Seine Exzellenz Eugene Rougon

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Из серии: Die Rougon-Macquart #6
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Und gerade schickte er sich mit verhaltenem Schritt an, den Bericht zu übergeben, als alle Abgeordneten in völliger Einmütigkeit riefen: »Verlesen! Verlesen!«

Der Referent wartete, bis der Präsident entschieden hatte, daß die Verlesung stattfinden sollte. Und dann begann er in beinahe ergriffenem Ton: »Meine Herren, der Gesetzentwurf, der uns hier vorgelegt wird, ist einer von denen, welche die üblichen Formen einer Abstimmung als zu langsam erscheinen lassen, weil sie den spontanen Begeisterungsschwung des Corps législatif hemmen.«

»Sehr richtig!« riefen mehrere der Mitglieder.

»In den bescheidensten Familien«, fuhr der Referent fort, wobei er jedes Wort sorgfältig modulierte, »ist die Geburt eines Sohnes, eines Erben, mit allen Vorstellungen des Fortbestehens, die mit diesem Namen verknüpft sind, eine Veranlassung zu so süßer Freude, daß die Prüfungen der Vergangenheit vergessen werden und einzig die Hoffnung über der Wiege des Neugeborenen schwebt. Aber was soll man von diesem Familienfest sagen, wenn es zugleich das Fest einer großen Nation ist und zudem ein europäisches Ereignis!«

Da brach ein allgemeines Entzücken aus. Dieses rednerische Glanz stück riß die Kammer hin. Rougon, der zu schlafen schien, sah auf den vor ihm ansteigenden Bänken nur freudestrahlende Gesichter. Einige Abgeordnete lauschten, die Hände an den Ohren, mit übertriebener Aufmerksamkeit, um sich nichts von dieser gepflegten Prosa entgehen zu lassen.

Nach einer kurzen Pause fuhr der Referent mit erhobener Stimme fort: »Hier, meine Herren, ist es in der Tat die große französische Familie, die alle ihre Mitglieder auffordert, ihrer Freude Ausdruck zu verleihen; und welcher Pracht bedürfte es nicht, wäre es überhaupt möglich, daß die äußeren Kundgebungen der Größe ihrer gerechtfertigten Hoffnungen zu entsprechen vermöchten.« Und abermals legte er eine Pause ein.

»Sehr richtig! Sehr richtig!« riefen die gleichen Stimmen.

»Das ist sehr fein gesagt«, bemerkte Herr Kahn, »nicht wahr, Béjuin?«

Herr Béjuin wiegte leicht den Kopf, den Blick auf den Kronleuchter geheftet, der vor dem Präsidiumstisch vom Oberlicht herabhing. Er genoß.

Auf der Tribüne ließ sich die schöne Clorinde, das Opernglas fest auf den Referenten gerichtet, keinen Wechsel seines Mienenspiels entgehen; die Charbonnels hatten feuchte Augen; Frau Correur saß in der aufmerksamen Haltung einer wohlerzogenen Frau da, während der Oberst zustimmend nickte und die hübsche Frau Bouchard sich ganz hingegeben auf die Knie des Herrn d'Escorailles lehnte. Am Präsidiumstisch aber hörten der Präsident, die Schriftführer und auch die Huissiers regungslos und feierlich zu.

»Hinfort«, sprach der Referent weiter, »verbürgt die Wiege des Kaiserlichen Prinzen die Sicherheit der Zukunft; denn indem sie der Dynastie, der wir alle zugejauchzt haben, Dauer verleiht, garantiert sie die Wohlfahrt des Landes, seine Ruhe in der Stabilität und eben dadurch die Ruhe des übrigen Europas.«

Bei diesem rührenden Bild von der Wiege mußten einige »Pst!« Begeisterungsausbrüche verhindern.

»Auch in einer anderen Epoche schien ein Sprößling dieses erlauchten Blutes zu einer großen Zukunft bestimmt zu sein, aber die Zeiten haben keinerlei Ähnlichkeit miteinander. Der Frieden ist das Ergebnis der weisen und weitblickenden Herrschaft, deren Früchte wir ernten, ebenso wie das Genie des Kriegers jenes Heldengedicht schrieb, welches das Erste Kaiserreich begründete.

Bei seiner Geburt begrüßt von den Kanonen, die vom Norden bis zum Süden den Erfolg unserer Waffen verkündeten, wurde dem König von Rom13 nicht einmal das Glück zuteil, seinem Vaterlande zu dienen: so wollte es damals die Vorsehung.«

»Was sagt er denn da? Er verliert sich«, murmelte der skeptische Herr La Rouquette. »Diese ganze Passage ist ungeschickt. Er wird sich sein Kunstwerk verderben.«

Tatsächlich wurden die Abgeordneten unruhig. Wozu diese geschichtliche Rückerinnerung, die ihrem Eifer abträglich war? Einige putzten sich die Nase. Der Referent aber lächelte, als er spürte, welche Kälte sein letzter Satz verbreitet hatte. Er erhob die Stimme; sorgfältig die Worte wägend, fuhr er, seiner Wirkung gewiß, in seiner Gegenüberstellung fort.

»Doch zur Welt gekommen an einem dieser feierlichen Tage, da die Geburt eines einzelnen als das Heil aller betrachtet werden muß, scheint das Kind Frankreichs uns, und ebenso den künftigen Generationen, heute das Recht zu schenken, am heimatlichen Herd zu leben und zu sterben. Das ist hinfort das Unterpfand der göttlichen Gnade.«

Das war ein rauschender Fall erlesener Sätze. Alle Abgeordneten verstanden, was er sagen wollte, und ein freudiges Gemurmel durchlief den Saal. Die Gewißheit ewigen Friedens war wahrhaft süß. Beruhigt nahmen die Herren wieder die Haltung von Politikern an, die entzückt in Literatur schwelgen. Sie hatten Muße vor sich. Europa gehörte ihrem Herrn.

»Der Kaiser, zum unumschränkten Gebieter über Europa geworden«, fuhr der Referent mit erneuter Weitschweifigkeit fort, »war gerade im Begriff, jenen großmütigen Friedensvertrag14 zu unterzeichnen, der, indem er die produktiven Kräfte der Nationen wieder vereint, sowohl das Bündnis der Völker wie auch das der Könige bedeutet, als es Gott gefiel, sein Glück zugleich mit seinem Ruhm auf den Gipfel zu führen. Ist es nicht erlaubt, zu denken, daß er von diesem Augenblick an zahlreiche glückliche Jahre vorausahnt, wenn er die Wiege betrachtet, darin, so klein noch, jener ruht, der seine großartige Politik fortsetzen wird?«

Auch dies war ein sehr hübsches Bild. Und das war gewiß erlaubt; etliche Abgeordnete bestätigten es, indem sie langsam nickten. Aber der Bericht schien allmählich etwas zu lang. Viele Mitglieder wurden wieder ernst, einige sahen sogar verstohlen zu den Tribünen hinauf, als erfahrene Leute, die es ein wenig verdroß, sich so zu zeigen, nämlich in der wahren Gestalt ihrer Politik. Andere waren zerstreut, dachten mit erdfahlem Gesicht an ihre eigenen Angelegenheiten, klopften erneut mit den Fingerspitzen auf das Mahagoni ihrer Pulte; und verschwommen zogen in ihrer Erinnerung frühere Sitzungen vorüber, frühere Ergebenheitserklärungen, die einem in der Wiege liegenden Kind Vollmachten übertrugen. Herr La Rouquette wandte oft den Kopf, um auf die Uhr zu sehen; als der Zeiger Viertel vor drei zeigte, machte er eine verzweifelte Gebärde; er verpaßte eine Zusammenkunft. Seite an Seite saßen mit verschränkten Armen regungslos Herr Kahn und Herr Béjuin und ließen mit blinzelnden Lidern den Blick von den großen grünsamtenen Wandbespannungen zu dem Basrelief aus weißem Marmor wandern, auf das der Gehrock des Präsidenten einen schwarzen Fleck zeichnete. Und in der Diplomatenloge hatte sich die schöne Clorinde, das Opernglas noch immer gezückt, wieder darangemacht, lange und aufmerksam Rougon zu betrachten, der in der prächtigen Haltung eines schlummernden Stiers auf seiner Bank saß.

Der Referent jedoch beeilte sich nicht, las zu seinem eigenen Vergnügen, mit einem rhythmischen und zufriedenen Wiegen der Schultern: »Haben wir also volles und ganzes Vertrauen, und möge sich der Corps législatif bei diesem wichtigen und ernsten Anlaß daran erinnern, daß er gemeinsam mit dem Kaiser zur Macht gelangte, was ihm fast ein größeres Familienrecht als den anderen Körperschaften des Staates gibt, an den Freuden des Herrschers teilzunehmen.

Wie er hervorgegangen aus dem freien Wunsch des Volkes, wird daher der Corps législatif in dieser Stunde zur Stimme der Nation, um dem erlauchten Kinde die Huldigung einer unwandelbaren Ehrerbietung, einer allen Prüfungen gewachsenen Ergebenheit und jener grenzenlosen Liebe darzubringen, die aus der politischen Überzeugung eine Religion macht, deren Pflichten man preist.«

Da nun von Huldigung, Religion und Pflichten die Rede war, mußte es wohl bald zu Ende sein. Die Charbonnels wagten jetzt, im Flüsterton ihre Eindrücke auszutauschen, während Frau Correur ein Hüsteln in ihrem Taschentuch erstickte. Frau Bouchard begab sich verstohlen wieder in den Hintergrund der Staatsratsloge zu Herrn Jules d'Escorailles.

Tatsächlich änderte der Referent plötzlich die Stimme, ging von dem feierlichen Ton zum familiären über und stammelte rasch: »Wir schlagen Ihnen vor, meine Herren, den Gesetzentwurf so, wie er vom Staatsrat vorgelegt worden ist, ohne Einschränkung und Veränderung anzunehmen.«

Und inmitten eines großen verworrenen Getöses setzte er sich hin.

»Sehr richtig! Sehr richtig!« rief der ganze Saal.

Laute Bravorufe ertönten. Herr de Combelot, dessen lächelnde Aufmerksamkeit keine Minute lang nachgelassen hatte, schrie sogar: »Es lebe der Kaiser!«, was in dem Lärm unterging. Und beinahe hätte man Oberst Jobelin, der ganz allein am Rande der Tribüne stand und, ungeachtet der Hausordnung, selbstvergessen mit seinen vertrockneten Händen Beifall klatschte, eine Ovation bereitet. Das ganze Entzücken, das die ersten Sätze hervorgerufen hatten, kam jetzt mit einer neuen Flut von Beglückwünschungen wieder zum Vorschein. Das war das Ende der Fron. Von einer Bank zur anderen wechselte man liebenswürdige Worte, während ein Strom von Freunden auf den Referenten zustürzte, um ihm kräftig beide Hände zu drücken.

Dann herrschte in dem Tumult bald ein Wort vor: »Beratung! Beratung!«

Der Präsident, der hochaufgerichtet am Tisch stand, schien auf diesen Ruf gewartet zu haben. Es gab ein Glockenzeichen, und in dem jäh von Ehrerbietung erfüllten Saal sprach er: »Meine Herren, eine große Anzahl Mitglieder fordert, daß unverzüglich zur Beratung geschritten wird.«

»Ja, ja!« bestätigte die gesamte Kammer mit einem einzigen Geschrei.

Und es fand keine Beratung statt. Man stimmte sofort ab. Die beiden Artikel des Gesetzentwurfes, über die man nacheinander abstimmen ließ, wurden durch Sitzenbleiben und Aufstehen angenommen. Kaum hatte der Präsident die Lesung des Artikels beendet, als sich von oben bis unten auf allen Bänken sämtliche Abgeordneten, wie vom Schwung der Begeisterung emporgerissen, mit lautem Füßescharren wie ein Mann erhoben. Dann machten die Urnen die Runde, Huissiers gingen zwischen den Bänken hindurch und sammelten in den Zinkkästen die Stimmen ein. Die Summe von vierhunderttausend Francs war einstimmig von zweihundertneununddreißig Abgeordneten gebilligt worden.

 

»Das nenne ich ganze Arbeit«, sagte Herr Béjuin naiv und fing dann an zu lachen, weil er glaubte, etwas Witziges von sich gegeben zu haben.

»Es ist drei Uhr durch, ich verdrücke mich«, murmelte Herr La Rouquette, als er an Herrn Kahn vorbeiging.

Der Saal leerte sich. In aller Stille gelangten Abgeordnete zu den Türen, schienen in den Wänden zu verschwinden. Auf der Tagesordnung standen Gesetze von örtlichem Interesse. Bald saßen auf den Bänken nur noch die gutwilligen Mitglieder, solche, die zweifellos an diesem Tage nichts anderes vorhatten; sie setzten ihren unterbrochenen Schlummer fort, sie nahmen ihr Geplauder genau dort wieder auf, wo sie es abgebrochen hatten, und die Sitzung ging, so wie sie begonnen, in ruhiger Gleichgültigkeit zu Ende. Sogar der Stimmenlärm verebbte nach und nach, als sei der Corps législatif in einem Winkel des schweigenden Paris vollständig eingeschlafen.

»Hören Sie mal, Béjuin«, bat Herr Kahn, »versuchen Sie doch, beim Hinausgehen Delestang zum Reden zu bringen. Er ist zusammen mit Rougon gekommen, er muß etwas wissen.«

»Ah ja, Sie haben recht, das ist Delestang«, murmelte Herr Béjuin, während er den Staatsrat betrachtete, der links von Rougon saß. »Ich erkenne ihn nie, das kommt von diesen verteufelten Amtstrachten.«

»Ich gehe nicht fort, denn ich will unseren großen Mann zu fassen bekommen«, fügte Herr Kahn hinzu. »Wir müssen unbedingt Bescheid wissen.«

Der Präsident ließ über eine nicht endende Reihe von Gesetzentwürfen abstimmen, über die durch Sitzenbleiben und Aufstehen entschieden wurde. Die Abgeordneten standen mechanisch auf, setzten sich wieder, ohne mit Plaudern, ja sogar ohne mit Schlafen aufzuhören. Es wurde so langweilig, daß die wenigen Neugierigen auf den Tribünen weggingen. Nur Rougons Freunde blieben da. Sie hofften noch immer, daß er sprechen würde.

Plötzlich erhob sich ein Abgeordneter mit dem korrekten Backenbart eines Provinzadvokaten. Das brachte den eintönigen Gang der Abstimmungsmaschine mit einmal zum Stillstand. In lebhafter Überraschtheit wandten sich die Köpfe.

»Meine Herren«, sagte der Abgeordnete, in seiner Bank stehend, »ich bitte, mich über die Gründe auslassen zu dürfen, die mich gezwungen haben, der Mehrheit der Kommission sehr wider meinen Willen nicht zuzustimmen.«

Seine Stimme war so grell, so komisch, daß die schöne Clorinde ein Lachen hinter der vorgehaltenen Hand erstickte. Aber unten bei den Herren nahm das Erstaunen zu. Was war denn da los? Weshalb redete er? Durch Fragen erfuhr man schließlich, daß der Präsident soeben den Entwurf eines Gesetzes zur Debatte gestellt hatte, durch welches das Departement PyrénéesOrientales ermächtigt werden sollte; eine Anleihe von zweihundertfünfzigtausend Francs für den Bau eines Justizpalastes in Perpignan aufzunehmen. Der Redner, der dem Generalrat15 dieses Departements angehörte, sprach gegen den Gesetzentwurf. Das schien interessant zu werden. Man hörte zu.

Der Abgeordnete mit dem korrekten Backenbart ging unterdessen mit außerordentlicher Vorsicht vor. Seine Sätze, in deren Verlauf er vor allen nur denkbaren Autoritäten den Hut zog, waren voller Vorbehalte. Aber die Lasten des Departements seien schwer; und er entwarf ein vollständiges Bild der finanziellen Lage der PyrénéesOrientales. Außerdem scheine ihm die Notwendigkeit eines neuen Justizpalastes nicht besonders erwiesen. Auf diese Weise sprach er fast eine Viertelstunde lang.

Als er sich setzte, war er sehr erregt. Rougon, der die Augenlider gehoben hatte, ließ sie langsam wieder sinken.

Dann kam der Referent an die Reihe, ein kleiner, sehr lebhafter Greis, der als ein seiner Sache sicherer Mann mit klarer Stimme sprach. Zunächst richtete er ein höfliches Wort an seinen ehrenwerten Kollegen, mit dem er zu seinem Bedauern nicht übereinstimme. Allein, das Departement PyrénéesOrientales sei weit davon entfernt, so verschuldet zu sein, wie man behaupten wolle; und mit anderen Zahlen entwarf er ein neues vollständiges Bild der finanziellen Lage des Departements. Zudem könne die Notwendigkeit eines Justizpalastes nicht geleugnet werden. Er teilte Einzelheiten mit. Der alte Palast liege in einem so dicht bevölkerten Viertel, daß der Straßenlärm die Richter daran hindere, die Anwälte zu verstehen. Außerdem sei er zu klein; deshalb müßten sich die Zeugen, wenn bei Schwurgerichtsprozessen sehr viele geladen seien, auf einem Treppenabsatz aufhalten, was sie gefährlichen Zudringlichkeiten aussetze. Der Referent schloß damit, daß er als unwiderstehliches Argument verkündete, der Justizminister selber habe die Vorlage des Gesetzentwurfes bewirkt.

Rougon, die Hände auf den Schenkeln gefaltet, den Nacken gegen die Mahagonibank gelehnt, rührte sich nicht. Seit Beginn der Auseinandersetzung schien seine breitschultrige Gestalt noch schwerfälliger geworden. Und als der erste Redner Miene machte, erwidern zu wollen, erhob Rougon langsam seinen massigen Körper, ohne sich ganz bis zum Stehen aufzurichten, und sprach mit belegter Stimme den einzigen Satz: »Der Herr Referent vergaß hinzuzufügen, daß der Innenminister und der Finanzminister dem Gesetzentwurf zugestimmt haben.« Er sank auf seinen Sitz zurück, verfiel von neuem in die Haltung eines schlummernden Stiers. Manche der Abgeordneten hatte ein leichter Schauer überrieselt. Der Redner setzte sich wieder, wobei er grüßend den Oberkörper neigte. Und das Gesetz wurde angenommen. Die wenigen Mitglieder, die der Debatte neugierig gefolgt waren, machten gleichgültige Gesichter.

Rougon hatte gesprochen! Von einer Loge zur anderen zwinkerten Oberst Jobelin und die beiden Charbonnels einander zu, während sich Frau Correur anschickte, die Tribüne zu verlassen, wie man eine Theaterloge vor dem Fallen des Vorhangs verläßt, sobald der Held des Stückes seine letzte Tirade von sich gegeben hat. Herr d'Escorailles und Frau Bouchard waren schon gegangen. Clorinde, die an der Samtbrüstung stand und den Saal mit ihrer prachtvollen Erscheinung beherrschte, hüllte sich langsam und majestätisch in einen Spitzenschal, wobei sie den Blick rings um das Halbrund schweifen ließ. Der Regen trommelte nicht mehr auf die Scheiben des Oberlichts, aber der Himmel war noch düster von großen Wolken. Bei dem trüben Licht wirkte das Mahagoniholz der Pulte schwarz; wie ein Brodem stieg Dunkelheit längs der Bänke auf, wo nur noch die kahlen Schädel der Abgeordneten weiße Flecken bildeten; und auf dem Marmor der Sockel unterhalb der verschwommenen Blässe der allegorischen Gestalten zeichneten sich der Präsident, die Schriftführer und die in einer Reihe stehenden Huissiers als starre Schattenspielfiguren ab. In diesem so plötzlich abnehmenden Tageslicht versank die Sitzung.

»Lieber Gott, es ist zum Umkommen hier drin«, sagte Clorinde und drängte ihre Mutter zum Verlassen der Tribüne.

Und sie verwirrte die auf dem Treppenabsatz eingenickten Huissiers durch die seltsame Art, in der sie sich ihren Schal um die Hüften gewickelt hatte.

Unten im Vestibül trafen die beiden Damen den Oberst und Frau Correur.

»Wir warten auf ihn«, sagte der Oberst, »vielleicht kommt er hier heraus ... Auf jeden Fall habe ich Kahn und Béjuin einen Wink gegeben, damit sie mir hierher Nachricht bringen.«

Frau Correur hatte sich der Gräfin Balbi genähert. Nun sagte sie mit trostloser Stimme: »Ach, das wäre ein großes Unglück«, ohne sich weiter auszulassen.

Der Oberst hob den Blick gen Himmel.

»Männer wie Rougon braucht das Land unbedingt«, meinte er nach einem kurzen Schweigen. »Der Kaiser würde einen Fehler machen.«

Und wieder schwiegen alle. Clorinde wollte in die große Wandelhalle hineinschauen, aber ein Huissier schloß jählings die Tür. Sie kehrte also zu ihrer Mutter zurück, die stumm unter ihrem kleinen schwarzen Schleier dastand. Sie murmelte: »Warten ist schrecklich langweilig.«

Soldaten kamen. Der Oberst teilte mit, daß die Sitzung beendet sei. Tatsächlich erschienen oben auf der Treppe die Charbonnels. Hintereinander stiegen sie vorsichtig am Geländer entlang herunter. Als Herr Charbonnel den Oberst gewahrte, rief er: »Er hat nicht viel gesagt, aber er hat ihnen schön das Maul gestopft!«

»Es fehlt ihm an Gelegenheiten«, flüsterte der Oberst dem Biedermann ins Ohr, als dieser dicht bei ihm war, »sonst sollten Sie ihn hören! Er muß erst in Hitze geraten.«

Unterdessen hatten die Soldaten vom Sitzungssaal bis zu der Galerie des Präsidiums, die auf das Vestibül hinausführt, Spalier gebildet. Und während die Tamboure einen Marsch schlugen, näherte sich ein feierlicher Zug. An der Spitze schritten zwei schwarzgekleidete Huissiers, den Chapeau claque unter dem Arm, die Kette um den Hals, den Degen mit dem stählernen Knopf an der Seite. Dann kam der Präsident, den zwei Offiziere geleiteten. Die Schriftführer des Präsidiums und der Generalsekretär seiner Kanzlei folgten. Als der Präsident an der schönen Clorinde vorbeiging, lächelte er ihr als Mann von Welt trotz des feierlichen Aufzuges zu.

»Ach, hier sind Sie«, rief Herr Kahn, der ganz bestürzt angelaufen kam.

Und obwohl die große Wandelhalle damals für das Publikum gesperrt war, führte er sie in die Nische einer der hohen Glastüren, die auf den Garten hinausgehen. Er schien rasend zu sein.

»Ich habe ihn wieder verfehlt«, sagte er. »Er ist nach der Rue de Bourgogne davon, während ich ihm im Saal des General Foy16 auflauerte ... Aber das tut nichts, wir werden trotzdem etwas erfahren. Ich habe Béjuin hinter Delestang hergejagt.«

Und nun wartete man wieder, gute zehn Minuten lang.

Zwischen den beiden großen Windfangwänden aus grünem Tuch, welche die Türen verbargen, kamen lässig die Abgeordneten heraus. Einige verweilten, um sich eine Zigarre anzustecken. Andere blieben lachend, Händedrücke tauschend, in kleinen Gruppen stehen. Frau Correur war unterdessen an die Laokoongruppe herangetreten, um sie zu betrachten. Und während die Charbonnels weit den Hals zurückbogen, um eine Möwe zu sehen, die die spießbürgerliche Phantasie des Malers so, als sei sie aus dem Bild herausgeflogen, auf den Rahmen eines Wandgemäldes gemalt hatte, interessierte sich die schöne Clorinde, die vor der großen bronzenen Minerva stand, für die Arme und den Busen dieser riesigen Göttin. In der Nische der Glastür unterhielten sich Oberst Jobelin und Herr Kahn lebhaft im Flüsterton.

»Ah, da ist Béjuin!« rief letzterer.

Alle traten mit gespannten Gesichtern näher. Herr Béjuin atmete schwer.

»Nun?« fragte man ihn.

»Nun – die Demission ist angenommen worden, Rougon tritt zurück.«

Das wirkte wie ein Keulenschlag. Es herrschte tiefe Stille. Clorinde, die, um ihre unruhigen Finger zu beschäftigen, die Enden ihres Schals zusammenknüllte, erblickte gerade hinten im Garten die hübsche Frau Bouchard, die langsam am Arm des Herrn d'Escorailles dahinwandelte, den Kopf ein wenig auf seine Schulter geneigt. Die beiden waren vor den anderen hinuntergegangen, hatten sich eine offene Tür zunutze gemacht und führten nun in diesen zu ernsthaftem Nachsinnen bestimmten Alleen ihre Verliebtheit unter dem Spitzengewebe des jungen Laubes spazieren. Clorinde winkte sie mit der Hand herbei.

»Der große Mann zieht sich zurück«, sagte sie zu der lächelnden jungen Frau.

Frau Bouchard ließ jäh den Arm ihres Kavaliers fahren, wurde ganz bleich und ernst, indes Herr Kahn inmitten der bestürzten Gruppe der Freunde Rougons dadurch Einspruch erhob, daß er verzweifelt die Arme zum Himmel emporreckte, ohne ein Wort herauszubringen.

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