aus denen ihn die Einsamkeit selber mit ihren Augen anzusehen scheint, daß er jene graue Ruhe der Nebel-Dämmerung liebt, welche an Herbst- und Frühwinter-Abenden an die Fenster heranschleicht und jedes seelenlose Geräusch wie mit Samt-Vorhängen ausschließt, daß er unbehauenes Gestein als übrig gebliebene, der Sprache begierige Zeugen der Vorzeit empfindet und von Kind an verehrt, und zuletzt, daß ihm das Meer mit seiner beweglichen Schlangenhaut und Raubtier-Schönheit fremd ist und bleibt? – Ja, Etwas von diesem Menschen ist allerdings damit beschrieben: aber der Spiegel der Natur sagt Nichts darüber, daß derselbe Mensch, bei aller seiner idyllischen Empfindsamkeit (und nicht einmal »trotz ihrer«), ziemlich lieblos, knauserig und eingebildet sein könnte. Horaz, der sich auf dergleichen Dinge verstand, hat das zarteste Gefühl für das Landleben einem römischen Wucherer in Mund und Seele gelegt, in dem berühmten » beatus ille qui procul negotiis«.





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Macht ohne Siege

. – Die stärkste Erkenntnis (die von der völligen Unfreiheit des menschlichen Willens) ist doch die ärmste an Erfolgen: denn sie hat immer den stärksten Gegner, die menschliche Eitelkeit.





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Lust und Irrtum

. – Der Eine teilt sich unwillkürlich durch sein Wesen an seine Freunde wohltätig mit, der Andere willkürlich durch einzelne Handlungen. Obgleich das Erstere als das Höhere gilt, so ist doch nur das Zweite mit dem guten Gewissen und der Lust verknüpft – nämlich mit der Lust der Werkheiligkeit, welche auf dem Glauben an die Willkür unsres Gut- und Schlimmtuns, das heißt auf einem Irrtum ruht.





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Es ist töricht, Unrecht zu tun

. – Eignes Unrecht, das man zugefügt hat, ist viel schwerer zu tragen als fremdes, das Einem zugefügt wurde (nicht gerade aus moralischen Gründen, wohlgemerkt –); der Täter ist eigentlich immer der Leidende, wenn er nämlich entweder den Gewissensbissen zugänglich ist oder der Einsicht, daß er die Gesellschaft gegen sich durch seine Handlung bewaffnet und sich isoliert habe. Deshalb sollte man sich, schon seines inneren Glückes wegen, also um seines Wohlbehagens nicht verlustig zu gehen, ganz abgesehen von Allem, was Religion und Moral gebieten, vor dem Unrecht-Thun in Acht nehmen, mehr noch als vor dem Unrecht-Erfahren: denn Letzteres hat den Trost des guten Gewissens, der Hoffnung auf Rache, auf Mitleiden und Beifall der Gerechten, ja der ganzen Gesellschaft, welche sich vor dem Übeltäter fürchtet. – Nicht Wenige verstehen sich auf die unsaubere Selbstüberlistung, jedes eigne Unrecht in ein fremdes, ihnen zugefügtes umzumünzen und für Das, was sie selber getan haben, sich das Ausnahmerecht der Notwehr zur Entschuldigung vorzubehalten: um auf diese Weise viel leichter an ihrer Last zu tragen.





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Neid mit oder ohne Mundstück

. – Der gewöhnliche Neid pflegt zu gackern, sobald das beneidete Huhn ein Ei gelegt hat: er erleichtert sich dabei und wird milder. Es gibt aber einen noch tieferen Neid: der wird in solchem Falle totenstill, und wünschend, daß jetzt jeder Mund versiegelt würde, immer wütender darüber, daß dies gerade nicht geschieht. Der schweigende Neid wächst im Schweigen.





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Der Zorn als Spion.

 – Der Zorn schöpft die Seele aus und bringt selbst den Bodensatz an's Licht. Man muß deshalb, wenn man sonst sich nicht Klarheit zu schaffen weiß, seine Umgebung, seine Anhänger und Gegner in Zorn zu versetzen wissen, um zu erfahren, was im Grunde Alles wider uns geschieht und gedacht wird





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Die Verteidigung moralisch schwieriger als der Angriff.

 – Das wahre Helden- und Meisterstück des guten Menschen liegt nicht darin, daß er die Sache angreift und die Person fortfährt zu lieben, sondern in dem viel schwereren, seine eigne Sache zu verteidigen, ohne daß man der angreifenden Person bitteres Herzeleid mache und machen wolle. Das Schwert des Angriffs ist ehrlich und breit, das der Verteidigung läuft gewöhnlich in eine Nadel aus.





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Ehrlich gegen die Ehrlichkeit

. – Einer, der gegen sich öffentlich ehrlich ist, bildet sich zu allerletzt Etwas auf diese Ehrlichkeit ein: denn er weiß nur zu gut, warum er ehrlich ist – aus demselben Grunde, aus dem ein Anderer den Schein und die Verstellung vorzieht.





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Glühende Kohlen

. – Glühende Kohlen auf des Andern Haupt sammeln wird gewöhnlich mißverstanden und schlägt fehl, weil der Andere sich ebenfalls im guten Besitze des Rechts weiß und auch seinerseits an das Kohlensammeln gedacht hat.





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Gefährliche Bücher

. – Da sagt Einer »ich merke es an mir selber: dies Buch ist schädlich.« Aber er warte nur ab und vielleicht gesteht er sich eines Tages, daß diesselbe Buch ihm einen großen Dienst erwies, indem es die versteckte Krankheit seines Herzens hervortrieb und in die Sichtbarkeit brachte. – Veränderte Meinungen verändern den Charakter eines Menschen nicht (oder ganz wenig); wohl aber beleuchten sie einzelne Seiten des Gestirns seiner Persönlichkeit, welche bisher, bei einer andern Konstellation von Meinungen, dunkel und unerkennbar geblieben waren.





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Geheucheltes Mitleiden

. – Man heuchelt Mitleiden, wenn man über das Gefühl der Feindseligkeit sich erhaben zeigen will: aber gewöhnlich umsonst. Dies bemerkt man nicht ohne ein starkes Zunehmen jener feindseligen Empfindung.





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Offner Widerspruch oft versöhnend

. – Im Augenblick, wo Einer seine Differenz der Lehrmeinung in Hinsicht auf einen berühmten Parteiführer oder Lehrer öffentlich zu erkennen gibt, glaubt alle Welt, er müsse ihm gram sein. Mitunter hört er aber gerade da auf, ihm gram zu sein: er wagt es, sich selber neben ihn aufzustellen, und ist die Qual der unausgesprochenen Eifersucht los.





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Sein Licht leuchten sehen

. – Im verfinsterten Zustande von Trübsal, Krankheit, Verschuldung sehen wir es gern, wenn wir Anderen noch leuchten und sie an uns die helle Mondesscheibe wahrnehmen. Auf diesem Umwege nehmen wir an unserer eigenen Fähigkeit zu erhellen Anteil.





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Mitfreude

. – Die Schlange, die uns sticht, meint uns wehe zu tun und freut sich dabei; das niedrigste Tier kann sich fremden Schmerz vorstellen. Aber fremde Freude sich vorstellen und sich dabei freuen ist das höchste Vorrecht der höchsten Tiere und wieder unter ihnen nur den ausgesuchtesten Exemplaren zugänglich – also ein seltenes humanum: so daß es Philosophen gegeben hat, welche die Mitfreude geleugnet haben.





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Nachträgliche Schwangerschaft

. – Die, welche zu ihren Werken und Taten gekommen sind, sie wissen nicht wie, gehen gewöhnlich hinterher um so mehr mit ihnen schwanger: wie, um nachträglich zu beweisen, daß es ihre Kinder und nicht die des Zufalls sind.





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Aus Eitelkeit hartherzig.

 – Wie Gerechtigkeit so häufig der Deckmantel der Schwäche ist, so greifen billig denkende, aber schwache Menschen mitunter aus Ehrgeiz zur Verstellung und benehmen sich ersichtlich ungerecht und hart, um den Eindruck der Stärke zu hinterlassen.





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Demütigung.

 – Findet Jemand in einem geschenkten Sack Vorteil auch nur ein Korn Demütigung, so macht er doch noch eine böse Miene zum guten Spiele.





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Äußerstes Herostratentum.

 – Es könnte Herostrate geben, welche den eignen Tempel anzündeten, in dem ihre Bilder verehrt werden.





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Die Deminutiv-Welt.

 – Der Umstand, daß alles Schwache und Hilfsbedürftige zu Herzen spricht, bringt die Gewohnheit mit sich, daß wir Alles, was uns zu Herzen spricht, mit Verkleinerungs- und Abschwächungsworten bezeichnen – also, für unsere Empfindung, schwach und hilfsbedürftig machen.





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Üble Eigenschaft des Mitleidens.

– Das Mitleiden hat eine eigene Unverschämtheit als Gefährtin: denn weil es durchaus helfen möchte, ist es weder über die Mittel der Heilung, noch über Art und Ursache der Krankheit in Verlegenheit und quacksalbert mutig auf die Gesundheit und den Ruf seines Patienten los.





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Zudringlichkeit.

– Es gibt auch eine Zudringlichkeit gegen Werke; und sich als Jüngling schon nachahmend zu den erlauchtesten Werken aller Zeiten mit der Vertraulichkeit des Du und Du zu gesellen, beweist einen völligen Mangel an Scham. – Andre sind nur aus Ignoranz zudringlich: sie wissen nicht, mit wem sie es zu tun haben – so nicht selten junge und alte Philologen im Verhältnis zu den Werken der Griechen.

 





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Der Wille schämt sich des Intellektes.

 – Mit aller Kälte machen wir vernünftige Entwürfe gegen unsre Affekte: dann aber begehen wir die gröbsten Fehler dagegen, weil wir uns häufig im Augenblick, wo der Vorsatz ausgeführt werden sollte, jener Kälte und Besonnenheit schämen, mit der wir ihn faßten. Und so tut man dann gerade das Unvernünftige, aus jener Art trotziger Großherzigkeit, welche jeder Affekt mit sich bringt.





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Warum die Skeptiker der Moral mißfallen.

 – Wer seine Moralität hoch und schwer nimmt, zürnt den Skeptikern auf dem Gebiete der Moral: denn dort, wo er alle seine Kraft aufwendet, soll man staunen, aber nicht untersuchen und zweifeln. – Dann gibt es Naturen, deren letzter Rest von Moralität eben der Glaube an Moral ist: sie benehmen sich ebenso gegen die Skeptiker, womöglich noch leidenschaftlicher.





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Schüchternheit.

– Alle Moralisten sind schüchtern, weil sie wissen, daß sie mit Spionierern und Verrätern verwechselt werden, sobald man ihren Hang ihnen anmerkt. Sodann sind sie sich überhaupt bewußt, im Handeln unkräftig zu sein: denn mitten im Werke ziehen die Motive ihres Thuns ihre Aufmerksamkeit fast vom Werke ab.





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Eine Gefahr für die allgemeine Moralität.

 – Menschen, die zugleich edel und ehrlich sind, bringen es zu Wege, jede Teufelei, welche ihre Ehrlichkeit ausheckt, zu vergöttlichen und die Wage des moralischen Urteils eine Zeitlang stillzustellen.





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Bitterster Irrtum.

 – Es beleidigt unversöhnlich, zu entdecken, daß man dort, wo man überzeugt war geliebt zu sein, nur als Hausgerät und Zimmerschmuck betrachtet wurde, an dem der Hausherr vor Gästen seine Eitelkeit auslassen kann.





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Liebe und Zweiheit.

– Was ist denn Liebe anders als verstehen und sich darüber freuen, daß ein Andrer in andrer und entgegengesetzter Weise als wir lebt, wirkt und empfindet? Damit die Liebe die Gegensätze durch Freude überbrücke, darf sie dieselben nicht aufheben, nicht leugnen. – Sogar die Selbstliebe enthält die unvermischbare Zweiheit (oder Vielheit) in Einer Person als Voraussetzung.





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Aus dem Traume deuten.

– Was man mitunter im Wachen nicht genau weiß und fühlt – ob man gegen eine Person ein gutes oder ein schlechtes Gewissen habe – darüber belehrt völlig unzweideutig der Traum.





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Ausschweifung.

 – Die Mutter der Ausschweifung ist nicht die Freude, sondern die Freudlosigkeit.





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Strafen und belohnen.

 – Niemand klagt an, ohne den Hintergedanken an Strafe und Rache zu haben – selbst wenn man sein Schicksal, ja sich selber anklagt. – Alles Klagen ist Anklagen, alles Sich-freuen ist Loben: wir mögen das Eine oder das Andere tun, immer machen wir Jemanden verantwortlich.





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Zweimal ungerecht.

 – Wir fördern mitunter die Wahrheit durch eine doppelte Ungerechtigkeit, dann nämlich, wenn wir die beiden Seiten einer Sache, die wir nicht im Stande sind zusammen zu sehen, hintereinander sehen und darstellen, doch so, daß wir jedesmal die andre Seite verkennen oder leugnen, im Wahne, Das, was wir sehen, sei die ganze Wahrheit.





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Mißtrauen.

– Das Mißtrauen an sich selber geht nicht immer unsicher und scheu daher, sondern mitunter wie tollwütig: es hat sich berauscht, um nicht zu zittern.





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Philosophie des parvenu.

 – Will man einmal eine Person sein, so muß man auch seinen Schatten in Ehren halten.





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Sich rein zu waschen verstehen.

 – Man muß lernen, aus unreinlichen Verhältnissen reinlicher hervorzugehen, und sich, wenn es not tut, auch mit schmutzigem Wasser waschen.





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Sich gehen lassen.

– Je mehr sich Einer gehen läßt, um so weniger lassen ihn die Andern gehen.





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Der unschuldige Schuft.

 – Es gibt einen langsamen schrittweisen Weg zu Laster und Schurkenhaftigkeit jeder Art. Am Ende desselben haben Den, welcher ihn geht, die Insekten-Schwärme des schlechten Gewissens völlig verlassen, und er wandelt, obschon ganz verrucht, doch in Unschuld.





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Pläne machen.

– Pläne machen und Vorsätze fassen bringt viel gute Empfindungen mit sich; und wer die Kraft hätte, sein ganzes Leben lang Nichts als ein Pläne-Schmiedender zu sein, wäre ein sehr glücklicher Mensch: aber er wird sich gelegentlich von dieser Tätigkeit ausruhen müssen, dadurch, daß er einen Plan ausführt – und da kommt der Ärger und die Ernüchterung.





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Womit wir das Ideal sehen.

 – Jeder tüchtige Mensch ist verrannt in seine Tüchtigkeit und kann aus ihr nicht frei hinausblicken. Hätte er sonst nicht sein gut Teil von Unvollkommenheit, er könnte seiner Tugend halber zu keiner geistig-sittlichen Freiheit kommen. Unsre Mängel sind die Augen, mit denen wir das Ideal sehen.





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Unehrliches Lob.

– Unehrliches Lob macht hinterdrein viel mehr Gewissensbisse als unehrlicher Tadel, wahrscheinlich nur deshalb, weil wir durch zu starkes Loben unsere Urteilsfähigkeit viel stärker bloßgestellt haben als durch zu starkes, selbst ungerechtes Tadeln.





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Wie man stirbt, ist gleichgültig.

– Die ganze Art, wie ein Mensch während seines vollen Lebens, seiner blühenden Kraft an den Tod denkt, ist freilich sehr sprechend und zeugnisgebend für Das, was man seinen Charakter nennt; aber die Stunde des Sterbens selber, seine Haltung auf dem Totenbett ist fast gleichgültig dafür. Die Erschöpfung des ablaufenden Daseins, namentlich wenn alte Leute sterben, die unregelmäßige oder unzureichende Ernährung des Gehirns während dieser letzten Zeit, das gelegentlich sehr Gewaltsame des Schmerzes, das Unerprobte und Neue des ganzen Zustandes und gar zu häufig der An- und Rückfall von abergläubischen Eindrücken und Beängstigungen, als ob am Sterben viel gelegen sei und hier Brücken schauerlichster Art überschritten würden, – dies Alles erlaubt es nicht, das Sterben als Zeugnis über den Lebenden zu benutzen. Auch ist es nicht wahr, daß der Sterbende im Allgemeinen ehrlicher wäre als der Lebende: vielmehr wird fast Jeder durch die feierliche Haltung der Umgebenden, die zurückgehaltnen oder fließenden Tränen- und Gefühlsbäche zu einer bald bewußten bald unbewußten Komödie der Eitelkeit verführt. Der Ernst, mit dem jeder Sterbende behandelt wird, ist gewiß gar manchem armen verachteten Teufel der feinste Genuss seines ganzen Lebens und eine Art Schadenersatz und Abschlagzahlung für viele Entbehrungen gewesen.





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Die Sitte und ihr Opfer.

 – Der Ursprung der Sitte geht auf zwei Gedanken zurück: »die Gemeinde ist mehr wert als der Einzelne« und »der dauernde Vorteil ist dem flüchtigen vorzuziehen«; woraus sich der Schluß ergibt, daß der dauernde Vorteil der Gemeinde unbedingt dem Vorteile des Einzelnen, namentlich seinem momentanen Wohlbefinden, aber auch seinem dauernden Vorteile und selbst seinem Weiterleben voranzustellen sei. Ob nun der Einzelne von einer Einrichtung leide, die dem Ganzen frommt, ob er an ihr verkümmre, ihretwegen zu Grunde gehe – die Sitte muß erhalten, das Opfer gebracht werden. Eine solche Gesinnung entsteht aber nur in Denen, welche nicht das Opfer sind – denn dieses macht in seinem Falle geltend, daß der Einzelne mehr wert sein könne als Viele, ebenso daß der gegenwärtige Genuss, der Augenblick im Paradiese vielleicht höher anzuschlagen sei als eine matte Fortdauer von leidlosen oder wohlhäbigen Zuständen. Die Philosophie des Opfertiers wird aber immer zu spät laut: und so bleibt es bei der Sitte und der Sittlichkeit: als welche eben nur die Empfindung für den ganzen Inbegriff von Sitten ist, unter denen man lebt und erzogen wurde – und zwar erzogen nicht als Einzelner, sondern als Glied eines Ganzen, als Ziffer einer Majorität. – So kommt es fortwährend vor, daß der Einzelne sich selbst, vermittelst seiner Sittlichkeit, majorisiert.





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Das Gute und das gute Gewissen

. – Ihr meint, alle guten Dinge hätten zu allen Zeiten ein gutes Gewissen gehabt? – Die Wissenschaft, also gewißlich etwas sehr Gutes, ist ohne ein solches und ganz bar alles Pathos in die Welt getreten, vielmehr heimlich, auf Umwegen, mit verhülltem oder maskiertem Haupte einherziehend, gleich einer Verbrecherin, und immer mindestens mit dem Gefühle einer Schleichhändlerin. Das gute Gewissen hat als Vorstufe das böse Gewissen – nicht als Gegensatz: denn alles Gute ist einmal neu, folglich ungewohnt, wider die Sitte, unsittlich gewesen und nagte im Herzen des glücklichen Erfinders wie ein Wurm.





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Der Erfolg heiligt die Absichten.

 – Man scheue sich nicht, den Weg zu einer Tugend zu gehen, selbst wenn man deutlich einsieht, daß Nichts als Egoismus – also Nutzen, persönliches Behagen, Furcht, Rücksicht auf Gesundheit, auf Ruf oder Ruhm – die dazu treibenden Motive sind. Man nennt diese Motive unedel und selbstisch: gut, aber wenn sie uns zu einer Tugend, zum Beispiel Entsagung, Pflichttreue, Ordnung, Sparsamkeit, Maaß und Mitte anreizen, so höre man ja auf sie, wie auch ihre Beiworte lauten mögen! Erreicht man nämlich Das, wozu sie rufen, so veredelt die erreichte Tugend, vermöge der reinen Luft, die sie atmen läßt, und des seelischen Wohlgefühls, das sie mitteilt, immerfort die ferneren Motive unseres Handelns, und wir tun dieselben Handlungen später nicht mehr aus den gleichen gröberen Motiven, welche uns früher dazu führten. – Die Erziehung soll deshalb die Tugenden, so gut es geht, erzwingen, je nach der Natur des Zöglings: die Tugend selber, als die Sonnen- und Sommerluft der Seele, mag dann ihr eignes Werk daran tun und Reife und Süßigkeit hinzuschenken.





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Christentümler, nicht Christen

. – Das wäre also euer Christentum! – Um Menschen zu ärgern, preist ihr »Gott und seine Heiligen«; und wiederum, wenn ihr Menschen preisen wollt, so treibt ihr es so weit, daß Gott und seine Heiligen sich ärgern müssen. – Ich wollte, ihr lerntet wenigstens die christlichen Manieren, da es euch so an der Manierlichkeit des christlichen Herzens gebricht.





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Natureindruck der Frommen und Unfrommen.

 – Ein ganz frommer Mensch muß uns ein Gegenstand der Verehrung sein: aber ebenso ein ganzer aufrichtiger durchdrungener Unfrommer. Ist man bei Menschen der letzteren Art wie in der Nähe des Hochgebirges, wo die kräftigsten Ströme ihren Ursprung haben, so bei den Frommen wie unter saftvollen, breitschattigen, ruhigen Bäumen.





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Justizmorde.

 – Die zwei größten Justizmorde in der Weltgeschichte sind, ohne Umschweife gesprochen, verschleierte und gut verschleierte Selbstmorde. In beiden Fällen wollte man sterben; in beiden Fällen ließ man sich das Schwert durch die Hand der menschlichen Ungerechtigkeit in die Brust stoßen.





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»Liebe«.

 – Der feinste Kunstgriff, welchen das Christentum vor den übrigen Religionen voraus hat, ist ein Wort: es redete von Liebe. So wurde es die lyrische Religion (während in seinen beiden anderen Schöpfungen das Semitentum der Welt heroisch-epische Religionen geschenkt hat). Es ist in dem Worte Liebe etwas so Vieldeutiges, Anregendes, zur Erinnerung, zur Hoffnung Sprechendes, daß auch die niedrigste Intelligenz und das kälteste Herz noch etwas von dem Schimmer dieses Wortes fühlt. Das klügste Weib und der gemeinste Mann denken dabei an die verhältnismäßig uneigennützigsten Augenblicke ihres gesamten Lebens, selbst wenn Eros nur einen niedrigen Flug bei ihnen genommen hat; und jene Zahllosen, welche Liebe vermissen, von Eltern oder Kindern oder Geliebten, namentlich aber die Menschen der sublimierten Geschlechtlichkeit, haben im Christentum ihren Fund gemacht.





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Das erfüllte Christentum

. – Es gibt auch innerhalb des Christentums eine epikureische Gesinnung, ausgehend von dem Gedanken, daß Gott von dem Menschen, seinem Geschöpf und Ebenbild, nur verlangen könne, was diesem zu erfüllen möglich sein müsse, daß also christliche Tugend und Vollkommenheit erreichbar und oft erreicht sei. Nun macht zum Beispiel der Glaube, seine Feinde zu lieben – selbst wenn es eben nur Glaube, Einbildung und durchaus keine psychologische Wirklichkeit (also keine Liebe) ist –, unbedingt glücklich, so lange er wirklich geglaubt wird (warum? darüber werden freilich Psycholog und Christ verschieden denken). Und so möchte das irdische Leben durch den Glauben, ich meine die Einbildung, nicht nur jenem Anspruch, seine Feinde zu lieben, sondern allen übrigen christlichen Ansprüchen zu genügen und die göttliche Vollkommenheit nach der Aufforderung »seid vollkommen, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist« wirklich sich angeeignet und einverleibt zu haben, in der That zu einem seligen Leben werden. Der Irrtum kann also die Verheißung Christi zur Wahrheit machen.

 





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Von der Zukunft des Christentums.

 – Über das Verschwinden des Christentums und darüber, in welchen Gegenden es am langsamsten weichen wird, kann man sich eine Vermutung gestatten, wenn man erwägt, aus welchen Gründen und wo der Protestantismus so ungestüm um sich griff. Er verhieß bekanntlich alles das Selbe weit billiger zu leisten, was die alte Kirche leistete, also ohne kostspielige Seelenmessen, Wallfahrten, Priester-Prunk und -Üppigkeit; er verbreitete sich namentlich bei den nördlichen Nationen, welche nicht so tief in der Symbolik und Formenlust der alten Kirche eingewurzelt waren als die des Südens: bei diesen lebte ja im Christenthum das viel mächtigere religiöse Heidentum fort, während im Norden das Christenthum einen Gegensatz und Bruch mit dem Altheimischen bedeutete und deshalb mehr gedankenhaft als sinnfällig von Anfang an war, eben deshalb aber auch, zu Zeiten der Gefahr, fanatischer und trotziger. Gelingt es, vom Gedanken aus das Christenthum zu entwurzeln, so liegt auf der Hand, wo es anfangen wird, zu verschwinden: also gerade dort, wo es auch am allerhärtesten sich wehren wird. Anderwärts wird es sich beugen, aber nicht brechen, entblättert werden, aber wieder Blätter ansetzen – weil dort die Sinne und nicht die Gedanken für dasselbe Partei genommen haben. Die Sinne aber sind es, welche auch den Glauben unterhalten, daß mit allem Kostenaufwand der Kirche doch immer noch billiger und bequemer gewirtschaftet werde als mit den strengen Verhältnissen von Arbeit und Lohn: denn welches Preises hält man die Muße (oder die halbe Faulheit) für wert, wenn man sich erst an sie gewöhnt hat! Die Sinne wenden gegen eine entchristlichte Welt ein, daß in ihr zu viel gearbeitet werden müsse, und der Ertrag an Muße zu klein sei: sie nehmen die Partei der Magie, das heißt – sie lassen lieber Gott für sich arbeiten ( oremus nos, deus laboret!).





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Schauspielerei und Ehrlichkeit der Ungläubigen

. – Es gibt kein Buch, welches Das, was jedem Menschen gelegentlich wohltut, – schwärmerische, opfer- und todbereite Glücks-Innigkeit im Glauben und Schauen seiner »Wahrheit« – so reichlich enthielte, so treuherzig ausdrückte als das Buch, welches von Christus redet: aus ihm kann ein Kluger alle Mittel lernen, wodurch ein Buch zum Weltbuch, zum Jedermanns-Freund gemacht werden kann, namentlich jenes Meister-Mittel, Alles als gefunden, Nichts als kommend und ungewiß hinzustellen. Alle wirkungsvollen Bücher versuchen, einen ähnlichen Eindruck zu hinterlassen, als ob der weiteste geistige und seelische Horizont hier umschrieben sei und um die hier leuchtende Sonne sich jedes gegenwärtige und zukünftig sichtbare Gestirn drehen müsse. – Muß also nicht aus demselben Grunde, aus dem solche Bücher wirkungsvoll sind, jedes rein wissenschaftliche Buch wirkungsarm sein? Ist es nicht verurteilt, niedrig und unter Niedrigen zu leben, um endlich gekreuzigt zu werden und nie wieder aufzuerstehen? Sind im Verhältnis zu Dem, was die Religiösen von ihrem »Wissen«, von ihrem »heiligen« Geiste verkünden, nicht alle Redlichen der Wissenschaft »arm im Geiste«? Kann irgend eine Religion mehr Entsagung verlangen, unerbittlicher den Selbstsüchtigen aus sich hinausziehen als die Wissenschaft? – – So und ähnlich und jedenfalls mit einiger Schauspielerei mögen wir reden, wenn wir uns vor den Gläubigen zu verteidigen haben; denn es ist kaum möglich, eine Verteidigung ohne etwas Schauspielerei zu führen. Unter uns aber muß die Sprache ehrlicher sein: wir bedienen uns da einer Freiheit, welche Jene nicht einmal, ihres eigenen Interesses halber, verstehen dürfen. Weg also mit der Kapuze der Entsagung! der Miene der Demut! Vielmehr und vielbesser: so klingt unsere Wahrheit! Wenn die Wissenschaft nicht an die Lust der Erkenntnis, an den Nutzen des Erkannten geknüpft wäre, was läge uns an der Wissenschaft? Wenn nicht ein wenig Glaube, Liebe und Hoffnung unsere Seele zur Erkenntnis hinführte, was zöge uns sonst zur Wissenschaft? Und wenn zwar in der Wissenschaft das Ich nichts zu bedeuten hat, so bedeutet das erfinderische glückliche Ich, ja selbst schon jedes redliche und fleißige Ich, sehr viel in der Republik der Wissenschafts-Menschen. Achtung der Achtung-Gebenden, Freude Solcher, welchen wir wohlwollen oder die wir verehren, unter Umständen Ruhm und eine mäßige Unsterblichkeit der Person ist der persönliche Preis für jene Entpersönlichung, von geringeren Aussichten und Belohnungen hier zu schweigen, obschon gerade ihrethalben die Meisten den Gesetzen jener Republik und überhaupt der Wissenschaft zugeschworen haben und immerfort zuzuschwören pflegen. Wenn wir nicht in irgend einem Maße unwissenschaftliche Menschen geblieben wären, was könnte uns auch nur an der Wissenschaft liegen! Alles in Allem genommen und rund glatt und voll ausgesprochen: für ein rein erkennendes Wesen wäre die Erkenntnis gleichgültig. – Von den Frommen und Gläubigen unterscheidet uns nicht die Qualität, sondern die Quantität Glaubens und Frommseins; wir sind mit Wenigerem zufrieden. Aber, werden Jene uns zurufen – so seid auch zufrieden und gebt euch auch als zufrieden! – worauf wir leicht antworten dürften: »In der That, wir gehören nicht zu den Unzufriedensten. Ihr aber, wenn euer Glaube euch selig macht, so gebt euch auch als selig! Eure Gesichter sind immer eurem Glauben schädlicher gewesen als unsere Gründe! Wenn jene frohe Botschaft eurer Bibel euch in's Gesicht geschrieben wäre, ihr brauchtet den Glauben an die Autorität dieses Buches nicht so halsstarrig zu fordern: eure Worte, eure Handlungen sollten die Bibel fortwährend überflüssig machen, eine neue Bibel sollte durch euch fortwährend entstehen! So aber hat alle eure Apologie des Christentums ihre Wurzel in eurem Unchristentum; mit eurer Verteidigung schreibt ihr eure eigne Anklageschrift. Solltet ihr aber wünschen, aus diesem eurem Ungenügen am Christenthum herauszukommen, so bringt euch doch die Erfahrung von zwei Jahrtausenden zur Erwägung: welche, in bescheidene Frageform gekleidet, so klingt: »wenn Christus wirklich die Absicht hatte, die Welt zu erlösen, sollte es ihm nicht mißlungen sein?«





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Der Dichter als Wegzeiger für die Zukunft

. – So viel noch überschüssige dichterische Kraft unter den jetzigen Menschen vorhanden ist, welche bei der Gestaltung des Lebens nicht verbraucht wird, so viel sollte, ohne jeden Abzug, Einem Ziele sich weihen, nicht etwa der Abmalung des Gegenwärtigen, der Wiederbeseelung und Verdichtung der Vergangenheit, sondern dem Wegweisen für die Zukunft: – und dies nicht in dem Verstande, als ob der Dichter gleich einem phantastischen Nationalökonomen günstigere Volks- und Gesellschafts-Zustände und deren Ermöglichung im Bilde vorwegnehmen sollte. Vielmehr wird er, wie früher die Künstler an den Götterbildern fortdichteten, so an dem schönen Menschenbilde fortdichten und jene Fälle auswittern, wo mitten in unserer modernen Welt und Wirklichkeit, wo ohne jede künstliche Abwehr und Entziehung von derselben, die schöne große Seele noch möglich ist, dort wo sie sich auch jetzt noch in harmonische, ebenmäßige Zustände einzuverleiben vermag, durch sie Sichtbarkeit, Dauer und Vorbildlichkeit bekommt und also, durch Erregung von Nachahmung und Neid, die Zukunft schaffen hilft. Dichtungen solcher Dichter würden dadurch sich auszeichnen, daß sie gegen die Luft und Glut der Leidenschaften abgeschlossen und verwahrt erschienen: der unverbesserliche Fehlgriff, das Zertrümmern des ganzen menschlichen Saitenspiels, Hohnlachen und Zähneknirschen und alles Tragische und Komische im alten gewohnten Sinne würde in der Nähe dieser neuen Kunst als lästige archaisierende Vergröberung des Menschen

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