Lang lebe die Königin!

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Lang lebe die Königin!
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Esmé Lammers



Lang lebe die Königin!





Aus dem Niederländischen  von Beate und Arnica Esterl







Mit Illustrationen  von Annemarie van Haeringen










Verlag Freies Geistesleben






Für die kleine Geena







Max Euwe, meinem Großvater, gewidmet





Bei folgenden Menschen will ich mich bedanken für ihre Inspiration, ihre Ratschläge und ihre Unterstützung: Hans Böhm, Caroline Euwe, Laurens Geels, Maarten van der Gugten, Liesbeth ten Houten, Jacolien Kingmans, Riana Scheepers und Elsemijn Teulings.






Diese Geschichte handelt von einem Mädchen namens Sara und von einer Königin. Nicht von einer normalen Königin wie die Königinnen in Holland oder England, sondern von einer Schachkönigin. Vielleicht glaubst du, dass eine solche Königin schrecklich langweilig oder streng ist, aber du wirst bald sehen, dass sie lieb ist und weise und dass ihre Augen immer lachen.







Die Geschichte fängt an, als Sara gerade acht Jahre alt geworden ist. Sie will in der Schule nicht lernen, vor allem, weil sie immer schlechte Noten bekommt. Und sie hat noch nie von der Schachkönigin gehört. Sie weiß also auch nicht, dass diese Königin ihre beste Freundin werden wird und dass sie zusammen Schach spielen lernen werden und dass sie sogar ihren Vater …







Nein, das werde ich jetzt nicht verraten, ich werde der Reihe nach erzählen. Es fing alles damit an, dass Sara einen Aufsatz über ihren Vater schreiben sollte.






1



Vielleicht merkt der Lehrer nicht, dass der Aufsatz gar nicht von meinem Vater handelt, dachte Sara. Sie hoffte jedenfalls, er werde nicht danach fragen. Denn sonst würde Mariette, das Mädchen in der Bank vor ihr, sich sofort umdrehen und anfangen zu fragen:



«Wo wohnt denn dein Vater? Warum wohnt er nicht bei euch? Wann hast du ihn das letzte Mal gesehen?»



Sara wusste dann nie, was sie antworten sollte.



Die Kinder glaubten, dass sie es nicht hörte, aber Sara merkte schon, wie sie die Köpfe zusammensteckten und tuschelten:



«Sara hat keinen Vater.»



«Saras Vater will nicht bei ihr wohnen.»



Weil sie von ihrem Vater so gut wie nichts wusste, hatte Sara einen Aufsatz über ihren Großvater geschrieben.



Seit drei Jahren lebte sie mit ihrer Mutter bei ihm in dem großen Haus. Kurz vorher war ihre Großmutter gestorben, und der Großvater war traurig und einsam und kümmerte sich kaum noch um sich selbst. Da meinte Saras Mutter, dass es auch für Sara netter wäre, nicht immer allein zu sein, wenn sie selbst zur Arbeit ging. Und so zogen sie in das große Haus.



Sara hatte versucht, einen guten Aufsatz zu schreiben. Sie erzählte, dass «er» früher als Kapitän zur See gefahren war, jetzt aber immer zu Hause blieb (weil er pensioniert worden war, aber das schrieb sie lieber nicht dazu), und dass «er» das ganze Haus mit Kisten, Figuren und Schifffahrtsgeräten voll gepackt hatte, damit es noch ein wenig so aussah, als ob er auf einem Schiff wohnte. Sie schrieb auch, dass «er» fast den ganzen Tag in seinem Arbeitszimmer saß und an einem Stammbaum arbeitete. Sie erklärte sogar, dass ein Stammbaum eine lange Liste mit den Namen der Familienmitglieder ist. Alle standen sie darauf: Sara, ihre Mutter und darüber Saras Großvater und Großmutter und darüber deren Vater und Mutter und Geschwister.



An einigen Stellen des Stammbaums stand ein Fragezeichen, und das bedeutete, dass «er» nicht wusste, wie die Leute hießen. Wo der Name von Saras Vater hätte stehen sollen, war auch ein Fragezeichen. Das hatte sie aber lieber nicht in dem Aufsatz geschrieben. Nirgends hatte sie in dem Aufsatz gelogen. Sie hatte immer nur «er» geschrieben und niemals «mein Vater».



Die Aufsätze der anderen Kinder trugen den Titel: «Mein Vater». Über Saras Aufsatz stand: «Wer ist er?»



«Dein Vater wird sich freuen, Mariette!», sagte der Lehrer freundlich und gab Mariette ihren Aufsatz zurück. Rechts oben stand eine große Eins. Mariette schaute sich voller Stolz um. Der Lehrer kam zu Sara. Als Erstes sah sie, dass der ganze Aufsatz mit roten Korrekturen voll gekritzelt war. Darüber sprang ihr eine Vier förmlich in die Augen. Sara nahm das Blatt und wollte es gleich wegstecken, aber der Lehrer blieb stehen.



«Handelt der Aufsatz von deinem Großvater, Sara?», fragte er.



Er hatte es also gemerkt. Sara nickte.



«Ist das der Großvater, der sagt, dass du manche Dinge gar nicht zu wissen brauchst, weil du sie nachschlagen kannst?»



Sara spürte, wie die Kinder sie anstarrten.



«Es ist eine gute Geschichte, Sara. Nur schade, dass du so viele Schreibfehler gemacht hast, nicht wahr?» Der Lehrer schaute sie ernst an. Sara beugte sich über den Aufsatz, und der Lehrer ging weiter.



«Zeig mal her!» Mariette hatte sich tatsächlich schon wieder umgedreht.



Zögernd schob Sara das Blatt zu ihr hin.



«Mensch, so viele Fehler! Ich würde nie wagen, meinem Vater so was zu zeigen», sagte Mariette. Plötzlich sah sie Sara scharf an. «Aber du hast doch gar keinen Vater!», schrillte ihre Stimme durch die Klasse.



Sara riss ihr den Aufsatz aus den Händen.



«Klar habe ich einen Vater!»



«Ach ja, und wo ist er denn?»



«In Südafrika.»



«In Südafrika? Das kann doch gar nicht sein, dort sind alle Menschen schwarz.» Mariette drehte sich zu ihrer Nachbarin. «Siehst du, sie lügt wie gedruckt.»



Sara biss sich auf die Lippen. Tränen schossen ihr in die Augen.



Sara hatte nicht gelogen, als sie sagte, dass ihr Vater in Südafrika lebte. Das hatte ihre Mutter ihr selbst erzählt. Aber die Mutter sprach nur ganz selten darüber. Sara hatte schon öfter nach ihrem Vater gefragt, aber meistens wimmelte ihre Mutter sie ab. Nur das eine Mal, als Sara gesagt hatte, dass ihr Vater dann wohl tot sei, war ihre Mutter sehr erschrocken und hatte ihr versichert, dass er nicht tot war, sondern in Südafrika lebte.



Sara wusste gar nicht, wo Südafrika lag. Sie fragte ihren Großvater, und er zeigte es ihr auf dem großen Globus, der in seinem Arbeitszimmer stand. Eins war klar: Südafrika war weit weg!



Sara fürchtete, dass ihre Mutter böse würde, wenn sie weiter fragte, und deshalb hatte sie sich am nächsten Tag selbst auf die Suche gemacht.



Im Schlafzimmer ihrer Mutter stand eine große Überseekiste, und die hatte sie heimlich aufgeschlossen. Kunterbunt lagen die Sachen darin verstreut. Ein geblümtes Kleid, eine alte Handtasche, ein Schminkköfferchen, Briefe und Fotos. Die Fotos zeigten ihre Mutter als Stewardess und mit Freundinnen auf einer sonnigen Terrasse, und auf einem Bild war sie noch ganz jung und stand an der Reling auf Großvaters Schiff.



In einem dünnen, knisternden Umschlag voll mit verwischten Stempeln hatte sie noch ein Foto entdeckt. Es zeigte die Mutter neben einem Mann, den Sara nicht kannte. Sie standen vor einem großen Brett mit weißen und schwarzen Feldern. Auf dem Brett waren Figuren aufgeklebt. Sara konnte ein Pferd erkennen und einen Turm und Soldaten und auch eine kleine Krone.



Dann hatte sie sich den Mann genau angeschaut. Er hatte den Arm um Mutters Schultern gelegt und blickte ernst drein, als müsse er eine schwierige Aufgabe lösen. Ihre Mutter sah gar nicht ernst aus, sie lächelte vielmehr ganz fröhlich. Sara wünschte sich, der unbekannte Mann auf dem Foto wäre ihr Vater.



Sara schaute auf die kleine Uhr, die im Klassenzimmer über der Tür hing. Fast zwölf Uhr. Endlich fort, fort aus der Klasse! Sie malte das Bild von den Vögeln auf dem Schulhof schnell fertig. Das war das Einzige, was sie an diesem Vormittag getan hatte. Was sie nach der Schule anfangen sollte, wusste sie noch nicht. Ihre Mutter arbeitete im Friseursalon, und ihr Großvater war mit seinem Stammbaum beschäftigt. Aber draußen war es immer noch besser als in der Klasse, draußen fragte keiner, wie viel zwölf mal drei ist.



Sie schob das Heft in ihre Schultasche. Der Lehrer klatschte in die Hände, und alle Kinder standen auf, Sara auch.



«Sara, bleib bitte noch kurz da.» Schwer klang seine Stimme zwischen den lärmenden Kinderstimmen.



Sara hoffte, dass sie sich verhört hatte, und lief an den Tischen entlang zur Tür. Aber die Hand des Lehrers hielt sie zurück. «Sara, ich muss mit dir reden.»



Der Schulhof war jetzt voller Kinder, die Fußball spielten oder umherrannten. Ihre Stimmen ertönten aus der Ferne.



In dem leeren Klassenzimmer setzte der Lehrer sich ihr gegenüber.



«Du schreibst immer wieder schlechte Noten, Sara.»



Sara wusste schon lange, dass sie schlechte Noten hatte. Nur nicht im Zeichnen, da bekam sie eine Zwei! Der Lehrer lächelte ein wenig und sagte, dass ihr das nicht viel nützen würde. Wenn sie so weitermachte, müsste sie sitzen bleiben. «Ich glaube nicht, dass deine Mutter sich darüber freuen wird.»



Nein! Darüber würde ihre Mutter sich bestimmt nicht freuen!



Der Lehrer reichte ihr einen Umschlag.



«Hier ist ein Brief für deine Mutter. Ich habe ihr geschrieben, dass du ein paar zusätzliche Aufgaben machen musst, sonst kann ich dich nicht versetzen.»



Sara verstaute den Brief in ihrer Schultasche und stand auf. Wie sollte sie denn bessere Noten schreiben?



Jetzt machte der Lehrer ein strenges Gesicht.



«Du denkst: Lass den Lehrer nur reden, ich tue nur, wozu ich selbst Lust habe. Aber das geht so nicht länger, Sara. Das wirst du doch verstehen.»



Nein, Sara verstand das nicht. Die meinten alle, sie wolle absichtlich nicht lernen. Aber das stimmte nicht. Sie hätte so gerne gute Noten …

 



Sara rannte aus der Klasse. Der Lehrer versuchte noch, sie aufzuhalten, aber sie war zu schnell.



Schon seit Anfang des Schuljahres war es ihm schwer gefallen, mit ihr zu reden. Er hatte zum Beispiel einmal nach ihrem Vater gefragt, aber aus der rätselhaften Antwort konnte er nur entnehmen, dass der Vater nicht bei der Familie wohnte. Das war an sich nicht so ungewöhnlich, so war es auch bei anderen geschiedenen Eltern. Und dennoch … Andere Väter kamen manchmal zu einem Elternabend oder einem Schulfest, und sogar Väter, die im Ausland wohnten, besuchten ihn irgendwann. Aber Saras Vater hatte er noch nie gesehen. Seltsam!



Als Sara über den Schulhof lief, waren die meisten Kinder nach Hause gegangen, nur ein paar Jungen spielten Fußball. Die Vögel, die während der Schulstunden die Samen aus den Ritzen zwischen den Steinplatten herauspickten, saßen hoch oben in den Bäumen.



Das Dorf, in dem Sara lebte, war klein. Man konnte sich kaum verirren. Nach fünf Minuten kam man bestimmt an eine Stelle, wo man schon einmal war. Am Dorfplatz, wo auch die Kirche stand, lagen einige Läden. Dort hatte Saras Mutter vor drei Jahren einen Friseursalon gekauft. Der Laden war fast immer voll, und deshalb musste sie viel arbeiten. Sie kam meistens erst spät abends nach Hause und verließ morgens als Erste das Haus. Sara sah ihre Mutter fast nur beim Abendessen.



Sie dachte sich ein Spiel aus: Wenn sie auf den Rand einer Steinplatte trat, musste sie nach Hause, blieb sie aber in der Mitte, dann durfte sie zu ihrer Mutter in den Friseurladen. Wenn mehr als fünfzig Platten in der Straße waren, die sie entlanglief, dann würden wenig Kunden im Friseurladen sein und ihre Mutter würde Zeit für sie haben. Sie würde sogar eine Tasse Tee bekommen und einen Keks. Sara wusste, dass es im Laden köstliche Kekse gab, Spritzgebäck, das auf der Zunge zerging, so dass es schmeckte, als ob man hundert Kekse auf einmal aß. Zu Hause gab es auch Kekse, aber die waren hart und trocken, weil ihr Großvater sonst die ganze Keksdose auf einmal leer aß.



Nur wenn sie wirklich nirgends den Rand der Platten berührte, durfte sie zu ihrer Mutter.



Sie bog um die Ecke. Ein Glück, sie hatte auf dem Gehweg fünfundachtzig Platten gezählt. Ihre Mutter würde Zeit haben.



Sara hatte langes dunkelblondes Haar, und in der Frühlingssonne glänzte es wie Gold. Es tanzte auf ihrem Rücken, während sie von einer Platte zur nächsten hüpfte. Sie musste gut aufpassen, denn die Straße war voller Menschen, die sie aus dem Gleichgewicht bringen konnten.



Geschickt wich sie den Leuten aus und erreichte das Ende der Straße, ohne auch nur einmal auf den Rand einer Platte zu treten. Fast hatte sie den Friseurladen erreicht. Nur noch diese Straße entlang und dann auf die andere Seite und dann um die nächste Ecke.



Sara machte immer größere Schritte, sie schmeckte die Kekse schon …



Da! Sie konnte nicht weiter. Vor ihr auf dem Gehweg standen große Umzugskartons. Sie schaute, ob sie die Straße überqueren könnte, aber drüben war kein Gehweg. Also dann vorsichtig an den Kisten vorbei. Gar nicht so einfach!



Die Umzugskisten standen vor einem Laden. Der Laden war noch leer, nur im Schaufenster hing ein Schild, auf dem VERKAUFT stand. Am Straßenrand stand ein Auto mit einer großen Ladefläche, auf der eine Menge Schachteln, Möbel und Spielsachen gestapelt waren. Jemand stöberte darin herum.



Sara betrachtete ein hölzernes Schaukelpferd, das aus dem Autofenster ragte. Sie ging näher heran. Da erschrak sie, denn ein Junge kam hinter dem Auto hervor. Er war blond und etwa so alt wie sie. Er trug eine karierte Mütze und eine Brille und wankte unter der Last einer viel zu großen Schachtel auf den Laden zu. Dann verlor er das Gleichgewicht und taumelte.



«Pa-haps! Pa-pa!»



Sara schaute in den Laden. Alles blieb still.



Der Junge schwankte noch mehr. Sara wollte zu ihm hinrennen, aber sie sollte doch nicht auf die Ränder …



Die Schachtel fing an zu rutschen und stieß dem Jungen die Brille von der Nase. Die Brille flog durch die Luft und schlug auf das Straßenpflaster. Sara vergaß, was sie sich vorgenommen hatte, und rannte auf ihn zu, quer über mehrere Plattenränder.



Aber es war schon zu spät, die Schachtel fiel mit einem dumpfen Knall auf das Pflaster. Und mit diesem Knall verschwand der köstliche Geschmack von butterweichen Keksen aus ihrem Mund.



Der Vater des Jungen hatte den Knall auch gehört und rannte herbei. Er sah die beiden Kinder auf dem Gehweg sitzen und betreten auf die Spielsachen blicken, die aus der Schachtel gefallen waren. Besorgt hockte er sich neben seinen Sohn.



«Victor, wie geht es dir? Ist dir schwindelig?»



Victor schüttelte den Kopf. Sara gab ihm seine Brille zurück, und er sah sie aufmerksam an, ohne zu merken, dass sie verlegen wurde.



Sie schaute auf den Boden. Vor ihr auf dem Pflaster lagen wunderschöne kleine Figuren. So schöne hatte sie noch nie gesehen. Vorsichtig hob sie eine auf und sah sie sich genauer an. Es war eine Frau mit lockigen Haaren und einem Krönchen. Sie trug ein langes, weißes Kleid mit goldenen Biesen. Eine Königin!, dachte Sara.



Victor sammelte die Figuren ein und fing an, sie zu zählen. Jetzt sah Sara, dass auch ein Pferd dabei war und ein Turm und Soldaten, die alle genauso hübsch waren. Noch einmal schaute sie sich die Königin an. Noch nie hatte sie ein solch hübsches und liebes Gesicht gesehen. Oder doch? Ja, so sah ihre Mutter auf dem Foto mit dem unbekannten Mann aus.



Und dann geschah etwas Seltsames, etwas ganz Seltsames. Die Königin wurde lebendig und lächelte ihr zu.



Sara traute ihren Augen nicht. Sie zwinkerte ein paar Mal, aber noch immer sah sie es: Die Königin reckte sich und blinzelte ihr zu. Sara wurde warm ums Herz vor Freude.



Victors Vater kam wieder aus dem Laden, und Sara erschrak. Sie hatte völlig vergessen, dass sie draußen auf dem Pflaster saß.



«Willst du hier anfangen, Schach zu spielen?», fragte er.



«Nein, aber ich muss doch nachschauen, ob alle da sind.» Victor stellte die Figuren auf ein quadratisches Holzbrett mit weißen und schwarzen Feldern.



Sara schaute zu. Schach spielen?



«Der weiße König fehlt», sagte Victor. Es waren die ersten Worte, die er an Sara richtete, aber er sprach mit ihr, als hätten sie den ganzen Nachmittag zusammen gespielt.



Sara sah sich suchend um und entdeckte etwas Weißes unter dem Auto. Es war der weiße König, ein großer, kräftiger Mann mit einem kurzen Bärtchen und einem langen Mantel mit roten Streifen und schwarzen Punkten. Auch er trug eine Krone auf dem Kopf. Der König sah bei weitem nicht so fröhlich aus wie seine Frau, fand sie.



Als ob Victor ihre Gedanken gelesen hätte, sagte er: «Der König sieht so böse aus, weil er sich langweilt.»



Sara lächelte und stellte den König zu den anderen.



«Wollen wir spielen?», fragte Victor den König, als wäre es ganz normal, eine Figur so etwas zu fragen. Plötzlich schaute er auf. «Kannst du Schach spielen?», fragte er Sara.



Ich? Schach spielen? Nein, ich kann nicht Schach spielen. Ich kann nichts, dachte sie verzweifelt. Sie schüttelte den Kopf.



«Schade», sagte Victor enttäuscht. «Es ist ein tolles Spiel, das kannst du mir glauben!»



Sara stand auf. Sie wollte nach Hause. Victor wusste ja nicht, dass sie in der Schule immer nur schlechte Noten bekam.



An der Straßenecke drehte sie sich noch einmal um und sah, wie Victor die Schachfiguren in ein Samtetui legte. Sein Vater stand in der Ladentür und schaute ihr nach. Sara drehte sich rasch um und lief davon, um die Ecke und dann den Deich hinauf.



Sie rannte, bis sie zu Hause war.




2



Das große, gelb getünchte Haus, in dem Sara mit ihrer Mutter und ihrem Großvater wohnte, hatte früher als Einziges am Deich gestanden. Später waren dann auf beiden Seiten einige Häuser dazugekommen. Hinter dem Haus war ein kleiner Spielplatz mit einer Schaukel, die aber so schrecklich quietschte, dass Sara sich fast nie draufsetzte.



Ihr Großvater arbeitete jeden Morgen in dem großen Garten, außer wenn es eiskalt war oder stark regnete. Dann arbeitet die Natur für mich, sagte er. Im Garten blühten viele Rosen, weil er die am meisten liebte, knallrote und milchweiße Rosen. Auch ein Apfelbaum stand dort, der grässlich saure Äpfel trug. Einmal hatte Saras Mutter einen Apfelkuchen mit den Äpfeln gebacken, aber der schmeckte so widerlich, dass sogar der Großvater nach einigen Bissen streikte, obwohl er sonst alles aß, weil er wusste, was es hieß, hungern zu müssen.



Im Haus war es still, man hörte nur das Ticken der großen Wanduhr. Die breiten, hölzernen Treppenstufen knarrten, wenn man darauf trat, aber das war noch nichts gegen das Krachen der Dielen auf dem oberen Flur.



Auf halbem Wege blieb Sara auf der Treppe stehen und betrachtete die lebensgroßen, dunklen afrikanischen Statuen, die ihr Großvater oben am Geländer aufgestellt hatte. Oft versteckte sie sich vor den stieren Augen der Figuren, aber heute achtete sie nicht darauf. Sie dachte an die Schachkönigin.



Schach spielen … Wenn das ein Spiel war, vielleicht war es dann nicht so schwer, und sogar sie könnte es lernen. Das Gänschenspiel und Mensch-ärgere-dich-nicht hatte sie schließlich auch gelernt.



Auf Zehenspitzen schlich Sara zu der Rumpelkammer, damit ihr Großvater, der unten in seinem Zimmer an dem Stammbaum arbeitete, sie nicht hörte. Er achtete zwar sowieso nicht auf sie, aber sie machte sich öfters einen Sport daraus, leise zu gehen.



Sie durchstöberte die ganze Rumpelkammer, den Schrank, die Schachteln, alte Koffer und Blechdosen. Es lagen viele Spiele dort, manche waren kaputt oder nicht mehr vollständig, aber ein Schachspiel war nicht dabei.



Sie hörte ihren Großvater in der Küche und ging nach unten.



«Opa, haben wir ein Schachspiel?», fragte sie.



Erstaunt blickte ihr Großvater auf. «Ein Schachspiel?»



Sara nickte.



Großvater setzte sich an den Tisch und öffnete erwartungsvoll die Keksdose. Sie war bis zum Rand gefüllt … mit trockenen, harten Keksen. Enttäuscht nahm er einen. Er grübelte über das Schachspiel nach und sah Sara mit gerunzelter Stirn an, wie immer, wenn er meinte, dass sie etwas Schwieriges gefragt hatte.



«Ich weiß es nicht, Sara. Deine Mutter mag das Spiel nicht mehr. Früher konnte sie sehr gut Schach spielen, aber das war plötzlich vorbei. Sie wollte kein Schachbrett mehr sehen.»



Ihre Mutter, die spielte? Sara hatte noch nie gesehen, dass ihre Mutter spielte. Großvater schenkte den Tee ein, und Sara nahm einen Keks. Sie hoffte, dass er noch mehr erzählen würde.



«Ist in der Dachkammer kein Schachspiel?», fragte er schließlich.



Sara schüttelte den Kopf; sie hatte ja gerade nachgeschaut. Die Falten auf Großvaters Stirn wurden noch tiefer, aber er sagte nichts.



«Warum möchte Mama nicht mehr Schach spielen, Opa?»



Plötzlich lächelte er. «Na ja, die Frauen, nicht wahr? Manchmal sind sie seltsame Wesen.»



Diese Antwort gefiel Sara gar nicht. Sie wollte wissen, warum ihre Mutter nicht mehr Schach spielte. «Ich bin auch eine Frau, Opa», sagte sie empört.



Aber ihr Großvater verstand sie nicht. Er zwickte sie in die Nase. «Das weiß ich. Und wenn ich später groß bin, heirate ich dich.»



Er stand auf, schnappte sich noch einen Keks und verließ die Küche.



Saras Großvater zog sich in sein Arbeitszimmer zurück. Er liebte seine Enkelin sehr und hielt sie für gescheit, ungeheuer gescheit, denn es entging ihr nichts, und sie hatte viel Phantasie. Aber sie konnte auch lästige Fragen stellen und gab sich nicht leicht mit einer Antwort zufrieden. Er merkte wohl, dass sie mehr über ihren Vater wissen wollte, aber er wusste ja selbst nichts. Einige Male hatte er Susan, Saras Mutter, vorsichtig danach gefragt, aber sie hatte geantwortet, dass ihn das nichts angehe.



Er war froh, dass sie bei ihm wohnte, und wollte sie nicht vergraulen, deshalb sagte er lieber nichts. Aber die Frage, weshalb niemand wissen durfte, wer Saras Vater war, beschäftigte ihn mehr, als er zeigen wollte.



Sara fing an, die Königin zu zeichnen. Das sollte die schönste Zeichnung werden, die sie jemals gemacht hatte, und sie nahm sich vor, sie ihrer Mutter zu schenken. Eben wollte sie die kleine Krone zeichnen, als ihr einfiel, dass sie eine solche Krone schon mal gesehen hatte, auch auf einem Brett mit schwarzen und weißen Feldern …

 



Sie rannte die Treppe hinauf, ging in das Zimmer ihrer Mutter, fischte den Schlüssel aus einer Vase auf dem Schrank, schloss die Überseekiste auf und holte den knisternden Briefumschlag mit dem Foto heraus. Das Brett auf dem Foto sah ganz anders aus als Victors Brett, aber nur, weil es viel größer war und wie eine Schultafel hinter ihrer Mutter und dem Mann aufgebaut stand. Sara erkannte das Pferd wieder und den Turm und das Krönchen der Königin. Jetzt wusste sie: Ihre Mutter und der unbekannte Mann standen vor einem Schachbrett.



An diesem Abend kam Saras Mutter müde nach Hause. Sara zeigte ihr die Zeichnung mit der Schachkönigin, aber die Mutter warf nur einen flüchtigen Blick darauf und sagte, Sara solle das Bild Großvater schenken, der werde sich bestimmt darüber freuen.



Sara hoffte, dass es nicht stimmte, was der Großvater ihr erzählt hatte, und sagte zögernd: «Mam, ich habe heute ein wunderschönes Schachspiel gesehen.»



«O ja?», sagte die Mutter kurz und drehte sich zur Spüle um. «Du weißt, dass ich heute Abend nicht zu Hause bin, Sara?»



Sara war enttäuscht. Sie wollte erzählen, wie schön sie das Schachspiel gefunden hatte.



«Wo gehst du denn hin?», fragte sie mürrisch.



«Ich habe doch Gesangsunterricht, wie jeden Mittwoch.» Ihre Mutter räumte die Einkäufe in den Schrank. Als sie sah, dass Sara bedrückt auf die Zeichnung starrte, legte sie einen Arm um ihre Schulter und gab ihr einen Kuss, aber Sara wich ihr aus.



«Komm, kannst du noch das Lied, das ich dir beigebracht habe?»



Sara nickte. Sie sangen es oft zusammen. Sara fand, dass ihre Mutter sehr gut singen konnte.



Die Mutter fing an und tanzte nach dem Takt durch die Küche. Sara sang mit und klatschte in die Hände.



An den Brief des Lehrers dachte sie schon lange nicht mehr. Sie hatte auch nicht gemerkt, dass er ihr aus der Jackentasche gefallen war. Aber ihr Großvater, der durch den Flur ging, um die Zeitung zu holen, entdeckte ihn sofort.



Großvater kam mit dem Brief in die Küche. Sara erkannte den Umschlag gleich und schwieg, auch ihre Mutter hörte auf zu singen. Sie wischte sich die Hände am Küchentuch ab und nahm den Brief. Es dauerte eine Ewigkeit, bis sie ihn geöffnet hatte. Aber dann war klar, dass ihr ganz und gar nicht gefiel, was sie las.



Sara rannte aus der Küche, stürmte die Treppe hinauf und wäre am liebsten noch weiter gelaufen, aber sie kam nur bis in ihr Zimmer. Sie ließ sich aufs Bett fallen und kroch unter die Decke.



Sie hörte, wie jemand die Treppe heraufstieg und ins Zimmer kam.



«Warum hast du mir nicht erzählt, dass du Probleme in der Schule hast?», fragte ihre Mutter und setzte sich auf den Rand des Bettes.



Sara verkroch sich noch tiefer.



«Was ist mit dir los?» Jetzt klang die Stimme ihrer Mutter ärgerlich.



Sara antwortete nicht. Sie wollte alles wissen von dem Schachspiel und von dem Mann auf dem Foto. War das ihr Vater, und wollte die Mutter deshalb nicht mehr Schach spielen? Aber sie wagte nicht zu fragen. Ihre Mutter war sowieso schon böse. Schließlich erzählte sie, immer noch unter der Decke, dass Mariette nicht glaubte, dass ihr Vater in Südafrika wohnte.



«Das ist ihre Sache», antwortete ihre Mutter spitz.



Sara kroch hervor.



«Stimmt es denn?»



«Natürlich stimmt es! Hör zu, Sara, es gibt viele Kinder, die nur eine Mutter haben. Und du hast dazu noch einen Großvater.»



«Aber mein Papa ist doch nicht tot?»



«Nein, aber du bist noch zu jung, um alles zu wissen.» Sie sah Saras unglückliches Gesicht. «Ich verspreche dir, dass ich dir alles erzählen werde, nur jetzt noch nicht.»



«Wann denn?» Sara schöpfte neue Hoffnung: vielleicht schon nächste Woche?



«Wenn du älter bist», sagte ihre Mutter entschlossen.



«Wenn ich neun bin?»



Aber die Mutter hörte nicht mehr zu. Sie faltete den Brief des Lehrers wieder auseinander. «Mal sehen. Du musst Erdkunde nachholen und Rechnen.»



Sara wollte nicht über Schularbeiten reden. Sie schaute auf das bunte Armband am Handgelenk ihrer Mutter. Es stammte aus Südafrika, hatte Opa gesagt.



«Hast du das Armband von ihm bekommen?», fragte sie vorsichtig.



Ihre Mutter steckte den Brief weg und stand auf. «Sara, hör auf, bitte!»



«Du trägst es doch immer, nicht?»



Sara wusste, dass die Mutter das Armbändchen oft betrachtete und damit spielte. Einmal hatte sie es abgelegt, als sie die Küche frisch gestrichen hatte. Als sie es dann wieder anlegen wollte, war es verschwunden. Alle Küchenmöbe

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