Das Quaken der Frösche

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Bernhard de Winter war bald schon hinter dem Deich verschwunden. Gerd Matuschak saß noch eine Weile auf der Bank und schaute den Möwen zu. Dann stand auch er auf und ging nach Hause.

De Winter wohnte seit zwei Jahren in einem Altenstift. Nach dem plötzlichen Tod seiner Frau vor vier Jahren hatte er nicht in sein Leben zurückgefunden. Trostlosigkeit umgab ihn. Alles versank in tiefer Trauer um die Frau, mit der er über fünfzig Jahre verheiratet gewesen war. Auf Drängen seiner Kinder ging er in die Seniorenresidenz am Park.

In dem gepflegten und großzügigen Haus konnte er sich seine Individualität und Eigenständigkeit bewahren und in dem ihm eigenen persönlichen Lebensstil seine Zeit verbringen.

Das war ihm wichtig, denn in eine Gemeinschaft einordnen konnte er sich schlecht. Er hatte es auch nie gelernt.

In der Parkresidenz fehlte es ihm an nichts.

Er hatte sich angewöhnt, morgens, noch vor dem Frühstück, den Tag im Schwimmbad zu beginnen.

Meistens frühstückte er alleine mit seiner Zeitung auf seinem Balkon, von dem aus er einen Blick auf den nicht weit entfernt gelegenen Golfplatz hatte. Er war einmal ein begeisterter Golfspieler gewesen, ebenso wie seine Frau.

Jetzt spielte er nur noch ganz selten. Ein alter Freund von ihm überredete ihn schon mal zu einer Runde, und er hatte es auch immer genossen, aber zu regelmäßigem Spielen konnte er sich nicht entschließen. Von Zeit zu Zeit ging er in den Golfclub und aß dort. Manchmal traf er sogar noch einen von den Alten, die früher mit ihm ihre Runde gespielt hatten. Dann gab es immer ganz lustige Gespräche über alte Zeiten und Ereignisse, die er schon lange vergessen hatte.

Meistens saß er jedoch alleine an seinem Tisch, trank einen Espresso und beobachtete das Treiben der jungen Leute.

Es hatte sich nichts geändert zu damals, nur, dass er jetzt über achtzig war und die anderen dreißig Jahre jünger.

Einige seiner alten Freunde waren auch schon gestorben. Er erfuhr es immer von seiner Tochter, denn die Todesanzeigen in der Zeitung las er nicht.

Im Seniorenheim hatte er sich anfangs zum Bridgekurs angemeldet. Als er aber feststellen musste, dass er dabei nur unter Frauen war, ist er nicht mehr hingegangen. Die Frauen waren alle freundlich und lebenslustig, meistens sehr gebildet und, ihrem Alter angemessen, sportlich aktiv. Manche waren von ihrem vor ihnen Dahingeschiedenen reichlich mit Geld versorgt worden, andere hatten in einem erfolgreichen Berufsleben genügend Geld verdient, um sich diesen luxuriösen Lebensabend leisten zu können, und nicht wenige hatten schon als Kind ein Vermögen in die Wiege gelegt bekommen. Gemeinsam war ihnen, dass sie ihre Zeit unbeschwert mit den Dingen verbringen konnten, die ihnen wichtig waren. Einige engagierten sich in sozialen Projekten, andere legten den Schwerpunkt auf Gesundheit und körperliche Fitness und kulturell interessiert waren sie alle.

De Winter war sehr überrascht, als er ihr Alter erfuhr, denn sie sahen alle zehn Jahre jünger aus als sie waren.

Die Frauen hatten im Unterschied zu den Männern, die in dem Heim in der Unterzahl waren, unterschiedliche Grüppchen gebildet, in denen sie ihren gemeinsamen Interessen nachgingen. Die Männer waren dagegen alle Einzelgänger. Es gab kaum gemeinsame Aktivitäten. Jeder lebte für sich; und jeder langweilte sich für sich.

Auch Bernhard de Winter lebte dieses ereignislose Leben. Oftmals reichte es ihm, zu lesen oder mit seinem Notebook im Internet zu surfen, was er ganz gerne tat, doch er erwischte sich immer häufiger dabei, dass er überlegte, wie er den Tag gestalten könnte, und keine rechte Antwort darauf fand.

Sprach man ihn darauf an gestand er es jedoch nicht ein und verwies darauf, dass sein Leben mit vielen Dingen ausgefüllt sei. Als Beispiel führte er dann immer sein Abonnement im städtischen Opernhaus an. Das war auch richtig, denn die Opernaufführungen besuchte er regelmäßig. In den Theatern und Kleinkunstbühnen der Stadt traf man ihn allerdings immer seltener an. Früher, in seinem anderen Leben, hatte er viel Zeit in dieser Szene verbracht, denn Kunst interessierte ihn sehr. Wann immer es sein Kalender zugelassen hat besuchte er gemeinsam mit seiner Frau die Theater. Als einige der kleinen Bühnen in finanzielle Schieflage gerieten engagierte er sich für deren Überleben, gründete einen Verein und sorgte für Sponsoren, mit deren Geld die Szene erhalten werden konnte. Dabei erleichterte ihm seine gesellschaftliche Stellung seine Bemühungen, aber er spendete auch einen fünfstelligen Betrag aus seinem eigenen Vermögen für den Erhalt dieser kulturellen Initiativen.

Die Sonne senkte sich über dem Horizont, und die Bäume warfen lange Schatten auf das Grün der Fairways. Er könnte mal wieder ins Kom(m)ödchen, ins Hundertmeister oder in die Säule gehen. Dort war er seit Charlottes Tod nicht mehr gewesen. Bernhard senkte seinen Kopf und verschränkte die Hände in seinem Schoß. Seine Gedanken fielen in eine Zeit zurück, die er längst vergessen zu haben glaubte. Warum fiel ihm gerade jetzt wieder Charlotte und die Zeit an der Uni ein? Vielleicht weil ihn eine der Pflegekräfte gefragt hatte, was er heute Abend unternehmen würde. Vielleicht aber auch, weil er sich einfach nur nach ihr sehnte.

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Langeweile hatte er damals im Gegensatz zu heute nicht gehabt. Er studierte und lebte in Aachen. Inzwischen waren viele Jahre vergangen. Jetzt war er alt und allein. Ihm fehlte die Lust, ohne eine Begleitung auszugehen. Früher, als seine Frau noch lebte, war das anders. Sie waren ständig unterwegs gewesen. Charlotte, seine Frau, war Kunsthistorikerin und studierte noch Theaterwissenschaften, als sie sich kennenlernten. Er schrieb gerade an seiner Dissertation und bewohnte eine kleine Wohnung in Aachen.

Sie war in einer Familie groß geworden, in der die strengen Regeln, deren oberste war, dem Mann stets widerspruchslos zu gehorchen, nicht galten.

Charlotte und Bernhard hätten unterschiedlicher nicht sein können. Er, konservativ und auf die Besonderheit seiner Herkunft achtend, und sie, unkonventionell, unverfroren frech und provozierend. Es störte sie in keinster Weise, dass die Mitbewohner des Hauses, in dem Bernhard die Wohnung hatte, hinter ihrem Rücken über sie sprachen und sie moralisch minderwertig nannten, weil sie ein halbes Jahr, nachdem sie sich kennengelernt hatten, zu ihm gezogen war, ohne mit ihm verheiratet zu sein.

Sie lebten ungezwungen zusammen, und kümmerten sich nicht um die morschen Moralvorstellungen der Nachkriegsgesellschaft. In ihrer Jugendlichkeit setzten sie sich sogar über bis dahin als unumstößlich geltende Tugenden wie keusche Enthaltsamkeit hinweg.

Charlotte und Bernhard waren ihrer Zeit voraus, denn von dem, was neunzehnhundertachtundsechzig passieren würde, hatten sie zu dieser Zeit noch keine Vorstellung.

Bernhard de Winter hatte lange überlegt, wie er seinen Eltern beibringen könnte, dass er eine Frau heiraten wollte, die sich von allen Zwängen des vorherrschenden gesellschaftlichen Rollenverständnisses von Mann und Frau lossagte, und dies in jedem Augenblick mit ihrem Handeln dokumentierte. Umso überraschter war er, dass seine Eltern Charlotte vom ersten Moment an offen empfingen und in ihre Familie aufnahmen. Sie akzeptierten sogar, dass Charlotte katholisch blieb, bestanden aber darauf, dass die Kinder evangelisch erzogen würden. Charlotte wäre auch konvertiert, denn sie hatte keine konfessionellen Bindungen. Bald darauf heirateten sie und bekamen ihre erste Tochter.

Durch Charlotte veränderte Bernhard sich. Er setzte sich manchmal über seine Konventionen hinweg und löste sich für seinen neuen Lebensentwurf sogar ein wenig von dem Respekt vor seiner eigenen Familientradition.

Insbesondere bei der Erziehung der Kinder traten diese unterschiedlichen Auffassungen zwischen ihm und seiner Frau zutage, aber auch für seine berufliche Entwicklung war Charlottes Denkweise sehr von Vorteil, denn er verstand es vortrefflich, die von ihr vorgelebte unkonventionelle Annäherung an Problemstellungen und Lebensaufgaben mit seiner aus der Verantwortung für die traditionellen Werte seiner Familie erfolgten Erziehung zu verbinden. Bald schon galt er als Querdenker und machte Karriere. Einmal in der Tretmühle des Topmanagements angekommen gerieten die Lebensentwürfe der ersten Jahre bei ihm schnell wieder in Vergessenheit. Die gesellschaftlichen Verhältnisse hatten sich auch verändert. Alles, was er damals in der ersten Zeit mit Charlotte als ein Stück seiner persönlich gelebten Freiheit in einer obrigkeitshörigen und alles reglementierenden Gesellschaft betrachtet hatte, war nun zum Bestandteil des alltäglichen Lebens geworden. Ihm kam es so vor, als hätten die Achtundsechziger ihn um diese Zeit mit ihrem Lebensgefühl betrogen.

Allmählich verkantete er sich wieder und als Charlotte angeboten wurde, Kuratorin am größten Museum der Stadt zu werden, widersetzte er sich anfangs sogar. Er begründete dies damit, dass die Kinder noch zu klein seien. Charlotte ließ sich von diesen Widerständen nicht beeindrucken und nahm kurz darauf die Stelle an.

Sie hatte einen starken Willen. De Winter musste lachen. Ja, den hatte sie.

Er stand auf und schaute aus dem Fenster. Vielleicht sollte er sich aufraffen und wieder einmal etwas unternehmen, doch alleine machte es ihm nicht mehr so viel Freude, auszugehen. Vielleicht kommt Lisa, seine Enkelin, die in Köln studierte, mal wieder vorbei und begleitet mich. Er beschloss, sie bei nächster Gelegenheit anzurufen.

Das Leben in dem Seniorenstift am Park ließ sich wie in einem Fünfsternehotel gestalten. Wenn man nicht auf ärztliche oder pflegerische Hilfe angewiesen war gab es nicht die geringsten Auflagen. Die hätte de Winter im Übrigen auch nicht akzeptiert. Selbst die Einnahme der Mahlzeiten mit den anderen im Gemeinschaftsrestaurant ersetzte er oft und aß in seinem Zimmer. Manchmal sah man ihn eine Woche oder länger nicht im Speisesaal.

 

Fast schien es, dass er die Gemeinschaft meiden wollte, aber es fiel ihm auch schwer, die andere Seite des Lebens in einem Altenheim zu sehen. Das waren all die gebrechlichen alten Menschen, die der Hilfe des Pflegepersonals bedurften und er ertappte sich bei dem ihn erschreckenden Gedanken, er könnte irgendwann auch einmal ohne fremde Hilfe nicht mehr zurechtkommen.

Kontakt hatte er zu keinem. Die aktiven älteren Damen hatten schon mehrfach versucht, ihn in ihren Kreis einzubeziehen, doch er hatte sich ihnen immer entzogen. Manchmal, wenn er seine Einsamkeit besonders stark empfand, und mit dem Gedanken spielte, hinunter zu gehen und sich den anderen Hausbewohnern anzuschließen, überkam ihn Trauer um seine verstorbene Frau, und er begründete seine Zurückhaltung gegenüber den anderen und insbesondere auch gegenüber sich selbst damit.

Wahrscheinlicher war allerdings wohl eher ein Gefühl der Unsicherheit, das ihn zurückhielt. Die Frauen waren jede einzelne und insbesondere auch in der Gruppe sehr selbstbewusst und er kam sich ein wenig lächerlich vor, umgeben von Frauen und ihren Themen, die ihn im Grunde nicht besonders ansprachen. Er konnte auch nicht erwarten, dass sie auf ihn besonders Rücksicht nehmen würden und es war ihm auch nicht verborgen geblieben, dass einige der Frauen kein stärkeres Bedürfnis hatten, ihn in ihren Kreis mit einzubeziehen, weil sie fürchteten, ein Mann könnte ihre Harmonie zerstören. Eine Freundschaft oder gar Partnerschaft mit einer der Frauen einzugehen, und dabei dachte er gar nicht einmal an das Sexuelle, kam für ihn nicht in Betracht, obwohl er sich manchmal schon ausmalte, dass es ganz reizvoll sein könnte, seine Tage mit einer Frau, die gleiche Interessen hatte wie er, zu gestalten.

Es blieb jedoch bei den Gedanken darüber, und so war es nicht verwunderlich, dass er als Sonderling galt und als arrogant verschrien war. Er hatte davon gehört, als eine der Angestellten, die ihm morgens das Frühstück und seine Zeitungen auf sein Zimmer gebracht hatte, davon erzählte. Im ersten Augenblick hatte er sich überlegt, vielleicht doch einmal wieder zu einem der Bridgetreffen oder zu einer der Veranstaltungen, die ständig zur Unterhaltung der alten Menschen stattfanden, zu gehen, doch schon ein paar Stunden später kam ihm dieser Gedanke wie Hohn vor.

Bei diesem Verhalten konnte er mit niemandem ins Gespräch kommen. Unterhaltungen führte er, wenn überhaupt, mit Fremden; Menschen, die er nicht kannte, die ihn nicht kannten, und die nach ein paar Minuten oder auch nach einer Viertelstunde, je nachdem, wie lange die Unterhaltung gedauert hatte, wieder aus seinem Blickfeld verschwanden.

Zufrieden machte ihn das nicht, aber ändern tat er es auch nicht. Manchmal fühlte er sich sogar ein bisschen wohl in seiner „Splendid Isolation“. Unverstanden in seiner Überlegenheit, so kam es ihm vor, doch im Grunde war es nur aufgesetzte Überheblichkeit, mit der er seine Angst, verletzt zu werden, verbarg. Er hatte einen Schutzwall von Verhaltensweisen um sich errichtet, die keiner zu durchdringen vermochte. Als seine Frau noch lebte brauchte er solche Äußerlichkeiten nicht. Doch jetzt waren sie für ihn überlebenswichtig. Sie erhöhten ihn in seinem Selbstbild gegenüber den anderen und gaben ihm das Gefühl, eben nicht einer von ihnen zu sein; ein Rentner, den keiner mehr brauchte, dessen Leben seinen Anker verloren hatte und der in der Anonymität des Banalen zu versinken drohte.

Wenn er jedoch über seine Situation mit dem ihm eigenen analytischen Verstand nachdachte empfand er nur eine tiefe Einsamkeit und Traurigkeit. Manchmal erwischte er sich sogar dabei, dass er mit einer imaginären Person Selbstgespräche führte und ihr sein großes Unglück erzählte. Dann erschrak er und schaute sich um, prüfend, ob jemand Zeuge seines Selbstgespräches gewesen sein könnte.

5

Es war schon Mittag, als Gerd Matuschak vor dem Haus in der Reihenhaussiedlung stand. Er schob sein Fahrrad den schmalen Weg von der Straße zum Hauseingang und stellte es in den dafür vorgesehenen Fahrradständer. Heute war Mittwoch. Das war der Tag, an dem er im Sommer immer das kleine Stückchen Rasen, das hinter dem Haus, eingebettet in einen Schutzwall aus Forsythiensträuchern lag, mähte.

Er erledigte diese Arbeit und noch einige andere gern für seine Kinder. Seine Tochter arbeitete ebenso wie sein Schwiegersohn, so dass ihnen wenig Zeit dafür blieb. Außerdem gab es ihm das Gefühl, nicht ganz nutzlos zu sein, obwohl er seit seiner Pensionierung vor zwanzig Jahren nicht oft gedacht hatte, unnütz zu sein. Im Gegenteil, er hatte sich gefreut, als ihm von der Personalabteilung mitgeteilt wurde, dass er in den Sozialplan käme.

Sein ganzes Leben war er auf der Hütte gewesen. Mit vierzehn hatte er die Volksschule verlassen und eine Lehrstelle als Maurer bekommen. Deutschland lag in Trümmern und musste neu aufgebaut werden. Aber es gab Arbeitskräftemangel. Viele Männer waren im Krieg gefallen oder waren noch in Kriegsgefangenschaft. Die Währungsreform brachte ersten Optimismus und die Hoffnung darauf, dass die Hungerjahre und die Zeit des Schwarzmarktes und Organisierens des nackten Überlebens zu Ende gehen würden. Die Jahre waren bestimmt vom wirtschaftlichen Aufschwung. Seine Mutter arbeitete in der Fabrik und beide hofften darauf, dass der Vater bald aus der Kriegsgefangenschaft zurückkehren würde. Sie mussten lange warten. Zuerst erhielten sie einen Brief, dass er noch lebte. Sie schrieben zurück, ohne jemals erfahren zu haben, ob die Briefe seinen Vater erreicht hatten. Erst nach weiteren zwei Jahren kam die befreiende Nachricht. Vater war auf dem Weg nach Hause.

Als sie ihn eines Tages vom Bahnhof abholten, war er Gerd völlig fremd. Er hatte sich in den sechs Jahren, die sie sich nicht mehr gesehen hatten, sehr verändert, war im Kriegsgefangenenlager gealtert. Seine Mutter hatte zwei Flaschen Bier am Kiosk gekauft und jeder hatte auf die glückliche Heimkehr ein Glas getrunken.

Nach der Lehre arbeitete Matuschak noch ein paar Jahre auf dem Bau. Als er hörte, dass die Hütte Arbeiter suchte und besser zahlte, ging er zur Hütte. Da er Maurer gelernt hatte, wurde er im Stahlwerk eingesetzt und mauerte die Pfannen mit Schamottsteinen aus, damit der flüssige Stahl sich nicht durch die Stahlwand der Pfanne fressen konnte.

In der Halle war es stickig, heiß und staubig. Die schwere Arbeit ging rund um die Uhr. Die Arbeiter arbeiteten in drei Schichten. Samstag, Sonntag, und an den Feiertagen wurde auch gearbeitet. Freie Tage waren nach einem ausgeklügelten Schichtplan verteilt und fielen nur alle paar Wochen einmal auf ein Wochenende.

Ein monotoner Ablauf, der vor nichts Halt machte, nicht vor Wochenenden, nicht vor Familienfesten und auch nicht vor Feiertagen. Und wenn er einmal das Glück hatte, dass sein freier Tag auf einen Sonntag oder Feiertag fiel, versuchte er, trotzdem zu arbeiten. Panzerschicht nannte er das. Je nachdem, um welchen Feiertag es sich handelte, konnte man an einem solchen Tag bis zum Doppelten seines Lohnes verdienen. Das war für ihn sehr reizvoll, denn schließlich sparte er mit seiner Frau für ein Auto. Erst vor einem Jahr hatten sie sich den ersten Fernsehapparat gekauft. Es ging aufwärts. Sie waren zufrieden, auch wenn ihr Leben von dem erbarmungslosen Arbeitstakt der Hütte bestimmt wurde.

Je älter er wurde, desto schwerer fiel ihm die Arbeit, und nach dem Unfall litt er ständig unter Schmerzen. Die Pensionierung kam ihm wie eine Erlösung vor.

Für ihn kamen nun ein paar sehr schöne Jahre. Er lebte damals mit seiner Frau in einer Werkswohnung der Hütte. Sie war nicht sehr groß, nur sechzig Quadratmeter, aber für die beiden reichte es. Sie fuhren mit ihrem kleinen Auto an die Nordsee und in die Berge und einmal flogen sie sogar in die Türkei.

Sie wollten sich gerne einmal die Stadt ansehen, aus der ihre türkischen Nachbarn stammten.

Matuschak war in den sechziger Jahren Vorarbeiter einer Kolonne mit einigen türkischen Gastarbeitern, die man angeworben hatte, um den Arbeitskräftemangel auszugleichen.

Zwei von ihnen kamen aus Akcabaat am Schwarzen Meer, Öczan Yilmaz und Bülent Gökdal. Wenn man in den sechziger Jahren in Akcabaat lebte, arbeitete man entweder auf dem Bau oder in der Fischfabrik.

Etwas anderes gab es nicht, und beides ernährte eine Familie nicht. So waren sie den Anwerbern, die ihnen guten Verdienst versprachen, nach Deutschland gefolgt.

Anfangs wohnten die türkischen Männer in eigens für sie errichteten Wohnheimen oder in den billigsten Wohnungen, die sie mieten konnten. Später, als sie erkennen mussten, dass sie länger bleiben würden, als nur die paar Jahre, die sie für das Zusammensparen des Geldes für eine neue Existenz in der Türkei brauchten, zogen ihre Familien nach. Ihr Traum von der gesicherten Existenz in Anatolien war für die meisten zerplatzt. Für die in der Türkei Zurückgebliebenen waren sie durch ihre Zeit in Deutschland Fremde geworden und in ihrer neuen Heimat waren sie weiterhin Ausländer. In dieser Lebenslage zwischen Baum und Borke arrangierten sie sich so gut es ging mit den Verhältnissen. Manche lernten schnell die deutsche Sprache und erzogen ihre Kinder wie die Deutschen, andere lösten sich nicht von ihrer Tradition und versuchten, so viel wie möglich von ihr zu erhalten.

Sie zogen mit ihren Familien in Wohnungen in der Hüttensiedlung. Viele Deutsche zogen daraufhin weg. Die Matuschaks waren geblieben. Sie kamen mit den beiden türkischen Familien in ihrem Haus gut zurecht. Sie sprachen miteinander und manchmal trafen sie sich sogar. Dann erzählten die Türken von ihrer Heimat am Schwarzen Meer.

Irgendwann wollten Gerd und seine Frau einmal die fremde Stadt sehen, von der sie so viel gehört hatten und flogen für zwei Wochen dorthin. Das war die größte Reise in ihrem Leben gewesen. Es sollte nicht die letzte sein; das hatten sich die beiden fest vorgenommen, doch das Schicksal ließ keine weitere Reise mehr zu. Gerds Frau Helga erkrankte an Krebs. Anfangs hatten sie noch Hoffnung gehabt, die Chemotherapie könnte sie heilen, doch nach zwei Jahren voller Hoffen und Bangen wurde den beiden bewusst, dass ihr gemeinsames Leben bald ein Ende nehmen würde. Ihr Zustand wurde immer schlechter. Zuletzt lag sie nur noch im Bett und bekam von ihrem Hausarzt dreimal am Tag Tramal gespritzt. Kurz bevor sie starb wurden die Schmerzen so schlimm, dass sie sich schon eine Stunde vor der Zeit, zu der ihr Arzt kam, um ihr die Spritze zu geben, vor Schmerzen wandte, und trotz der antidepressiven und anxiolytischen Wirkung des Medikaments fiel sie immer wieder in einen Zustand tiefster Depressionen und Angstzustände. Gerd stand ihr bei, saß oft die ganze Nacht an ihrem Bett. Das langsame Dahinsiechen seiner Frau belastete ihn seelisch sehr stark, aber ins Krankenhaus brachte er sie nicht. Das konnte er nicht.

Als sie dann für immer die Augen zumachte wusste er nicht, ob er ihren Tod als Erlösung betrachten sollte. Er sagte sich, dass sie nun keine Schmerzen mehr zu erleiden hätte und tröstete sich damit ein wenig über die Trauer hinweg.

Seine Tochter Ingrid fing ihn auf. Sie wohnte mit ihrem Mann und ihrem Sohn in einem benachbarten Stadtteil in einem Reihenhaus. Gerd Matuschak zog zu ihnen. Er war sehr froh darüber, nicht allein in der Wohnung bleiben zu müssen, in der er mit seiner Frau so viele Jahre gelebt hatte und er dachte auch, dass die Kinder das Geld, das er ihnen jeden Monat für Kost und Logis gab, gut gebrauchen konnten, um das Haus abzuzahlen.

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