Rasse, Klasse, Nation

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In der Tat durchzieht eine fundamentale Frage die gesamte Kette, von der auch all diese Fragestellungen geprägt sind. Wenn »irgendwo« in dieser historisch-politischen Kette eine unerträgliche, scheinbar »irrationale« Gewalt ins Spiel kommt, wo ist diese Stelle dann zu suchen? Findet die Zäsur in einer aus den »Realitäten« gewirkten Sequenz oder im Bereich der »ideologischen Konflikte« statt? Andererseits: ist die Gewalt als die Pervertierung eines Normalzustands, als die Abweichung von einer hypothetischen »geraden Linie« der menschlichen Geschichte anzusehen oder ist einzuräumen, dass sie die Wahrheit der früheren historischen Augenblicke ist und dass der Rassismus unter diesem Gesichtspunkt seit dem Entstehen des Nationalismus, ja seit der Existenz der Nationen keimhaft in jeder Politik angelegt ist?

Natürlich gibt es auf all diese Fragen je nach dem Standpunkt der Beobachter und den Situationen, die sie widerspiegeln, äußerst vielfältige Antworten. Ich meine jedoch, dass sie es bei all ihrer Vielfalt mit ein und demselben Dilemma zu tun haben: der Begriff Nationalismus teilt sich unaufhörlich. Es gibt immer einen »guten« und einen »schlechten« Nationalismus: denjenigen, der seiner Tendenz nach einen Staat oder eine Gemeinschaft aufbaut und denjenigen, der seiner Tendenz nach zerstört und unterdrückt; denjenigen, der sich auf das Recht bezieht und denjenigen, der sich auf die Macht bezieht, denjenigen, der die anderen Nationalismen duldet, sie sogar rechtfertigt und in eine gleiche historische Perspektive einbezieht (der große Traum vom »Frühling der Völker«) und denjenigen, der sie aus einer rassistischen und imperialistischen Denkweise heraus radikal ausschließt. Denjenigen, der sich auf Liebe gründet (selbst wenn diese exzessive Formen annimmt), und denjenigen, der sich auf Hass gründet. Die innere Auffächerung des Begriffs Nationalismus scheint letztlich genauso wichtig und genauso schwer bestimmbar zu sein wie der Übergang von »sterben für das Vaterland« zu »töten für das Vaterland« … Die Vielzahl der »benachbarten« synonymen oder antonymen Begriffe ist dafür nur der äußere Ausdruck. Ich glaube, niemand konnte sich bisher dem Problem entziehen, dass das Dilemma in dem Begriff Nationalismus selbst steckt (und wenn es auf der Ebene der Theorie ausgeräumt war, kam es durch die Tür der Praxis wieder herein); besonders deutlich zeigt es sich aber in der liberalen Tradition, was sich wahrscheinlich aus dem sehr ambivalenten Verhältnis von Liberalismus und Nationalismus seit mindestens zweihundert Jahren erklärt.11 Festzuhalten ist auch, dass die rassistischen Ideologien diese Diskussion aufgreifen und für ihre Zwecke einspannen können, indem sie sie ein wenig verschieben: haben Begriffe wie »Lebensraum« nicht die Funktion, die Frage nach der »guten« Seite des Imperialismus und des Rassismus aufzuwerfen? Und was ist mit dem Neo-Rassismus, dessen Ausweitung wir heute beobachten und der von der »differenzialistischen« Anthropologie bis zur Soziobiologie reicht? Versucht er nicht ständig, das Unvermeidbare und im Grunde genommen Nützliche (eine gewisse »Fremdenfeindlichkeit«, die die Gruppen dazu bringt, ihr »Territorium«, ihre »kulturelle Identität« zu verteidigen und untereinander »gesunden Abstand« zu wahren) von dem Nutzlosen und Schädlichen zu unterscheiden (die direkte Gewalt, der Übergang zum Handeln), das gleichwohl unvermeidbar ist, wenn man die elementaren Erfordernisse der Ethnizität nicht genügend beachtet?

Wie kann man diesem Kreislauf entkommen? Es reicht nicht, wie es heute manche Theoretiker tun, den Verzicht auf Werturteile zu fordern, d. h. kein Urteil über die Konsequenzen des Nationalismus unter verschiedenen Bedingungen abzugeben,12 oder den Nationalismus selbst strikt als eine ideologische Auswirkung des »objektiven« Konstituierungsprozesses der Nationen (und der Nationalstaaten) zu betrachten.13 Denn die Ambivalenz der Auswirkungen gehört zur Geschichte aller Nationalismen, und genau hier sind Erklärungen gefragt. Unter diesem Gesichtspunkt ist die Analyse des Stellenwerts des Rassismus im Nationalismus von entscheidender Bedeutung: wenn der Rassismus auch nicht in allen Nationalismen oder in allen Augenblicken ihrer Geschichte in gleicher Weise manifest ist, so stellt er doch stets eine für ihre Herausbildung notwendige Tendenz dar. Diese Verquickung verweist letztlich auf die Umstände, unter denen sich die auf historisch umstrittenen Territorien entstandenen Nationalstaaten bemüht haben, die Bevölkerungsbewegungen zu kontrollieren, und sie verweist auch auf die Schaffung des »Volkes« als eine über den Klassenspaltungen stehende politische Gemeinschaft.

An diesem Punkt wird indessen ein Einwand erhoben, der sich auf die Begriffe der Diskussion selbst bezieht. Insbesondere Maxime Rodinson richtet ihn an alle diejenigen – wie z. B. Colette Guillaumin –, die sich für eine »weit gefasste« Definition des Rassismus entschieden haben.14 Eine solche Definition will alle Formen der Ausgrenzung und Minorisierung berücksichtigen, sei es mit oder ohne theoretisch-biologische Basis. Sie hat sich das Ziel gesetzt, diesseits des »ethnischen« Rassismus bis zum Ursprung des »Rassenmythos« und seines genealogischen Diskurses zurückzugehen: zum »Klassen-Rassismus« der postfeudalen Aristokratie. Und vor allem will sie, um den gemeinsamen Mechanismus der Naturalisierung der Unterschiede analysieren zu können, unter die Bezeichnung »Rassismus« alle Unterdrückungen von Minderheiten subsumieren, die in einer formal egalitären Gesellschaft zu verschiedenen Phänomenen der »Rassisierung« sozialer Gruppen führen: ethnische Gruppen, aber auch Frauen, sexuell »Perverse«, Geisteskranke, Lumpenproletarier usw.15 Rodinson zufolge müsste jedoch eine grundsätzliche Entscheidung getroffen werden: entweder man betrachtet den inneren und äußeren Rassismus als eine Tendenz des Nationalismus und, darüber hinaus, des Ethnozentrismus, dessen moderne Form der Nationalismus wäre; oder man erweitert die Definition des Rassismus, um seine psychologischen Mechanismen zu begreifen (fremdenfeindliche Projektion, Leugnung des realen Anderen, dem die Merkmale eines phantasmatischen Andersseins angeheftet werden), aber dies auf die Gefahr hin, seine historische Spezifik aufzulösen.

Dieser Einwand kann jedoch ausgeräumt werden. Und dies sogar in der Weise, dass die historische Verflechtung von Rassismus und Nationalismus noch besser herausgearbeitet wird; unter der Voraussetzung allerdings, dass einige Thesen aufgestellt werden, die die Idee einer »weiten« Definition des Rassismus teilweise korrigieren oder zumindest präzisieren:

1. Keine Nation (das heißt kein Nationalstaat) besitzt eine ethnische Basis, was bedeutet, dass der Nationalismus nicht als ein Ethnozentrismus definiert werden kann, es sei denn genau im Sinn der Schaffung einer fiktiven Ethnizität. Jede andere Argumentation würde außer Acht lassen, dass die Rassen ebenso wenig wie die Völker eine natürliche Existenz aufgrund einer Abstammung, einer Kulturgemeinschaft oder vorgegebener Interessen haben. Aber man muss ihre imaginäre Einheit gegen andere mögliche Einheiten im Realen (und damit im historischen Zeitverlauf) herstellen.

2. Das Phänomen der »Minorisierung« und »Rassisierung«, das verschiedene soziale Gruppen völlig unterschiedlicher »Natur«, insbesondere die »ausländischen« Gemeinschaften und die »niederen Rassen«, die Frauen und die »Perversen« betrifft, ist nicht eine Aneinanderreihung von analogen Verhaltensweisen und Diskursen, die auf eine potenziell unendliche Reihe von unabhängigen Objekten angewandt werden, sondern ein historisches System sich ergänzender, miteinander verbundener Ausgrenzungs- und Herrschaftsformen. Mit anderen Worten, ein »ethnischer Rassismus« und ein »sexueller Rassismus« (oder Sexismus) laufen nicht parallel, sondern der Rassismus und Sexismus funktionieren zusammen, wobei insbesondere der Rassismus immer einen Sexismus voraussetzt. Unter diesen Bedingungen ist eine allgemeine Kategorie des »Rassismus« nicht eine Abstraktion, die an historischer Richtigkeit und Präzision zu verlieren droht, was sie an Universalität gewonnen hat; sie ist ein konkreterer Begriff, der die notwendig polymorphe Struktur des Rassismus, seine globalisierende Funktion sowie seinen Zusammenhang mit den gesamten Praktiken der sozialen Normalisierung und Ausgrenzung berücksichtigt; dies lässt sich am Neo-Rassismus zeigen, dessen bevorzugtes Objekt nicht der »Araber« oder der »Schwarze« ist, sondern der »Araber« als »Drogensüchtiger«, »Krimineller«, »Vergewaltiger« usw., bzw. der Vergewaltiger und der Kriminelle als »Araber«, »Schwarzer« usw.

3. Es ist diese umfassende Struktur des Rassismus, heterogen und doch stark zusammengehalten durch ein Netz zunächst von Phantasmen, sodann von Diskursen und Verhaltensweisen, die in einem notwendigen Zusammenhang mit dem Nationalismus steht; sie trägt zu seiner Herausbildung bei, indem sie die fiktive Ethnizität erzeugt, um die herum sich der Nationalismus organisiert.

4. Wenn es schließlich notwendig ist, zu den zugleich symbolischen und institutionellen Bedingungen des modernen Rassismus die Tatsache zu zählen, dass die Gesellschaften, in denen sich der Rassismus entwickelt, gleichzeitig »egalitäre« Gesellschaften sind, d. h. Gesellschaften, die (offiziell) keine Statusunterschiede zwischen den Individuen kennen, dann kann diese (vor allem von L. Dumont16 vertretene) soziologische These nicht losgelöst vom nationalen Kontext selbst aufgestellt werden. Mit anderen Worten, es ist nicht der moderne Staat, der »egalitär« ist, sondern der nationale (und nationalistische) moderne Staat; die inneren und äußeren Grenzen dieser Gleichheit bildet die nationale Gemeinschaft, deren wesentlicher Inhalt die Akte sind, aus denen sie direkt ihre Bedeutung bezieht (insbesondere das allgemeine Wahlrecht, die politische »Staatsangehörigkeit«). Sie ist vor allem eine Gleichheit in Hinblick auf die Nationalität.

 

Die Diskussion über diese Kontroverse (wie andere ähnliche, die wir anführen könnten17) hat bereits einen Vorteil gehabt: wir beginnen zu begreifen, dass die Verbindung von Nationalismus und Rassismus weder eine Frage der Pervertierung (denn es gibt kein »reines« Wesen des Nationalismus) noch eine Frage formaler Ähnlichkeit ist, sondern eine Frage der jeweiligen historischen Verknüpfung. Wir müssen die spezifische Andersartigkeit des Rassismus begreifen, und wir müssen sehen, wie er sich mit dem Nationalismus verbindet und in seiner Andersartigkeit für diesen notwendig ist. Das bedeutet, dass der Zusammenhang von Rassismus und Nationalismus nicht mit den klassischen Kausalitätsschemata entschlüsselt werden kann, seien sie mechanistischer Art (das eine ist die Ursache des anderen, »produziert« das andere nach dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit von Ursache und Wirkung) oder spiritualistischer Art (das eine »drückt« das andere »aus« oder gibt ihm seine Bedeutung oder offenbart sein verborgenes Wesen). Hier ist eine Dialektik der Einheit der Gegensätze gefragt.

Nirgends zeigt sich diese Notwendigkeit deutlicher als in der immer wieder auflebenden Diskussion über das »Wesen des Nazismus«, ein regelrechter Tummelplatz für alle Hermeneutiken der gesellschaftlichen Verhältnisse, auf dem die politischen Unsicherheiten der Gegenwart vorgeführt (und transponiert) werden.18

Für die einen ist der Rassismus Hitler’scher Prägung das Ergebnis des Nationalismus: er kommt von Bismarck, wenn nicht gar von der deutschen Romantik oder von Luther, von der Niederlage 1918 und dem demütigenden Diktat von Versailles und dient zur ideologischen Untermauerung eines absoluten imperialistischen Machtstrebens (der »Lebensraum«, das deutsche Europa). Wenn die innere Schlüssigkeit dieser Ideologie der eines Wahns analog ist, dann ist genau darin die Erklärung für ihre – kurze, aber fast totale – Herrschaft über die »Massen« aus allen sozialen Bereichen und über die »Führer« zu sehen, deren Blindheit die Nation schließlich zugrunde gerichtet hat. Jenseits aller »revolutionären« Täuschungsmanöver und aller konjunkturellen Umschwünge liegt das Streben nach Weltherrschaft in der Logik des Nationalismus, der den Massen und den Führern gemeinsam ist.

Für die anderen gehen solche Erklärungen dagegen am Wesentlichen vorbei, so subtil sie auch in der Analyse der sozialen Kräfte und der intellektuellen Traditionen, der Ereignisse und der Machtstrategien sind, so gut sie auch den Zusammenhang zwischen der Ungeheuerlichkeit des Nazismus und der Anomalie der deutschen Geschichte herstellen. Gerade weil die öffentliche Meinung und die Führer der »demokratischen« Nationen im Nazismus nur einen Nationalismus gesehen haben, der dem ihrigen – mit einigen Gradabstufungen – ähnlich war, haben sie sich Illusionen über seine Ziele gemacht und geglaubt, sich mit ihm arrangieren oder ihn zügeln zu können. Der Nazismus ist ein Ausnahmephänomen (vielleicht enthüllt er die in der modernen menschlichen Existenz angelegte Möglichkeit der Überschreitung politischer Rationalität), weil bei ihm die Logik des Rassismus alles andere hinwegspült, sich auf Kosten der »reinen« nationalistischen Logik durchsetzt: weil der innere und äußere »Rassenkrieg« dem »nationalen Krieg« (dessen Herrschaftsziele positive Ziele bleiben) jegliche Kohärenz nimmt. So wäre der Nazismus der Inbegriff des von ihm geschmähten »Nihilismus«, bei dem sich die Ausrottung des imaginären Feindes, die Verkörperung des Bösen (der Jude, der Kommunist), mit der Selbstzerstörung verbindet (eher soll Deutschland untergehen, als dass seine »rassische Elite«, die Kaste der SS und die Nazi-Partei, das Scheitern zugibt).

Man sieht, dass sich bei dieser Kontroverse analytische Diskurse und Werturteile ständig vermischen. Die Geschichte wird zu einem Instrument der Diagnostizierung des Normalen und des Pathologischen, sie ahmt den Diskurs ihres eigenen Objekts nach, indem sie den Nazismus diabolisiert, der seinerseits seine Gegner und Opfer diabolisierte. Aber es ist nicht leicht, aus diesem Kreislauf auszubrechen, denn es geht nicht darum, das Phänomen auf gängige Allgemeinheiten zu reduzieren, deren praktische Ohnmacht er gerade deutlich gemacht hat. Wir haben den widersprüchlichen Eindruck, dass der Nationalismus mit dem nazistischen Rassismus bei seinen tiefsten latenten Tendenzen angelangt ist, die, um den Ausdruck von Hannah Arendt aufzugreifen, von tragischer »Gewöhnlichkeit« sind, und dass er gleichzeitig aus sich selbst heraustritt, die durchschnittliche Gestalt abstreift, in der er sich generell realisiert, d. h. sich institutionalisiert und den »gesunden Menschenverstand« der Massen dauerhaft durchdringt. Wir erkennen (allerdings erst nachträglich) die Irrationalität einer Rassenmythologie, die schließlich den Zerfall des Nationalstaats herbeiführt, dessen absolute Überlegenheit sie proklamiert. Wir sehen darin den Beweis, dass der Rassismus – ein Komplex, bei dem sich die Banalität der täglichen Gewaltakte und die Geschichtstrunkenheit der Massen, der Bürokratismus der Arbeits- und Vernichtungslager und der Wahn der »Weltherrschaft« des »Herrenvolkes« mischen – nicht mehr lediglich als ein Aspekt des Nationalismus betrachtet werden kann. Aber wir fragen uns sofort: wie ist zu vermeiden, dass diese Irrationalität zu ihrer eigenen Ursache wird, dass sich der Ausnahmecharakter des nazistischen Antisemitismus in ein heiliges Mysterium verwandelt, indem eine spekulative Betrachtungsweise der Geschichte diese als die Geschichte des Bösen darstellt (und ihre Opfer dementsprechend als das wirkliche Lamm Gottes)? Umgekehrt ist es jedoch keineswegs sicher, dass uns die Ableitung des nazistischen Rassismus aus dem deutschen Nationalismus von jedwedem Irrationalismus befreit. Denn es muss festgestellt werden, dass nur ein »extrem« starker, durch eine »außergewöhnliche« Verkettung von inneren und äußeren Konflikten verschärfter Nationalismus die Ziele des Rassismus so sehr idealisieren konnte, dass er für die Ausübung seiner Gewaltakte so viele Peiniger fand, und dass diese für die Masse der übrigen Bevölkerung quasi »normal« wurden. Die Kombination dieser Banalität und dieses Idealismus verstärkt tendenziell eher die metaphysische Idee, dass der deutsche Nationalismus in der Geschichte ein »Ausnahmephänomen« ist: als Paradigma der pathologischen Verzerrung des Nationalismus im Verhältnis zum Liberalismus wäre er letztlich nicht auf den »gewöhnlichen« Nationalismus reduzierbar. Wodurch wir in die schon beschriebenen Aporien des »guten« und des »schlechten« Nationalismus zurückfallen würden.

Könnten wir das, was die Diskussion über den Nazismus so deutlich macht, nicht für jede Situation feststellen, in der sich Rassismus und Nationalismus in Diskursen, Massenbewegungen und spezifischen Politikformen manifestieren? Ist diese innere Verbindung und diese Überschreitung der rationalen Interessen und Ziele nicht der gleiche Widerspruch, den wir heute wieder in Ansätzen erkennen können, wenn z. B. eine Bewegung, die die nostalgische Sehnsucht nach der »neuen europäischen Ordnung« und dem »kolonialen Heroismus« mobilisiert, die »Lösung« des »Immigrantenproblems« auf ihre Fahnen schreibt und damit bekanntlich große Erfolge erzielt?

Verallgemeinernd würde ich also erstens sagen, dass es auf dem historischen »Feld« des Nationalismus stets eine wechselseitige Determination von Nationalismus und Rassismus gibt.

Sie manifestiert sich zunächst in der Art und Weise, wie die Entwicklung des Nationalismus – und seine offizielle Ausnutzung durch den Staat – völlig anders gelagerte Antagonismen und Verfolgungen in einen modernen Rassismus verwandelt (und ihnen die Merkmale der Ethnizität anheftet). Das reicht von der Transponierung des theologischen Antijudaismus im Spanien der Reconquista in eine auf der »Reinheit des Blutes« basierende genealogische Ausgrenzung, zu einer Zeit, als sich die raza anschickte, die Neue Welt zu erobern, bis zur tendenziellen Subsumierung der neuen »gefährlichen Klassen« im modernen Europa unter die Kategorie der »Immigration«, die zum eigentlichen Namen der Rasse in den krisengeschüttelten Nationen der postkolonialen Ära wird.

Diese wechselseitige Determination manifestiert sich auch in der Art und Weise, wie alle »offiziellen Nationalismen« des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts, die das Ziel hatten, der Heterogenität eines Vielvölkerstaats19 die politische und kulturelle Einheit einer Nation zu geben, den Antisemitismus benutzt haben: so als müsste die Herrschaft einer mehr oder weniger fiktiv geeinten Nationalität (z. B. die russische, deutsche oder rumänische) über eine hierarchisierte Vielfalt von zur Assimilation verurteilten ethnischen »Minderheiten« und Kulturen durch die rassisierende Verfolgung einer absolut einmaligen Pseudo-Ethnie (ohne eigenes Territorium, ohne »National«-Sprache) »kompensiert« und widergespiegelt werden; sie erscheint dann als der gemeinsame innere Feind aller Kulturen, aller beherrschten Populationen.20

Sie manifestiert sich schließlich in der Geschichte der nationalen Befreiungskämpfe, sei es gegen die alten Kolonialreiche, gegen die multinationalen dynastischen Staaten oder gegen die modernen Kolonialreiche. Es ist unmöglich, diese Prozesse auf ein einziges Modell zurückzuführen. Und dennoch kann es kein Zufall sein, dass der Genozid an den Indianern einen systematischen Charakter annahm, sobald die Vereinigten Staaten – die »erste der neuen Nationen«, nach dem berühmten Ausdruck von Lipset21 – unabhängig geworden waren. Nach der aufschlussreichen Analyse von Bipan Chandra ist es auch kein Zufall, dass sich der »Nationalismus« und der »Kommunalismus« in Indien gemeinsam konstituieren, was zu der heutigen unentwirrbaren Situation führte (die teilweise auf die frühe historische Verschmelzung von indischen Nationalismus und Hindu-Kommunalismus zurückzuführen ist).22 Oder wenn das unabhängige Algerien in seinem Kampf gegen das multikulturelle Erbe der Kolonisation aus der Anpassung der »Berber« an das »Arabertum« den zentralen Punkt des nationalen Voluntarismus macht. Oder selbst wenn der israelische Staat, mit dem inneren und äußeren Gegner sowie mit der Unmöglichkeit konfrontiert, eine »israelische Nation« zu schaffen, einen starken Rassismus entwickelt, der sowohl gegen die »orientalischen« (die sogenannten »schwarzen«) Juden als auch gegen die von ihrem Land vertriebenen und kolonisierten Palästinenser gerichtet ist.23

Aus dieser Anhäufung von historisch miteinander verflochtenen Einzelfällen ergibt sich, was man den historischen Reziprozitätszyklus des Nationalismus und Rassismus nennen könnte; er ist die zeitlich konkrete Gestalt der fortschreitenden Herrschaft des Systems der Nationalstaaten über andere Gesellschaftsformationen. Der Rassismus geht fortwährend aus dem Nationalismus hervor und richtet sich nicht nur nach außen, sondern auch nach innen. In den Vereinigten Staaten fällt die systematische Herstellung der Rassentrennung, die die erste Bürgerrechtsbewegung abblockt, mit dem Eintritt der Amerikaner in den internationalen imperialistischen Konkurrenzkampf und mit ihrer Proklamierung der Führungsrolle der nordischen Rassen zusammen. In Frankreich fällt die Entwicklung einer in der Vergangenheit der »Erde und der Toten« wurzelnden Ideologie der »französischen Rasse« mit dem Beginn der massiven Einwanderung, der Vorbereitung der Revanche gegen Deutschland und der Gründung des Kolonialreichs zusammen. Und der Nationalismus geht in dem Sinn aus dem Rassismus hervor, dass er sich nicht als Ideologie einer »neuen« Nation bilden würde, wenn der offizielle Nationalismus, auf den er reagiert, nicht zutiefst rassistisch wäre: so erwächst der Zionismus aus dem Antisemitismus und die Nationalismen der Dritten Welt aus dem kolonialen Rassismus. Aber innerhalb des großen Zyklus gibt es eine Vielzahl von Sonderzyklen. Um nur ein wichtiges Beispiel aus der französischen Nationalgeschichte zu nennen: die Niederlage des Antisemitismus nach der Dreyfus-Affäre, symbolisch den republikanischen Idealen zugeschlagen, macht in gewisser Weise den Weg für das gute Kolonialgewissen frei und erlaubt für lange Zeit die Entkoppelung der Begriffe Rassismus und Kolonisation (zumindest in der Wahrnehmung der Metropole).

 

Aber zweitens würde ich auch sagen, dass die Darstellungen und die Praktiken des Nationalismus und des Rassismus immer eine Differenz aufweisen: es ist eine fluktuierende Differenz zwischen den beiden Polen eines Widerspruchs und einer erzwungenen Identifikation, und das Beispiel der Nazis zeigt, dass der Widerspruch vielleicht am stärksten ausgeprägt ist, wenn diese Identifikation scheinbar am vollständigsten ist. Es ist nicht ein Widerspruch zwischen Nationalismus und Rassismus als solchen, sondern ein Widerspruch zwischen bestimmten Formen, zwischen den politischen Objekten des Nationalismus und der Kristallisation des Rassismus um ein bestimmtes Objekt zu einem bestimmten Zeitpunkt: so, wenn sich der Nationalismus vornimmt, eine beherrschte, potenziell autonome Bevölkerung zu »integrieren«: das »französische« Algerien, das »französische« Neu-Kaledonien. Ich werde mein Augenmerk im Folgenden also auf diese Differenz richten, auf die paradoxen Formen, die sie annehmen kann, damit besser begreiflich wird, was sich bei den meisten von mir angeführten Beispielen herausschält: dass der Rassismus nicht ein »Ausdruck« des Nationalismus ist, sondern eine Ergänzung des Nationalismus oder, besser gesagt, eine innere Ergänzung des Nationalismus, die immer über ihn hinausschießt, für seine Konstituierung aber stets unerlässlich ist und nie ausreicht, um sein eigenes Projekt zu realisieren; so wie der Nationalismus unerlässlich ist und zugleich nie ausreicht, um die Bildung der Nation oder das Projekt der »Nationalisierung« der Gesellschaft zu realisieren.

Die Paradoxien der Universalität

Dass die Theorien und Strategien des Nationalismus immer in dem Widerspruch von Universalität und Partikularität gefangen sind, ist eine allgemein akzeptierte Vorstellung, die endlos variiert wird. In der Tat hat der Nationalismus eine vereinheitlichende und rationalisierende Funktion und kultiviert den Fetisch einer nationalen Identität, die in den Ursprüngen wurzelt und vor jeglicher Aufsplitterung zu bewahren ist. Hierbei interessiert mich nicht die Allgemeinheit dieses Widerspruchs, sondern die Art und Weise, wie er sich im Rassismus zeigt. Denn der Rassismus präsentiert sich zugleich als universelles und partikulares Phänomen. Das Überschießende, also die Ergänzung, die er zum Nationalismus darstellt, hat die Tendenz, ihn zu universalisieren, d. h. seinen Mangel an Universalität zu korrigieren, und ihn zugleich zu partikularisieren, d. h. seinen Mangel an Spezifik zu korrigieren. Mit anderen Worten, der Rassismus verstärkt lediglich die Ambivalenz des Nationalismus, was bedeutet, dass der Nationalismus durch den Rassismus eine »Flucht nach vorn« antritt, seine materiellen Widersprüche in ideelle verwandelt.24

Theoretisch betrachtet, ist der Rassismus eine Geschichtsphilosophie oder, besser gesagt, eine Historiosophie, der zufolge die Geschichte einem verborgenen und den Menschen enthüllten »Geheimnis« entspringt, das ihre eigene Natur, ihre eigene Herkunft betrifft. Es ist eine Philosophie, die die unsichtbare Ursache des Schicksals der Völker und Gesellschaften sichtbar macht, wird diese nicht erkannt, verweist das auf eine Entartung oder auf die historische Macht des Bösen.25 Natürlich gibt es historiosophische Aspekte ebenfalls in den Vorsehungstheologien und in den Fortschrittsphilosophien, aber auch in den dialektischen Philosophien. Der Marxismus ist davon nicht ausgenommen, was nicht wenig zu den Symmetrieeffekten zwischen dem »Klassenkampf« und dem »Rassenkampf«, zwischen dem Motor des Fortschritts und dem Rätsel der Evolution, beigetragen, also die Möglichkeiten der Übersetzung des einen ideologischen Universums in das andere gefördert hat. Diese Symmetrie hat allerdings klare Grenzen. Ich denke dabei nicht so sehr an den abstrakten Gegensatz von Rationalismus und Irrationalismus oder an den von Optimismus und Pessimismus, obwohl es zutrifft (und von entscheidender praktischer Bedeutung ist), dass sich die meisten rassistischen Philosophien als Verkehrungen des Themas Fortschritt in das Thema Dekadenz, Entartung und Verfall der Kultur, der nationalen Identität und Integrität darstellen.26 Aber ich denke, dass eine historische Dialektik im Gegensatz zu einer Historiosophie des Kampfes der Rassen oder der Kulturen oder des Antagonismus zwischen »Elite« und »Masse« niemals die einfache Ausarbeitung eines manichäistischen Themas sein kann. Sie hat nicht nur über den »Kampf« und den »Konflikt« Auskunft zu geben, sondern auch über die historische Konstituierung der sich bekämpfenden Kräfte und der Kampfformen, mit anderen Worten, im Zusammenhang mit ihrer eigenen Darstellung des Verlaufs der Geschichte kritische Fragen zu stellen. Unter diesem Gesichtspunkt sind die Historiosophien der Rasse und der Kultur völlig unkritisch.

Es gibt sicherlich nicht eine rassistische Philosophie, zumal diese nicht immer die Form des Systems annimmt. Der gegenwärtige Neo-Rassismus konfrontiert uns heute direkt mit einer Vielfalt von historischen und nationalen Formen: Mythos des »Rassenkampfes«, evolutionistische Anthropologie, »differenzialistischer« Kulturalismus, Soziobiologie usw. Im Kraftfeld dieser Konstellation bewegen sich soziopolitische Diskurse und Techniken wie die Demografie, die Kriminologie, die Eugenik. Man müsste auch der Genealogie der rassistischen Theorien nachspüren, die über Gobineau oder Chamberlain, aber auch über die »Psychologie der Völker« und den soziologischen Evolutionismus auf die Anthropologie und die Naturgeschichte der Aufklärung27 und auf das zurückgeht, was L. Sala-Molins die Theologie der »weißen Bibel« nannte.28 Ich möchte ganz kurz umreißen, welche intellektuellen Verfahrensweisen seit nunmehr drei Jahrhunderten den theoretischen Rassismus kennzeichnen und es ihm ermöglichen, sich mit dem kurzzuschließen, was wir den »Wissensdrang« des alltäglichen Rassismus nennen können.

Da ist zunächst das elementare Verfahren der Klassifizierung, d. h. die Reflexion über den die menschliche Gattung konstituierenden Unterschied, die Suche nach den Kriterien, nach denen die Menschen »Menschen« sind: inwiefern sind sie Menschen? in welchem Maße? in welcher Art? Diese Klassifizierung wird von jeder Hierarchisierung vorausgesetzt. Sie kann zu dieser führen, weil die mehr oder weniger kohärente Konstruktion eines hierarchischen Bildes der Gruppen, die die menschliche Gattung bilden, vor allem eine Darstellung ihrer Einheit in der und durch die Ungleichheit ist. Aber sie kann sich als reiner »Differentialismus« auch selbst genügen. Zumindest scheinbar, denn die Differenzierungskriterien können nicht »neutral« sein. Sie beinhalten soziopolitische Werte, die in der Praxis umstritten sind und die es auf dem Umweg über die Ethnizität oder die Kultur durchzusetzen gilt.29

Klassifizierung und Hierarchisierung sind Naturalisierungsverfahren ersten Ranges oder besser gesagt, Projektionen der historischen und sozialen Unterschiede in den Horizont einer imaginären Natur. Man darf jedoch der augenscheinlichen Plausibilität des Resultats nicht auf den Leim gehen. Die »menschliche Natur«, unterlegt mit einem System »natürlicher Unterschiede« innerhalb der menschlichen Gattung, ist keineswegs eine unmittelbar gegebene Kategorie. Vor allem beinhaltet sie zwangsläufig geschlechtsspezifische Schemata, und zwar sowohl hinsichtlich der »Auswirkungen« oder der Symptome (die »rassischen Charaktere«, ob psychologisch oder somatisch gefasst, sind immer Metaphern für die geschlechtlichen Unterschiede) als auch hinsichtlich der »Ursachen« (Vermischung, Vererbung). Daher die zentrale Bedeutung des Kriteriums der Genealogie, die alles andere als eine Kategorie der »reinen« Natur ist: es ist eine symbolische Kategorie, die an juristische Begriffe anknüpft, welche sich vor allem auf die Legitimität der Abstammung beziehen. Es gibt also im »Naturalismus« der Rasse einen latenten Widerspruch, der über sich selbst hinaus auf eine »originäre«, »unvordenkliche« »Über-Natur« verweisen muss, die immer schon in den imaginären Raum des Guten und Schlechten, der Unschuld und der Entartung projiziert ist.30

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