Rasse, Klasse, Nation

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Kapitel 3
Rassismus und Nationalismus

Étienne Balibar

Die rassistischen Organisationen lehnen es zumeist ab, als solche bezeichnet zu werden, indem sie sich auf den Nationalismus berufen und behaupten, dass diese beiden Begriffe nicht aufeinander reduzierbar sind. Ist das nur eine Taktik, um sich zu tarnen, oder das Symptom einer dem Rassismus inhärenten Angst vor den Worten? In der Tat sind die Diskurse über Rasse und Nation nie weit voneinander entfernt, und sei es auch nur in der Form einer Verleugnung: danach wäre die Anwesenheit der »Immigranten« auf dem nationalem Territorium die Ursache für einen »antifranzösischen Rassismus«. So verweisen schon die Schwankungen im Vokabular darauf, dass der in bestimmten politischen Bewegungen organisierte Nationalismus, zumindest in einem ausgebildeten Nationalstaat, unweigerlich mit Rassismus einhergeht.

Zumindest ein Teil der Historiker hat diese Tatsache benutzt, um zu zeigen, dass sich dieser – als theoretischer Diskurs wie als Massenphänomen – »im Bereich des Nationalismus« entwickelt, der eine allgegenwärtige Erscheinung der modernen Epoche darstellt.1 So wäre der Nationalismus zwar nicht die einzige Ursache des Rassismus, in jedem Fall aber die entscheidende Voraussetzung für seine Entstehung. Oder: die »ökonomischen« Erklärungen (die Auswirkungen der Krise) oder die »psychologischen« Erklärungen (die Ambivalenz des persönlichen Identitätsgefühls und des kollektiven Zugehörigkeitsgefühls) wären nur in dem Maße zutreffend, wie sie Voraussetzungen oder Rückwirkungen des Nationalismus erhellen.

Eine solche These bestätigt, dass der Rassismus nichts mit der Existenz von objektiven biologischen »Rassen« zu tun hat.2 Sie zeigt, dass der Rassismus ein historisches oder kulturelles Produkt ist, wobei sie zugleich die mehrdeutigen »kulturalistischen« Erklärungen vermeidet, die über eine andere Schiene ebenfalls die Tendenz haben, aus dem Rassismus gleichsam eine feste Größe der menschlichen Natur zu machen. Sie hat den Vorteil, dass sie den Kreislauf durchbricht, der für die Psychologie des Rassismus wiederum rein psychologische Erklärungen anführt. Schließlich hat sie eine kritische Funktion gegenüber den Verharmlosungsstrategien anderer Historiker, die darauf bedacht sind, den Rassismus außerhalb des Bereichs des Nationalismus anzusiedeln, als wäre es möglich, diesen zu definieren, ohne die rassistischen Bewegungen einzubeziehen, also ohne bis zu den gesellschaftlichen Verhältnissen zurückzugehen, die diese induzieren und mit dem heutigen Nationalismus (insbesondere dem Imperialismus) untrennbar verbunden sind.3 Aber diese Anhäufung von guten Gründen impliziert nicht unbedingt, dass der Rassismus eine unvermeidliche Konsequenz des Nationalismus ist, und schon gar nicht, dass der Nationalismus ohne die Existenz eines latenten oder offenen Rassismus unmöglich wäre.4 Die Kategorien und Formulierungen bleiben verschwommen. Wir brauchen keine Angst davor zu haben, den Gründen nachzuspüren, die jeden begrifflichen »Purismus« unwirksam machen.

Die Präsenz der Vergangenheit

Nach welchen Modellen haben wir jetzt, am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, unsere Vorstellung von Rassismus geformt, die in quasi offizielle Definitionen Eingang gefunden hat? Da sind einmal der nazistische Antisemitismus, dann die Rassentrennung in den Vereinigten Staaten (als eine Spätfolge der Sklaverei wahrgenommen) und schließlich der »imperialistische« Rassismus der kolonialen Eroberungen, Kriege und Unterdrückungen. Die theoretische Reflexion über diese Modelle (verbunden mit einer Politik der Verteidigung der Demokratie, der Sicherung der Menschen- und Bürgerrechte, der Durchsetzung der nationalen Befreiung) hat eine Reihe von Unterscheidungen hervorgebracht. Trotz ihrer Abstraktheit ist es durchaus nützlich, sie sich noch einmal zu vergegenwärtigen, weil sie die Richtung angeben, in der die Ursachen gesucht werden, wobei dieser Suche die mehr oder weniger explizit geäußerte Idee zugrunde liegt, dass die Beseitigung der Auswirkungen von der Beseitigung eben dieser Ursachen abhängt.

Die erste Unterscheidung, auf die wir stoßen, ist die zwischen dem theoretischen (oder doktrinären) Rassismus und dem spontanen Rassismus (dem rassistischen »Vorurteil«), der bald als ein allgemeinpsychologisches Phänomen, bald als eine mehr oder weniger »bewusste« Struktur der individuellen Persönlichkeit betrachtet wird. Ich werde darauf zurückkommen.

Von einem stärker historisch ausgerichteten Standpunkt aus führen die Singularität des Antisemitismus im Vergleich zum kolonialen Rassismus oder die Notwendigkeit, die rassische Unterdrückung der Schwarzen – in den USA – anders zu interpretieren als die Diskriminierungen der »Ethnien« der Immigranten zu einer mehr oder weniger ideellen Unterscheidung zwischen einem nach innen gerichteten Rassismus (der sich gegen eine minorisierte Bevölkerung im nationalen Raum wendet) und einem nach außen gerichteten Rassismus (der als eine extreme Form der Fremdenfeindlichkeit betrachtet wird). Was voraussetzt, dass man die nationale Grenze als ein vorgängiges Kriterium nimmt, das sich freilich sehr schlecht auf die postkolonialen oder quasi-kolonialen Situationen anwenden lässt (wie die Herrschaft Nordamerikas über Lateinamerika), wo die Vorstellung einer Grenze noch unklarer ist als anderswo.

Seitdem die Analyse des rassistischen Diskurses um phänomenologische und semantische Untersuchungsmethoden bereichert wurde, schien es von operativem Wert zu sein, gewisse rassistische Haltungen als selbstbezogen zu charakterisieren (hier sind es die physische oder symbolische Gewalt ausübenden Träger des Vorurteils, die sich selbst als Vertreter einer überlegenen Rasse bezeichnen) und ihn von einem fremdbezogenen oder »heterophobischen« Rassismus zu unterscheiden (bei dem es die Opfer des Rassismus oder, besser gesagt, des Rassisierungsprozesses sind, die einer minderwertigen oder schädlichen Rasse zugeordnet werden). Was nicht nur die Frage aufwirft, wie sich der Rassenmythos bildet, sondern auch die, ob dieser untrennbar mit dem Rassismus verbunden ist.

Die politische Analyse – sei es, dass sie sich mit den aktuellen Phänomenen befasst, sei es, dass sie versucht, die Genese der vergangenen Phänomene zu rekonstruieren – bemüht sich darum, den jeweiligen Anteil eines institutionellen und eines soziologischen Rassismus einzuschätzen: diese Unterscheidung überschneidet sich weitgehend mit der zwischen dem theoretischen und dem spontanen Rassismus (denn es ist schwer, in der Geschichte staatliche, auf Rassentrennung abgestellte Institutionen zu benennen oder sich vorzustellen, die nicht über eine theoretische Rechtfertigung zu verfügen), ist mit ihr jedoch nicht einfach deckungsgleich; zum einen, weil diese Rechtfertigungen auch anderen theoretischen Ideologien als einer Rassenmythologie entnommen werden können, zum anderen, weil der soziologische Rassenbegriff eine dynamische, situationsbedingte Dimension hat, die über die Psychologie der Vorurteile hinausgeht und unsere Aufmerksamkeit auf das Problem der kollektiven Bewegungen mit rassistischem Charakter lenkt. Die Alternative: institutioneller oder soziologischer Rassismus legt uns nahe, die Unterschiede zwischen dem Rassismus im Staat und dem staatlichen (offiziellen) Rassismus nicht als unerheblich abzutun. Sie weist außerdem daraufhin, dass es wichtig ist, die Anfälligkeit bestimmter sozialer Klassen für den Rassismus und die Formen zu untersuchen, die diese ihm unter bestimmten Umständen geben. Im Grunde genommen handelt es sich jedoch um eine mystifizierende Alternative, die vor allem Projektions- und Verleugnungsstrategien zum Ausdruck bringt. Jeder historische Rassismus ist gleichzeitig institutionell und soziologisch.

Schließlich hat die Gegenüberstellung von Nazismus und kolonialem Rassismus sowie der Rassentrennung in den Vereinigten Staaten zu einer weitgehend akzeptierten Unterscheidung zwischen einem (»ausschließenden«) mit Ausrottung oder Eliminierung verbundenen Rassismus und einem (»einschließenden«) mit Unterdrückung oder Ausbeutung verbundenen Rassismus geführt; danach zielt der eine darauf ab, den Gesellschaftskörper von dem Schmutz oder der Gefahr zu säubern, den die minderwertigen Rassen angeblich darstellen, während der andere die Hierarchisierung und Abschottung der Gesellschaft zum Ziel hat. Aber es zeigt sich sofort, dass es selbst in den extremen Fällen keine dieser beiden Formen im Reinzustand gibt: so kannte der Nazismus Ausrottung und Deportation, »Endlösung« und Versklavung, und zu den Praktiken des Kolonialimperialismus gehörten Zwangsarbeit, Einrichtung des Kastenwesens, ethnische Segregation sowie systematische »Genozide« und Massaker.

Diese Unterscheidungen dienen nicht so sehr dazu, ideell reine Verhaltens- oder Strukturtypen zu klassifizieren, als vielmehr historische Entwicklungswege nachzuzeichnen. Ihre relative Richtigkeit veranlasst uns zu der einleuchtenden Feststellung, dass es nicht einen invarianten Rassismus, sondern mehrere Rassismen gibt, die ein ganzes situationsabhängiges Spektrum bilden, und zu einer Warnung, die sich intellektuell und politisch als äußerst wichtig erweisen kann: eine bestimmte rassistische Konfiguration hat keine festen Grenzen, sie ist ein Moment einer Entwicklung, das je nach seinen eigenen latenten Möglichkeiten, aber auch nach den historischen Umständen und den Kräfteverhältnissen in der Gesellschaftsformationen einen anderen Platz im Spektrum möglicher Rassismen einnehmen kann. Zu Ende gedacht, würde das bedeuten, dass es heute kaum eine Gesellschaft ohne Rassismus gibt (vor allem, wenn man sich nicht mit der Feststellung begnügt, dass seine öffentliche Artikulation durch die herrschende Kultur eingeschränkt oder dass der »Übergang zu Gewaltakten« durch den Justizapparat nahezu völlig unterbunden wird). Daraus sollte jedoch nicht der Schluss gezogen werden, dass wir unterschiedslos in »rassistischen Gesellschaften« leben. Vorausgesetzt natürlich, dass diese Vorsicht in der Einschätzung nicht ihrerseits in ein Alibi umschlägt. Und hier erweist es sich als notwendig, über die Typologien hinauszugehen. Der Rassismus ist nicht ein einheitlicher Typus oder ein Nebeneinander von Sonderfällen, die es in formale Kategorien zu fassen gilt; er ist keine lineare, sondern eine singuläre Geschichte (mit ihren Wendepunkten, ihren Latenzphasen und ihren Explosionen), die die wechselhaften Epochen der modernen Menschheit miteinander verbindet und von ihnen wiederum beeinflusst wird. Aus diesem Grund können der nazistische Antisemitismus und der koloniale Rassismus oder auch die Sklaverei nicht einfach als Modelle genommen werden, an denen sich der Grad der Reinheit oder Gefährlichkeit eines »Aufschwungs des Rassismus« messen lässt; sie können auch nicht als Epochen oder Ereignisse gelten, die den Platz des Rassismus in der Geschichte genau abstecken, sondern müssen als immer noch aktive, teils bewusste, teils unbewusste Formationen betrachtet werden, die dazu beitragen, die Verhaltensweisen und Bewegungen zu strukturieren, die sich aus den aktuellen Bedingungen ergeben. Heben wir hier die paradigmatische Tatsache hervor, dass bei der Apartheid in Südafrika die Elemente der drei genannten Formationen eng miteinander verquickt sind (Nazismus, Kolonisierung, Sklaverei).

 

Im Übrigen weiß man sehr wohl: die Niederlage des Nazismus und die Enthüllungen über die Vernichtungslager haben nicht nur eine Bewusstwerdung beschleunigt, die zur sogenannten universellen Kultur der heutigen Welt gehört (obwohl dieses Bewusstsein unterschiedlich stark ausgeprägt, sich seines Inhalts und seiner Implikationen nicht sicher, also etwas anderes als Wissen ist). Sie hat zu einem halb juristischen, halb ethischen Verbot geführt, das, wie jedes Verbot, ambivalente Konsequenzen hat: diese reichen von dem Zwang für den heutigen rassistischen Diskurs, die typischen Aussagen des Nazismus zu vermeiden (ausgenommen den »Fehler«), bis hin zur Möglichkeit, sich selbst im Hinblick auf den Nazismus als das Andere auszugeben, das mit Rassismus nichts zu tun hat, und den Hass auf andere »Objekte« als die Juden zu verlagern, und bis hin zum zwanghaften Interesse für die innersten Geheimnisse des Hitlertums. Ich behaupte ganz ernsthaft (zumal das Phänomen mir alles andere als marginal erscheint), dass das nazistische Nachahmungsgebaren der jungen »Skinhead«-Banden in der dritten Generation nach der »Apokalypse« in all ihrer Armseligkeit eine der Formen der kollektiven Erinnerung im heutigen Rassismus darstellt; oder, wenn man so will, eine der Arten, auf die die kollektive Erinnerung dazu beiträgt, die Kraftlinien des gegenwärtigen Rassismus zu zeichnen – was auch bedeutet, dass man nicht hoffen kann, sich dieses Phänomens durch einfache Repression oder durch einfache Ermahnungen zu entledigen.

Keine historische Erfahrung kann sich wohl aus eigener Kraft reaktivieren, und um das Schwanken des Rassismus der achtziger Jahre zwischen verbalem Antinazismus, Unausgesprochenem, und reproduziertem Mythos zu interpretieren, müssen auch seine Zielgruppen, deren eigene Verhaltensweisen und Reaktionen berücksichtigt werden. Denn der Rassismus ist ein gesellschaftliches Verhältnis.5

Die Gegenwart ist mit den besonderen Spuren der Vergangenheit verbunden. Wenn man sich also fragt, in welchem Sinne die Fixierung des Rassenhasses auf die maghrebinischen Immigranten gewisse Züge des klassischen Antisemitismus reproduziert, darf man nicht nur auf eine analoge Situation der jüdischen Minderheiten im Europa der Jahrhundertwende und der »arabisch-islamischen« Minderheiten im heutigen Frankreich verweisen; man darf ihn auch nicht nur auf das abstrakte Modell eines »inneren Rassismus« beziehen, bei dem eine Gesellschaft ihre Frustrationen und Ängste (oder vielmehr die der sie konstituierenden Individuen) auf einen Teil ihrer selbst projiziert, sondern man muss nach dem in seiner Art einzigartigen Hinausschießen des Antisemitismus über die »jüdische Identität« fragen, und zwar ausgehend von den spezifisch französischen Voraussetzungen seiner Wiederholung und ausgehend von seiner hitleristischen Wiederbelebung.

Das Gleiche lässt sich vom kolonialen Rassismus sagen. Es ist nicht sehr schwer, um uns herum seine allgegenwärtigen Auswirkungen zu sehen. Zunächst, weil nicht alle direkten Formen der französischen Kolonialherrschaft verschwunden sind (einige »Territorien« und ihre »Ureinwohner« mit dem Status von Halbbürgern sind von der Entkolonisierung unberührt geblieben). Sodann, weil der Neokolonialismus eine massive, unverkennbare Realität ist. Schließlich und vor allem, weil die bevorzugten »Objekte« des heutigen Rassismus, die Arbeiter aus den früheren französischen Kolonien und ihre Familien, als das Produkt der Kolonisierung und der Entkolonisierung erscheinen; so ziehen sie zugleich die weiter bestehende imperiale Verachtung und die Ressentiments der Bürger einer geschlagenen Macht, wenn nicht gar die Wahnvorstellung einer Revanche auf sich. Aber diese Kontinuitäten reichen zur Charakterisierung der Situation nicht aus. Sie sind dadurch vermittelt (wie Sartre sagen würde) oder überdeterminiert (wie Althusser sagen würde), dass sich globalere historische Ereignisse und Tendenzen im nationalen Raum widerspiegeln (unterschiedlich je nach den sozialen Gruppen und ideologischen Positionen). Auch hier hat ein Bruch stattgefunden, wenngleich in einer Weise, die sich völlig vom Nazismus unterscheidet. Besser gesagt: eine sich endlos fortsetzende Ablagerung und ein relativ schneller, aber keineswegs eindeutig bestimmbarer Bruch.

Es könnte auf den ersten Blick scheinen, dass der koloniale Rassismus geradezu das Paradebeispiel für einen »nach außen gerichteten Rassismus« ist, eine extreme Variante der Fremdenfeindlichkeit, bei der sich Angst und Verachtung mischen; dieser Rassismus wird durch das Bewusstsein der Kolonisatoren perpetuiert, die trotz ihrer Behauptung, eine dauerhafte Ordnung begründet zu haben, immer wussten, dass diese Ordnung auf einem reversiblen Kräfteverhältnis beruhte. Genau auf dieses Merkmal sowie auf den Unterschied zwischen Unterdrückung und Ausrottung haben sich viele Gegenüberstellungen von kolonialem Rassismus und Antisemitismus gestützt (wobei die »Endlösung« der Nazis dazu einlud, die Ausrottung rückwirkend auf die ganze Geschichte des Antisemitismus zu projizieren). So hätten wir es mit zwei tendenziell unvereinbaren Tendenzen zu tun (was manche zu der ein wenig vom jüdischen Nationalismus gefärbten Aussage veranlasst, dass »der Antisemitismus kein Rassismus ist«): auf der einen Seite mit einem Rassismus, dem die Tendenz zur Eliminierung einer inneren Minorität innewohnt, die nicht nur »assimiliert«, sondern ein integraler Bestandteil der Kultur und Ökonomie der europäischen Nationen seit ihren Anfängen ist; auf der anderen Seite mit einem Rassismus, der eine mit Gewalt eroberte Mehrheit auf unbestimmte Zeit de jure und de facto von den Bürgerrechten, der herrschenden Kultur, der gesellschaftlichen Macht »ausschließt« (was den Paternalismus, die Zerstörung der Kulturen der »Eingeborenen« und die Unterwerfung der »Eliten« der kolonisierten Nationen unter die Lebens- und Verhaltensweisen des Kolonisators einschließt).

Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass die Ausschließung der »eingeborenen« Bevölkerungen bei der Kolonisierung oder vielmehr ihre Darstellung als rassenbedingt, selbst wenn ihr Diskurs auf sehr alte Bilder vom »Unterschied« zurückgreift, keineswegs ein gegebener Zustand ist. Sie wurde in dem Raum produziert und reproduziert, der durch die Eroberung und Kolonisierung konstituiert wurde und ganz konkrete Strukturen der Verwaltung, der Zwangsarbeit, der sexuellen Unterdrückung aufweist, also auf dem Boden einer gewissen Einschließung. Sonst wäre weder die Ambivalenz der doppelten Bewegung von Assimilierung und Ausgrenzung der »Eingeborenen«, noch die Art und Weise erklärbar, wie das den Kolonisierten zugeschriebene Untermenschentum das Bild bestimmt, das die kolonisierenden Nationen während der Epoche der Aufteilung der Welt von sich selbst entwickelt haben. Das Erbe des Kolonialismus ist in Wirklichkeit eine variable Kombination von fortgesetzter äußerer Ausschließung und »innerer Ausgrenzung«. Das zeigt sich auch in der Art, wie sich der imperialistische Überlegenheitskomplex bildet. Die Kolonialkasten der verschiedenen Nationen (England, Frankreich, Holland, Portugal usw.) haben gemeinsam die Idee von einer »weißen« Überlegenheit, von der Verteidigung der Zivilisation gegen die Wilden aufgebaut. Diese Darstellung – die »Bürde des weißen Mannes« – hat in entscheidender Weise dazu beigetragen, die moderne Vorstellung von einer europäischen oder westlichen, supranationalen Identität zu schaffen. Das hat dieselben Kasten nicht daran gehindert, das zu spielen, was Kipling das »große Spiel« nannte, d. h. die Rebellionen »ihrer« Eingeborenen gegeneinander anzustacheln und gegeneinander eine besondere Menschlichkeit geltend zu machen, indem das Bild des Rassismus auf die Kolonialpraktiken ihrer Rivalen projiziert wurde. Die französische Kolonisation gab sich als eine »assimilierende« aus, die Englische heftete sich das Etikett an, »die Kulturen zu respektieren«. Der andere Weiße ist der schlechte Weiße. Jede weiße Nation ist ideell die »weißeste«: d. h. zugleich die elitärste und universalistischste, ein scheinbarer Widerspruch, auf den ich noch zurückkommen werde.

Mit der Beschleunigung des Entkolonisierungsprozesses haben diese Widersprüche einen Formwandel durchgemacht. Gemessen an ihren Idealen, war die Entkolonisierung ein Fehlschlag; sie war unvollständig und wurde pervertiert. Aber da sie sich mit anderen, relativ unabhängigen Ereignissen überschnitt (der Eintritt in das Zeitalter der Rüstung und der planetarischen Kommunikationssysteme), hat sie einen neuen politischen Raum geschaffen: nicht nur einen Raum, in dem Strategien gebildet werden, Kapitale, Technologien und Botschaften zirkulieren, sondern einen Raum, in dem sich ganze Bevölkerungen physisch und symbolisch begegnen, die dem Gesetz des Marktes unterworfen sind. So wird die ambivalente Konfiguration Einschließung/ Ausschließung, die seit der Epoche der kolonialen Eroberungen eine der strukturierenden Dimensionen des Rassismus war, reproduziert, erweitert und aktiviert. Es ist banal, darauf hinzuweisen, ruft doch die Immigration aus den alten Kolonien oder Quasi-Kolonien in die kapitalistischen »Zentren« ständig diesen Effekt der »Dritten Welt im eigenen Land« hervor. Aber diese Form der Einschließung des Äußeren, die den Horizont absteckt, in dem sich die Vorstellungen von »Rasse« und »Ethnizität« bewegen, kann nur abstrakt von den scheinbar antithetischen Formen der Ausschließung des Inneren getrennt werden. Das sind insbesondere die Formen, die sich aus der Bildung von Staaten nach dem mehr oder weniger vollständigen Abzug der Kolonisatoren ergeben; diese Staaten an der riesigen Peripherie des Planeten, die Anspruch auf eine eigene nationale Identität erheben (diese aber in sehr unterschiedlichem Maße erlangen), sind von einem explosiven Antagonismus zwischen der kapitalistischen Bourgeoisie bzw. den »verwestlichten« Staatsbourgeoisien und den verelendeten Massen zerrissen, die dadurch in den »Traditionalismus« zurückgeworfen werden.6

Benedict Anderson betont, dass die Entkolonisierung in der Dritten Welt nicht zur Herausbildung dessen geführt hat, was eine gewisse Propaganda den (anti-weißen, anti-europäischen) »Gegenrassismus« nennt.7 Räumen wir ein, dass dies vor den jüngsten Entwicklungen des islamischen Fundamentalismus geschrieben worden ist, der die Frage aufwirft, welchen Beitrag er zu der Woge des »Fremdenhasses« geleistet hat, die wir heute erleben. Aber es handelt sich in jedem Fall um eine unvollständige Feststellung. Denn wenn es in Afrika, Asien und Lateinamerika auch keinen Dritte-Welt-spezifischen »Gegenrassismus« gibt, so gibt es doch unzählige verheerende, sowohl in den Institutionen als auch in den Bevölkerungen verankerte Rassismen zwischen »Nationen«, »Ethnien« und »Gemeinschaften«. Und umgekehrt gibt das Schauspiel dieser Rassismen, durch die weltweite Kommunikation verzerrt, den Stereotypen des weißen Rassismus fortwährend Nahrung und hält die alte Vorstellung lebendig, dass drei Viertel der Menschheit unfähig sind, sich selbst zu regieren. Den Hintergrund dieser mimetischen Auswirkungen bildet zweifellos die Ersetzung der alten Welt der Kolonialnationen und ihres Manövrierfelds (der Rest der Menschheit) durch eine neue Welt, die formal in gleichwertigen Nationalstaaten organisiert ist (alle sind in den internationalen Institutionen »vertreten«), durch die aber die ständig sich verschiebende, nicht auf die Staatsgrenzen reduzierbare Trennungslinie zwischen zwei inkommensurabel erscheinenden Menschheiten verläuft: die des Elends und die des »Konsums«, die der Unterentwicklung und die der Überentwicklung. Die Menschheit ist durch die Abschaffung der imperialistischen Hierarchien scheinbar wiedervereinigt worden: in Wirklichkeit existiert die Menschheit als solche nur in einem Sinne, wobei sie zugleich in tendenziell unvereinbare Massen gespalten ist. Im Raum der Weltwirtschaft, der effektiv der der Welt-Politik und der Welt-Ideologie geworden ist, ist die Trennung in Untermenschen und Übermenschen eine strukturelle, aber höchst instabile Gegebenheit. Früher war der Begriff Menschheit nur eine Abstraktion. Aber auf die Frage »Was ist der Mensch? «, die – sei es auch in noch so verzerrten Formen – im rassistischen Denken weiter besteht, gibt es heute keine Antwort, die nicht von dieser Spaltung durchdrungen wäre.8

 

Was ist daraus zu schließen? Die von mir erwährten Verschiebungen gehören zu dem, was wir in Anlehnung an Nietzsche die heutigen Umwertungen des Rassismus nennen könnten, und sie betreffen die allgemeine Ökonomie der politischen Gruppierungen der Menschheit sowie deren imaginäre Geschichte. Sie bilden die von mir so genannte singuläre Geschichte des Rassismus, die die Typologien relativiert und die angesammelten Erfahrungen umarbeitet, und zwar gegenläufig zu dem, was uns als die »Erziehung der Menschheit« gilt. In diesem Sinne ist es entgegen einem der konstantesten Postulate der rassistischen Ideologie nicht die »Rasse«, die eine biologische oder psychologische »Erinnerung« der Menschen ist, sondern der Rassismus, der eine der dauerhaftesten Formen der historischen Erinnerung der modernen Gesellschaften darstellt. Es ist der Rassismus, der ständig die imaginäre »Verschmelzung« der Vergangenheit und der Gegenwart bewerkstelligt, in der sich die kollektive Wahrnehmung der menschlichen Geschichte entfaltet.

Aus diesem Grund ist die fortwährend ins Spiel gebrachte Frage der Nichtreduzierbarkeit des Antisemitismus auf den kolonialistischen Rassismus schlecht gestellt. Sie waren nie ganz unabhängig voneinander, sie sind nicht unveränderlich. Sie haben eine gemeinsame Herkunft, die sich auf unsere Analyse ihrer früheren Formen auswirkt. Manche Spuren verdecken ständig andere, stellen jedoch auch deren Unausgesprochenes dar. So hat die Gleichsetzung des Rassismus mit dem Antisemitismus und speziell mit dem Nazismus eine Alibifunktion: sie gestattet es, den rassistischen Charakter der gegen die Immigranten gerichteten »Fremdenfeindlichkeit« zu leugnen. Aber umgekehrt ist die Verbindung des (scheinbar »überflüssigen«) Antisemitismus mit dem Rassismus gegenüber den Immigranten im Diskurs der sich heute in Europa entwickelnden fremdenfeindlichen Bewegungen nicht der Ausdruck eines generischen Antihumanismus, einer Struktur der permanenten Ausgrenzung des »Anderen« in all ihren Formen, und auch nicht einfach der passive Effekt einer konservativen politischen Tradition (die man nationalistisch oder faschistisch nennt). Sie organisiert das rassistische Denken in einer viel spezifischeren und »pervertierteren« Weise, indem sie ihm seine bewussten und unbewussten Modelle liefert: der eigentlich unvorstellbare Charakter der nazistischen Ausrottungspolitik nistet sich so im heutigen Komplex ein, um hier den metaphorischen Hintergrund für den Ausrottungswunsch abzugeben, der auch dem antitürkischen oder antiarabischen Rassismus innewohnt.9

Das Feld des Nationalismus

Kommen wir nunmehr auf die Verbindung von Nationalismus und Rassismus zurück. Und beginnen wir mit der Erkenntnis, dass die Kategorie Nationalismus in sich mehrdeutig ist. Das liegt zunächst am gegensätzlichen Charakter der historischen Situationen, in denen sich nationalistische Bewegungen und Politikformen herausbilden. Fichte oder Gandhi sind nicht Bismarck, Bismarck oder de Gaulle sind nicht Hitler. Dennoch können wir nicht durch eine einfache intellektuelle Entscheidung den Effekt der ideologischen Symmetrie ausschalten, der auf die antagonistischen Kräfte durchschlägt. Es ist durch nichts gerechtfertigt, den Nationalismus der Herrschenden und den Nationalismus der Beherrschten, den Nationalismus der Befreiung und den Nationalismus der Eroberung einfach gleichzusetzen. Aber dabei dürfen wir nicht übersehen, dass es ein Element gibt – und wäre es nur die Logik einer Situation, die strukturelle Einbindung in die Politikformen der heutigen Welt – das dem Nationalismus der algerischen FLN und dem der französischen Kolonialarmee, dem Nationalismus des ANC und dem der Buren gemeinsam ist. Im äußersten Fall heißt das: diese formale Symmetrie hat uns wiederholt eine schmerzhafte Erfahrung gebracht: das Umschlagen der Befreiungsnationalismen in Beherrschungsnationalismen (so wie wir die Erfahrung des Umschlagens der sozialistischen Revolutionen in staatliche Diktaturen gemacht haben), das uns immer wieder vor die Frage gestellt hat, welches repressive Potenzial in jedem Nationalismus steckt. Bevor der Widerspruch in den Worten ist, ist er in der Geschichte selbst.10

Warum erweist sich die Definition des Nationalismus als so schwierig? Zunächst, weil dieser Begriff niemals für sich steht, sondern immer in einer Kette auftritt, deren zentrales und zugleich schwaches Glied er ist. Diese Kette wird ständig (je nach den Modalitäten einer Sprache) um neue Zwischen- oder Extrembegriffe erweitert: staatsbürgerliche Gesinnung, Patriotismus, Populismus, Ethnismus, Ethnozentrismus, Fremdenfeindlichkeit, Chauvinismus, Imperialismus, Jingoismus … Ich möchte wetten, dass niemand in der Lage ist, diese Bedeutungsunterschiede eindeutig und endgültig zu fixieren. Aber es scheint, als seien sie in ihrer Gesamtbedeutung recht einfach zu interpretieren.

Das Verhältnis Nationalismus–Nation zielt im Kern darauf ab, einer »Realität«, der Nation, eine »Ideologie«, den Nationalismus gegenüberzustellen. Dieses Verhältnis wird jedoch sehr unterschiedlich wahrgenommen, da ihm mehrere ungeklärte Fragen zugrunde liegen: Ist die nationalistische Ideologie der (notwendige oder zufällige) Reflex der Existenz der Nationen? Oder sind es die Nationen, die sich ausgehend von nationalistischen Ideologien konstituieren (wobei diese möglicherweise nach Erreichung ihres »Ziels« transformiert werden)? Muss die »Nation« selbst – und diese Frage hängt natürlich mit den vorausgegangenen zusammen – vorrangig als ein »Staat« oder als eine »Gesellschaft« (eine Gesellschaftsformation) betrachtet werden? Lassen wir erst einmal diese Diskussionen sowie die Varianten beiseite, die sich durch die Einführung von Begriffen wie staatliches Gemeinwesen, Volk, Nationalität etc. ergeben.

Was nun das Verhältnis von Nationalismus und Rassismus betrifft, ist seine Grundbedeutung die, dass eine »normale« Ideologie und Politik (der Nationalismus) einer »extremen« Ideologie und einem »extremen« Verhalten (dem Rassismus) gegenübergestellt wird, sei es, um den Gegensatz zu betonen, sei es, um aus dem einen die Wahrheit des anderen zu machen. Auch hier tauchen sogleich Fragen und andere begriffliche Unterscheidungen auf. Sollte man nicht, anstatt die Reflexion auf den Rassismus zu konzentrieren, vorrangig die »objektivere« Alternative Nationalismus/Imperialismus untersuchen? Aber aus dieser Gegenüberstellung ergeben sich wiederum andere Möglichkeiten: dass der Nationalismus selbst beispielsweise die ideologisch-politische Auswirkung des imperialistischen Charakters der Nationen oder ihres Weiterbestehens in einem imperialistischen Zeitalter und einer imperialistischen Umgebung Ist. Man kann die Kette noch komplizierter gestalten, indem man solche Begriffe wie Faschismus und Nazismus mit den daran anknüpfenden Fragen einführt: sind beide Nationalismen? Imperialismen?

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