Das Quaken der Frösche

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6

Gerhard Matuschak hatte Helga Reselski beim Tanzen kennengelernt.

Der Tag, an dem sie sich zum ersten Mal begegneten, war eigentlich ein Samstagabend wie jeder, an dem Gerd nicht arbeiten musste. Gegen Abend war er in seine Stammkneipe gegangen. Dort traf er sich mit seinen Freunden, alles Jungs aus dem Viertel. Die meisten von ihnen arbeiteten auch auf der Hütte. Einige spielten ebenso wie Gerd in der Fußballmannschaft vom DFV 08.

In der Gaststube roch es nach Bierdunst und dem kalten Qualm von Millionen Zigaretten, die hier im Laufe vieler Jahre in die Luft gepustet worden waren. Die jungen Männer spielten am Kickerautomat und tranken Bier.

Aus einer Musikbox dröhnte Musik. Eine neue Zeit war angebrochen und der Rock‘n‘Roll drückte das Lebensgefühl der jungen Leute aus. Raus aus der miefigen Schnulzenumgebung ihrer Eltern.

Der Wirt hatte sich rechtzeitig darauf eingestellt und im Keller der Wirtschaft ein Tanzlokal eingerichtet. Nach dem Namen der Wirtin nannten sie den Tanzschuppen Elisenburg. Anfangs kam die Musik nur aus Musikboxen, doch schon bald spielten Bands nach dem Vorbild von Bill Haley. Wenn die Musik von unten heraufdröhnte war das das Signal für den Aufbruch. Gerd und seine Freunde gingen hinunter.

Helga war vorher noch nie in der Elisenburg gewesen. Eine Freundin hatte sie überredet, mit ihr zu kommen, denn sie hatte sich mit einem jungen Mann in dem Lokal verabredet.

Als Gerd Matuschak Helga sah verschlug es ihm den Atem. Sie trug ein weites Kleid mit Petticoat und um den Hals ein dünnes, lässig gebundenes Halstuch. Er forderte sie zum Tanzen auf. Sie war überwältigend, hatte schwarzes Haar und perlweiße Zähne. Wenn sie lachte, und sie lachte gerne, strahlte sie.

Gerd Matuschak war lustig und brachte sie immer wieder zum Lachen. Vielleicht gab das den Ausschlag dafür, dass sie sich in Gerhard verliebte. Sie verabredeten sich für den Tag darauf. Das war ein Sonntag und Gerd spielte mit seiner Mannschaft Fußball. Er schlug vor, sie sollte zum Fußballplatz kommen und anschließend könnten sie noch etwas unternehmen. Sie kam. Es war das erste und letzte Mal, dass sie auf einem Fußballplatz war. Als er sie am Spielfeldrand stehen sah gab er sich besonders große Mühe, gut zu spielen.

Nach dem Spiel gingen sie in ein Eiscafe und Gerd spendierte ihr einen riesigen Eisbecher. Als er sie nach Hause brachte haben sie sich zum ersten Mal geküsst.

Zwei Jahre waren sie befreundet, trafen sich so häufig wie möglich. Wenn er keine Mittagschicht hatte, holte er sie am Nachmittag von der Textilfabrik, in der sie als Schneiderin arbeitete, ab. Meistens gingen sie zu ihr nach Hause und ihre Mutter kochte für die beiden.

Nach zwei Jahren fragte er sie, ob sie mit ihm in Urlaub fahren würde. Sie musste ihre Eltern fragen, obwohl sie schon zwanzig Jahre alt war. Etwas ängstlich hatte sie bei ihrer Mutter vorgefühlt, doch ihre Eltern stimmten zu. Sie mochten Gerhard und konnten sich ihn als zukünftigen Schwiegersohn gut vorstellen.

Als der Tag der Abreise gekommen war, brachten sie Gerhard und Helga zum Hauptbahnhof. Mit dem Alpen-See-Express fuhren sie nach Ruhpolding. Von dort würde sie der Vermieter ihres Zimmers in einer kleinen Frühstückspension abholen. Der Zug war brechend voll und sie saßen mit vier anderen, ihnen fremden Personen in einem Liegewagenabteil, das der Reiseveranstalter Touropa für sie reserviert hatte. Ihre Eltern hatten den beiden ein Paket mit Butterbroten, ein paar hartgekochten Eiern und einigen Frikadellen vorbereitet. Aus einer Thermoskanne tranken sie Kaffee. Sie waren glücklich, befreit und ausgelassen wie es nur zwei Menschen sein können, die sich lieben.

Gegenüber ihrem Vermieter, einem Herrn Bichlmaier, gaben sie sich als Herr und Frau Matuschak aus. Das reichte Herrn Bichlmaier und er sagte auch weiter nichts, als nach einer Woche eine Postkarte für Helga Reselski ankam. Die Karte lag einfach nur auf dem Doppelbett, als Gerd und Helga von einer Bergwanderung abends zurück in die Pension kamen.

Die meiste Zeit verbrachten sie damit, auf die umliegenden Almen und Berge zu steigen, und als sie den Gipfel des höchsten Berges dieser Gegend nach fünfstündigem Aufstieg erklommen hatten und das herrliche Panorama vom Gipfelkreuz aus genossen, fiel er plötzlich auf seine Knie und fragte sie, ob sie seine Frau werden wollte. Helga hatte nur gelacht und war ihm in die Arme gefallen.

Ihre Eltern waren überrascht, als sie ihnen eröffneten, verlobt zu sein. Ein Jahr später heirateten sie und ein weiteres Jahr später wurde Ingrid geboren. Das war neunzehnhundertsechzig.

In der Nähe der Hüttensiedlung gab es einen Kleingartenverein. Dort kauften sie eine Parzelle mit einer kleinen Laube. Im Sommer verbrachten sie jede freie Minute in dem Garten, zogen ihr eigenes Gemüse und genossen das Grün, das sich von der Industrie ringsherum nicht verdrängen ließ.

Dieser Kleingartenverein spielte in Gerhard Matuschaks Leben eine große Rolle. Viele Jahre war er Vorsitzender des Vereins und verteidigte die grüne Oase gegen alle Bestrebungen der Industrie und der Stadt, das Gelände für andere Zwecke zu nutzen und die Kleingärtner umzusiedeln. Dabei erwies er sich als sehr geschickter und kompetenter Verhandler. Es war seinem Engagement zu verdanken, dass die Kleingartenanlage nicht angetastet wurde und das honorierten die anderen Kleingärtner, in dem sie ihn jedes Jahr wiederwählten. Obwohl Gerd Matuschak es nicht wollte, betrachteten alle ihn dort als so etwas wie den König des Kleingartenvereins „Feierabend“.

Gerhard Matuschak war schon über siebzig, als er den Vorsitz an einen Jüngeren abgab. Er verkaufte seine Parzelle, da er die Arbeit im Garten nicht mehr machen konnte. Zum Abschied schenkten ihm seine dankbaren Gärtnerfreunde ein Bild mit dem Vereinswappen und einem Porträt von ihm und Helga in Acrylfarbe auf Leinen.

Dieses Bild war der einzige Dekorationsgegenstand, den er in seinem Zimmer hatte.

7

Die Vorhänge konnten nicht verhindern, dass die Sonne durch die Fenster in Bernhard de Winters Schlafzimmer schien. Bernhard reckte sich und überlegte einen Augenblick, ob er noch ein wenig liegen bleiben sollte. Aus noch etwas müden Augen blinzelte er den neuen Tag an und stand auf. Langsam zog er die Vorhänge zurück und öffnete die Türe zu dem Balkon. Seine großzügige Wohnung lag im Dachgeschoss. Von hier oben hatte er einen wunderbaren Blick. Auf dem Golfplatz herrschte schon reger Betrieb. Die Golfer schoben ihre Trolleys über die in sattem Grün leuchtenden Fairways.

Bernhard de Winter blickte auf seine Armbanduhr. Viertel vor neun. Später als sonst.

Das kalte Wasser der Dusche weckte seine Lebensgeister. Es war eine alte Angewohnheit von ihm, sich zum Schluss seines allmorgentlichen Duschbades noch unter den eiskalten Wasserstrahl zu stellen.

Bernhard hatte gute Laune. Das musste an der Sonne liegen. Er könnte wieder zu der Bank gehen. Gerd Matuschak würde sicher auch da sein. Sie würden ein bisschen reden. Bernhard de Winter lachte leise, als er an Gerd und seinen ulkigen Dialekt dachte. Gerd war ja eigentlich ein ganz patenter Kerl, aber ein komischer Vogel. Vermutlich würde er wieder ein Butterbrot, das er in die Bildzeitung eingewickelt hatte, dabei haben.

Nach dem Frühstück änderte er seinen Entschluss. Er würde heute nicht zu der Bank gehen. Auf Bänken hängen nur alte Säcke rum, die außer Dösen und Tauben füttern nichts anderes mehr zu tun haben. Er würde in die Stadt fahren, bei dem schönen Wetter die Frühlingssonne genießen und in einem Straßencafé einen Espresso trinken und den vorbeiflanierenden Menschen zusehen.

Bernhard de Winter zog sein Mobiltelefon aus seiner Hosentasche und wählte eine Nummer.

„Hallo Siegfried.“

Er hörte an das andere Ende der Verbindung.

„Schön, dass Sie direkt am Telefon sind, Siegfried. Holen Sie mich doch bitte hier im Seniorenbunker ab.“

Er nannte die Parkresidenz häufig Seniorenbunker, was dem Haus nicht gerecht wurde, aber seine ablehnende Haltung zu seinem Altenwohnsitz zum Ausdruck bringen sollte.

„Wann?“

„Sagen wir um halb elf.“

Er beendete das Telefonat. Siegfried Breuer war sein Fahrer. Schon seit dreißig Jahren fuhr er ihn. Damals trat er als junger Mann die Nachfolge seines Chauffeurs an, als der in den Ruhestand ging. Mit de Winters Pensionierung vor fünfzehn Jahren blieb Siegfried Breuer sein Fahrer. Ihm stand nach seinem Vertrag ein Dienstfahrzeug inklusive Fahrer bis zu seinem Lebensende zu.

Anfangs hatte de Winter nur selten von diesem Privileg Gebrauch gemacht und war meistens selbst gefahren, doch als er vor drei Jahren wegen Trunkenheit am Steuer seinen Führerschein abgeben musste und nicht mehr wiederbekam, ließ er sich immer von Siegfried Breuer chauffieren.

Pünktlich um halb elf stand Breuer mit der Limousine auf dem Rondell vor dem Eingangsportal zu dem herrschaftlichen Haus. Hohe Ulmen säumten zu beiden Seiten den Kiesweg, der von der Straße durch den Waldpark im englischen Landschaftsstil zu dem dreigeschossigen Gebäude führt, das Ende des 18. Jahrhunderts im klassizistischen Stil auf den Fundamenten der ehemaligen Rentei aus dem 16. Jahrhundert neu erbaut worden war.

Bevor das Haus zum Altersruhesitz für Menschen mit dem erforderlichen Vermögen renoviert und großzügig erweitert worden war, hatte es seit der Zeit der Weimarer Republik als gräfliche Forstverwaltung gedient.

Die anderen Bewohner des Seniorenstiftes hatten sich an das Bild bereits gewöhnt, denn wenn Bernhard de Winter nicht im Altenheim blieb und manchmal mehrere Stunden schweigsam durch den Park lief oder die wenigen Schritte zum Clubhaus des Golfclubs hinüber ging, ließ er sich jeden Morgen nach dem Frühstück von seinem Fahrer abholen. Bernhard wusste, dass er dabei beobachtet wurde und wahrscheinlich würden jetzt seine heimlichen Beobachter darüber spekulieren, wohin Siegfried Breuer ihn wohl bringen würde. Gefragt hatten sie ihn jedoch bislang nie und er selbst hatte nie etwas gesagt.

 

Der Kies knirschte unter Bernhard de Winters Schritten, als er zum Auto lief. Siegfried Breuer hielt ihm die Türe auf und verbeugte sich leicht.

„Guten Morgen Herr Doktor.“

„Guten Morgen, Siegfried. Wie geht’s zu Hause? Alles in Ordnung?“

„Alles bestens, Herr Doktor.“

Bernhard de Winter setzte sich auf den Rücksitz des Autos. Als Siegfried Breuer hinter dem Steuer saß fragte er mit einem Blick in den Rückspiegel.

„Wohin soll´s gehen, Herr Doktor?“

„Fahren Sie mich bitte in die Stadt, Siegfried.“

Langsam setzte sich der Wagen in Bewegung.

8

Dr. Bernhard de Winter stammte aus einer Hugenottenfamilie, die bis zur Aufhebung des Nanter Edikts im Jahre sechzehnhundertfünfundachtzig durch Ludwig XIV. in Nordfrankreich lebte. Nachdem die Hugenotten durch diesen willkürlichen Akt ihre letzten Rechte im katholisch regierten Frankreich verloren hatten, floh die Familie zusammen mit Tausenden anderer Verfolgter. Alles, was sie besaßen, ließen sie zurück und machten sich zunächst auf den Weg in die seit dem Westfälischen Frieden selbständigen und von den verhassten spanischen Katholiken befreiten calvinistischen Niederlande. Dort ließen sie sich in Amsterdam nieder.

Aber schon einige Jahre später folgten sie dem Werben der preußischen Regierung, die enge Beziehungen zu dem Hof der Oranier unterhielten. Der große Kurfürst Friedrich Wilhelm war mit Luise Henriette von Oranien verheiratet gewesen, und während seiner Jahre in Arnheim und Leiden als junger Mann hatte ihn die tolerante Lebensauffassung und Staatsführung in den Niederlanden stark beeinflusst.

Inzwischen war Preußen Königreich geworden. Dieser Kraftakt hatte das Land an den Rand des Ruins gebracht, denn aus der Mark Brandenburg ein Königreich zu machen war beim Kaiser nicht ohne größere Geldzuwendungen möglich gewesen.

Nun war Preußen Königreich, wenn auch von den Großmächten ein wenig belächelt. Aber man wähnte sich auf Augenhöhe mit dem Zaren in Russland, mit Frankreich und den Habsburgern in Wien, und sein König nannte sich nun stolz Friedrich I.

Ökonomisch ging es dem Land allerdings schlecht. Die Wirtschaft lag am Boden. Man brauchte neue Ideen, Fachleute und Entrepreneure. Einwanderer sollten es richten. Das Potsdamer Edikt schuf die rechtliche Grundlage für eine riesige Einwanderungswelle religiös Verfolgter. Mit Flugblättern wurden sie in die preußischen Gebiete gelockt. Mehrjährige Steuerbefreiung, freie Bauplätze und kostenloses Material für den Häuserbau wurde ihnen zugesichert, und natürlich vor allem Religionsfreiheit.

Die Familie de Winter, wie sie sich in Amsterdam jetzt nannte, begab sich auf den Weg in die preußische Provinz und ließ sich nahe der Grenze am Niederrhein in einer Hugenottengemeinde bei Kleve nieder.

Daniel de Winter war von Beruf Goldschmied und Juwelier. Mit großem Geschick vermehrte er Vermögen und Ansehen der Familie, und als sein ältester Sohn als preußischer Offizier in den schlesischen Kriegen gegen Habsburg mehrfach wegen besonderer Tapferkeit ausgezeichnet und befördert wurde, galten die de Winters als niederrheinischer Adel. Daniel de Winter erwarb ein kleines Wasserschloss, das von der Familie bewohnt wurde bis die Nazis sie wegen der Verstrickung in das Attentat auf Adolf Hitler am 20. Juli 1944 enteigneten.

Als Bernhard geboren wurde litten die Menschen in Deutschland unter der Weltwirtschaftskrise. Fast jeder zweite war arbeitslos. Es herrschte bittere Armut und Hunger. Die Familie de Winter war davon nicht betroffen.

Mit acht Jahren schickte, die Eltern Bernhard auf das Internat in Eerde in der Provinz Overijssel in den Niederlanden. Dort könne Bernhard frei von den Zwängen nationalsozialistischer Erziehungsversuche seine schulische Ausbildung erhalten, so dachten die Eltern. Doch sie irrten.

Mit dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht in den Niederlanden wurde das Internat als Hort deutscher vor den Nazis Geflohener geschlossen. Gerade noch rechtzeitig konnte Bernhard von Freunden nach England gebracht werden, wo er bis zum Abitur in der Nähe von Abingdon bei einer befreundeten Familie lebte und zur Schule ging.

Nach dem Krieg kehrte er in das zerstörte Deutschland zurück.

Sein Vater war im Zusammenhang mit dem Widerstand im Juli 1944 von der Gestapo verhaftet worden. Obwohl man ihm nichts nachweisen konnte blieb der Verdacht, dass er mit den Attentätern des 20. Juli sympathisiert hatte und brachte ihn in das KZ Oranienburg. Dort wäre er umgekommen, wenn die Alliierten ihn nicht gerade noch rechtzeitig befreit hätten. Seine Mutter war in den Jahren der Naziherrschaft gealtert. Das Schloss war teilweise zerstört. Ein noch intakter Flügel hatte anfangs der britischen Besatzungsarmee als Sitz der Militärverwaltung gedient und war dann, insbesondere auch, weil Bernhards Vater Opfer des Nationalsozialismus war, an die Familie de Winter zurückgegeben worden. Nach dem Wiederaufbau bewohnte es Bernhards Bruder mit seiner Familie.

Bernhard de Winter immatrikulierte sich in Aachen und studierte Ingenieurwissenschaften. Nach der Promotion war er einige Jahre Abteilungsleiter beim Fraunhofer Institut.

Es hatte alle überrascht, dass er sich trotz seiner Habilitation und einer Berufung an die Universität Erlangen für den Vorstandssessel bei Mannesmann entschieden hatte.

Gemeinsam mit seiner Frau hatte er drei Kinder. Seine älteste Tochter war Ärztin und Richard, sein älterer Sohn, war Ingenieur wie er und hatte ein Unternehmen für Micromechanik gegründet. Georg, der jüngste, war etwas aus der Reihe gefallen. Nach dem Soziologiestudium verschwand er in der Kunstszene und war nach Berlin gezogen, wo er als freier Künstler arbeitete.

Siegfried Breuer hielt das Auto an. Sie hatten ihr Ziel erreicht.

9

Schon von weitem hörte er Gerd Matuschak seinen Namen rufen.

„Hallo Bernd. Bisse auch mal wieder hier. Ich hab jeden Tag auf Dich gewartet. Du wolltest doch bei schönem Wetter kommen.“

„Ja, das stimmt; aber ich musste umdisponieren.“ Bernhard de Winter war überrascht. Er hatte nicht damit gerechnet, dass Gerd Matuschak es so ernst gemeint hatte, als er ihn vor einer Woche fragte, ob er wieder käme. Aber eigentlich hatte er ja Recht. Sie wollten sich wieder treffen, und er war eine Woche lang nicht gekommen.

Ein schlechtes Gewissen hatte er früher nicht gekannt, denn er hatte immer in der festen Überzeugung gelebt, dass sein Handeln richtig war. Aber als er neben der Bank stand und Gerd Matuschak ihn schon von weitem anlachte, überfiel ihn ein eigenartiges Gefühl. Etwas stimmte nicht. Er fühlte sich etwas unbehaglich und nicht im Einklang mit sich selbst wie sonst.

Seine Frau hatte ihm wiederholt Selbstgefälligkeit vorgeworfen, insbesondere dann, wenn er glaubte, an den wenigen Tagen, an denen er abends früher zu Hause war, seine Kinder erziehen zu müssen, aber das tat er mit dem Hinweis ab, dass Frauen für das Wohlgefühl und Männer für die Disziplin zuständig wären. Charlotte hatte dazu ihre eigene Meinung und über diese Frage kam es immer wieder zu heftigen Auseinandersetzungen. Bernhard de Winter betrachtete seine Kinder als kleine Erwachsene und ließ ihnen wenig Spielräume. Er liebte sie sehr, aber er vergaß völlig, ihnen seine Liebe zu zeigen.

Später, als die Kinder schon aus dem Haus waren und Charlotte todkrank war, hatten sie, wie über vieles andere, auch darüber gesprochen. Charlotte hatte ihm gesagt, dass sie ihn immer noch lieben würde, aber dass sie sich von ihm immer gewünscht hat, er würde ihr und den Kindern häufiger seine Gefühle zeigen. Dieses späte Geständnis schockierte ihn und er fragte sie, warum sie es ihm nicht schon früher gesagt hat. Sie schaute ihn nur an, so als ob sie ihn fragen wollte, ob er das nicht selbst wüsste. Er wusste es. Wahrscheinlich hatte sie sich gescheut, weil er wahrscheinlich wie so oft sehr unbeherrscht darauf reagiert hätte.

Von all den Dingen, die sie damals kurz vor Charlottes Tod besprochen hatten, machte ihm dies die meisten Probleme. Er liebte Charlotte, hatte sie sein ganzes Leben lang geliebt, und er liebte seine Kinder. Hatte er als Vater versagt? Er machte sich Vorwürfe wegen seines Verhaltens.

Charlottes Worte waren wie ein Vermächtnis für ihn und es kam immer wieder vor, dass er, wenn er mit seinen Gedanken alleine war und an sie dachte, seiner verstorbenen Frau das Versprechen gab, diese Fehler nicht noch einmal zu machen. Entsprechend verhielt er sich seinen Enkelkindern gegenüber. Ihnen gegenüber nahm er sich alle Zeit, die er hatte, war verständnisvoll und großzügig. Und das galt nicht nur für das Geld, das er ihnen jeden Monat auf ihr Konto überwies.

Charlottes Tod erschütterte Bernhard bis ins Mark. Von einem Tag auf den anderen veränderte sich sein Leben elementar. Zuerst trauerte er, ging täglich zum Grab und sprach zu seiner toten Frau. Er hätte sich nie vorstellen können, so sentimental zu sein. Dann fiel er in das riesige Loch der Einsamkeit. Nachts wachte er schweißüberströmt auf. Immer wieder überfiel ihn derselbe Albtraum. Auf einer Wiese sah er seine Frau. Sie lächelte ihm zu, um dann unvermittelt zu verschwimmen bis sie völlig verschwunden war. Wo er gerade noch Charlotte gesehen hatte umgab ihn Dunkelheit und er fand sich in einem dunklen Schacht wieder, in dem er unaufhaltsam tiefer und tiefer fiel. Angst überkam ihn bis er erwachte und sich in der dämmrigen Umgebung seines Schlafzimmers zu orientieren versuchte. Dann lag er wach im Bett, manchmal bis zum Morgengrauen. Wenn der Schlaf ihn zu übermannen drohte wehrte er sich, sträubte sich einzuschlafen, weil die Angst ihn erschreckte, er könne wieder in den Schacht der Einsamkeit stürzen.

Mit dem Alleinsein kam er nicht zurecht. Es machte ihn krank. Früher war er unnahbar, galt allgemein als arrogant und zynisch; jetzt, nach dem Tod seiner Frau, wurde er geradezu menschenscheu.

In seiner Not suchte er Trost im Alkohol. Als ihm bewusst wurde, dass er alkoholkrank werden würde, wenn er so weitermachte, versuchte er, sich gegen die Sucht zu wehren, doch er schaffte es nicht. Bernhard de Winter betrachtete dies als menschliche Schwäche und verachtete sich dafür. Sein Abgleiten in die Trunkenheit beschädigte sein Selbstwertgefühl und er schämte sich vor sich selbst.

Es dauerte lange, bis er sich wieder gefangen hatte. Er wurde gegenüber seinen Mitmenschen und ihren Schwächen großzügiger. Wahrscheinlich hätte er sich ohne die einschneidenden Erfahrungen nach Charlottes Tod niemals von Gerd in ein Gespräch verwickeln lassen.

Gerd Matuschak kam mit großen Schritten, eine Plastiktüte wild schwenkend, näher. Bernhard de Winter hob seine Hand und winkte ihm zu. Gerd Matuschak löste eine seltsame Stimmung bei ihm aus. Als Gerd die Bank erreicht hatte, legte er die Aktentasche und die Plastiktüte beiseite und schüttelte Bernhard de Winters rechte Hand. Dabei legte er kameradschaftlich seine linke Hand auf Bernhards Schulter. Der zuckte bei der Berührung zusammen, so als ob sich eine Zentnerlast auf ihn gelegt hätte oder er von einem Stromschlag getroffen worden wäre.

„Dat freut mich aber, datte wieder gekommen bis. Ich dachte schon, Du wolltes nix mehr mit mir zu tun haben.“ Er strahlte Bernhard an.

„Wie gehtet Dir, Bernd?“

Etwas überrascht schaute de Winter Matuschak an. War das jetzt reine Rhetorik, wie er sie sein Leben lang immer wieder gehört hatte, oder wirklich ernsthaftes Interesse an seinem Befinden? Bernhard lächelte leicht verkrampft.

„Gut, Gerd, sehr gut.“

Er hörte seine Worte, doch zu seiner größten Überraschung störte es ihn gar nicht, dass er Gerd Matuschak duzte.

„Dat freut mich, Bernd.“ Gerd klopfte ihm auf die Schulter.

„Komm, setz Dich.“ Sie setzten sich.

„Wat hasse denn die ganze Woche so Wichtiges gemacht, datte nich kommen konns?“

Bernhard lehnte sich zurück. Was ging es diesen, ihm eigentlich wildfremden, Menschen an, sich zu erkundigen, was er in den vergangenen Tagen getan hatte.

„Alles Mögliche.“ Die Antwort fiel knapper und abweisender aus, als de Winter es vorgehabt hatte, aber es war ihm fremd, von einem Menschen nach Lebensdetails gefragt zu werden, und es war auch ungewöhnlich für ihn, Einzelheiten aus seinem Leben zu erzählen. Im Übrigen war es ja auch in der Tat nichts Wichtiges, was er in den letzten Tagen getan hatte. Er hatte sich mit Gerd Matuschak nicht treffen wollen weil er Angst hatte, von ihm vereinnahmt zu werden.

 

Gestern schien ihm sein Handeln noch völlig in Ordnung zu sein, doch heute, angesichts der offenen Herzlichkeit, die Gerd Matuschak ihm offensichtlich ohne jegliche Hintergedanken entgegenbrachte, ärgerte es ihn, dass er sein Versprechen gebrochen hatte und trotz des schönen Wetters nicht wie vereinbart zum Treffpunkt erschienen war.

„Dat is aber nicht sehr viel.“

Er sah Bernhard.

„Naja, geht mich ja auch nix an.“

Er kramte etwas verlegen in seiner Aktentasche und entnahm ihr eine Schachtel Zigaretten.

„Ich war gestern Abend kegeln. Mach ich schon seit fünfzig Jahren. Ich bin eines der Gründungsmitglieder von unserem Club. Wir kegeln im Hubertuskrug. Kennsse die Kneipe?“

„Nein. Noch nie gehört.“

„Die is auf der Hauptstraße direkt neben Rewe. Vielleicht bisse da schon mal vorbeigekommen.“ Er machte eine Pause und schaute Bernhard an.

„Vielleicht beim Einkaufen.“

„Nein Gerd. Da war ich noch nie.“

Dass er früher sehr selten und in den letzten Jahren gar nicht mehr Lebensmittel eingekauft hatte, verschwieg er.

„Is ne schöne Kneipe. Gutes Essen und gepflegte Atmosphäre.“

Gerd Matuschak hielt Bernhard die Schachtel mit den Zigaretten entgegen.

„Auch eine?“

Geschickt klopfte er mit dem Finger gegen die Packung, so dass eine Zigarette herauskam. Er hielt Bernhard die Zigarette hin.

„Nein Gerd, ich rauche nicht.“

„Noch nie? Oder aufgehört?“

„Nein, noch nie.“

„Gut so. Is besser als zu rauchen.“

Er zündete sich die Zigarette an und sog den Rauch tief in seine Lunge ein. Dann blies er den Qualm wieder aus, und noch während er durch seinen Mund und die Nase entwich sagte er:

„Ich rauch schon seit ich fünfzehn bin. Die Kumpel auffer Arbeit haben mich verführt. Weisse; die bieten Dir eine an, und irgendwann kaufsse auch ne Packung weile ja nich immer nur schnorren wills. Ja, und dann bisse dran. Dann kannsse nicht mehr zurück.“

„Wie viele Zigaretten rauchst Du denn so am Tag?“

„Eine Packung. Früher hab ich mehr geraucht. Aber jetz sind die Zigaretten so teuer geworden. Da musse als Rentner schon ein bisschen aufpassen. Aber ne Schachtel am Tag; Dat kommt hin.“

Er schaute Bernhard de Winter an, der ihn ein wenig verständnislos ansah.

„Natürlich nich beim Kegeln. Du weissja wie dat geht. Ein Pilsken und nochen Pilsken, und dann ma en Schnaps zwischendurch. Da raucht man automatisch mehr.“

Er lachte, und sein Lachen endete in einem heftigen Hustenanfall.

„Das hört sich aber nicht gut an.“

„Hab ich schon Jahre. Aber der Arzt hat gesagt, is alles in Ordnung.“

Bernhard lehnte sich zurück.

„Wie alt bist Du eigentlich, Gerd?“

„Neunundsiebzig, also werd ich. Im nächsten Monat. Am neunzehnten. Und Du? Wie alt bis Du?“

Bernhard atmete einmal durch.

„Dreiundachtzig.“

„Dafür hasse Dich aber gut gehalten.“ Er machte eine bewundernde Bewegung.

„Siehsse nicht nach aus.“ Er lachte.

„Könns glatt für einundachtzig durchgehen.“

Er lachte erneut, doch ein noch kräftigerer Hustenanfall als der zuvor beendete sein Lachen.

Bernhard musste lachen, obwohl der krächzende Husten, unter dem Gerd sich zusammenkauerte, dafür sicher keinen Anlass bot. Gerd versuchte immer wieder, den Husten zu unterdrücken, doch je mehr er sich anstrengte desto heftiger übernahm der Husten das Kommando über ihn. Es musste ihm doch wehtun, so zu husten, dachte Bernhard, doch Gerd machte immer weiter. Er lachte und hustete und lachte und hustete. Und Bernhard musste mitlachen. Wie lange hatte er schon nicht mehr so herzhaft gelacht?

Nach einer Weile beruhigte sich Gerds Husten wieder. Er setzte sich wieder aufrecht auf die Bank und spuckte aus.

„Bah. Dieser Husten macht mich noch fertig.“

„Hast Du das oft?“

„Nicht so oft. Ab und zu. Aber wie ich schon sagte; der Arzt hat geröntgt und gesagt, alles in Ordnung.“

„Kannst Du nicht aufhören?“

„Womit?“

„Mit dem Rauchen. Davon hast Du doch den Husten.“

„Hab ich schon tausendmal versucht. Nach ein paar Tagen hab ich aber immer wieder angefangen. Weisse, ich rauch schon so lange. Und auffer Hütte hamse alle geraucht. Auch bei der Arbeit.“

Er schaute Bernhard de Winter an, doch als der nichts sagte, fuhr er fort.

„Ich war früher mal auffer Hütte, weisse. Zuerst als Maurer im Stahlwerk und nach meinem Unfall als Pförtner.“

„Du hattest einen Unfall?“

„Ja. Ich bin vier Meter abgestürzt. Von einem Gerüst. Wir mussten eine Reparatur durchführen. War schwierig und wir hatten wenig Zeit, denn Stillstand kostet die Firma Geld, und der Konverter stand. Aber wer da nich gearbeitet hat, der kann sich dat nich vorstellen. Wenn eine Störung war mussten wir raus. Und das zu jeder Zeit. Wir hatten Früh- Mittag und Nachtschicht, und das an jedem Tag. Auch Samstag und Sonntag. Naja, is ja auch egal. Is ja auch schon lange her. Aber wat ich sagen wollte. Da hamwer alle geraucht. War ganz normal.“

„Du wolltest noch von dem Unfall erzählen.“

„Ja, genau. Ich bin dat Gerüst runtergefallen. Der Arzt sagte, ich hätt unheimliches Schwein gehabt, weil ich so durchtrainiert wär. Ich hab nämlich damals Fußball gespielt. Bei 08. Kennsse doch, oder?“

„Nein, leider nicht Gerd. Ich bin in der Nähe von Kleve aufgewachsen.“

„Ach so. Naja, is ja auch egal. Ich lag dann sechs Wochen im Krankenhaus mit nem zertrümmerten Oberschenkel und Prellungen. Kannsse Dir gar nich vorstellen. Ich war blau am ganzen Körper. Nach sechs Wochen kam ich zur Kur. Da hab ich mich gut erholt; aber als Maurer arbeiten ging nich mehr. Ich war schwerbehindert, sechzig Prozent. Mit vierzig Jahren. Dat musse Dir ma reinziehen. Schwerbehindert mit vierzig. Nix mehr mit Fußball. Als ich dem Werksarzt meine Unterlagen gebracht hab hatter gesagt, dat ich als Maurer nich mehr arbeiten kann. Ich wurd dann Pförtner am Tor Eins. War Scheiße. Weisse, dat is ja auch eine Frage vom Geld. Als Maurer hab ich drei Schichten gearbeitet mit Samstag- und Sonntagzuschlägen. Und dann war ich Pförtner. Klar, war keine schwere Arbeit, aber ich hatte auch ein kaputtes Kreuz. Naja, wat wollt ich machen; war eben so. Da war ich dann noch achtzehn Jahre. Mit achtundfünfzig bin ich Rentner geworden. Also, ich mein, erst Sozialplan und dann in Rente. Wegen der Schwerbehinderung ohne Abzüge.“

Bernhard de Winter nickte wortlos.

„Ging mir ja noch gut. Als die Stahlkrise war hamse zweitausend Mann entlassen.“

„Entlassen Gerd? Es wurde doch keiner entlassen.“

„Naja, nich direkt rausgeschmissen. Ers ma inne Transfergesellschaft und dann zum Arbeitsamt. Da warn aber welche dabei, die warn ers zweiundfünfzig. Die haben keinen Job mehr gekriegt und für die Rente warnse noch zu jung. Nicht vermittelbar, wie et so schön heißt. Die kriegten dann Sozialhilfe. Schöne Scheiße, sag ich Dir.“

„Wahrscheinlich waren sie nicht qualifiziert genug. Unsere Wirtschaft braucht hochqualifizierte Leute, um den Wettbewerb in der Welt zu bestehen. Oder sie waren vielleicht auch nicht bereit, jeden Tag eine Stunde oder mehr zu ihrer Arbeitsstelle zu fahren. In jedem Fall waren sie doch zuerst einmal versorgt. Viele bekamen doch auch eine gute Abfindung.“

„Dat is ja alles gut und schön, Bernd. Kann ja alles sein. Aber stell Dir vor: Du bis dreißig Jahre bei der Firma, has immer getan, watse von Dir verlangt haben, has dich selbst mit ner Grippe noch zur Hütte geschleppt und dann kriegsse die Papiere. Dat tut schon weh. Ich konnt die alle gut verstehn, wennse auf den Vorstand geschimpft haben.“

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