Rahel

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Ellen Key

Rahel

Inhaltsverzeichnis

Vorreden

Vorrede zur ersten Auflage.

Vorrede zur zweiten Auflage.

I. Herkunft.

II. Persönlichkeit.

III. Liebe.

I.

II.

III.

IV.

IV. Religion.

V. Gemeingefühl.

VI. Geselligkeit.

VII. Goethe.

VIII. Schönheitssinn.

IX. Briefe.

Impressum

Vorreden
Vorrede zur ersten Auflage.

Das Folgende ist keine literarhistorische Studie; ich habe keine neuen Quellen aufgesucht und kein Gewicht auf die Buchstabentreue der Quellen gelegt, die ich verwendet habe.

Eine solche Arbeit hat weder in meiner Absicht gelegen, noch war sie im Umfange dieser Schrift durchführbar.

Meine Absicht war vielmehr, ein Bild der größten Frau zu geben, die das Judentum hervorgebracht hat, für mich zugleich die größte Frau, die Deutschland seine Tochter nennen kann.

Dieses Vorhaben kann trotz einer Menge Arbeiten über Rahel nicht überflüssig genannt werden: von zehn gebildeten Deutschen, mit denen man über Rahel spricht, kennen fünf sie gar nicht, vier hatten etwas über sie gehört und nur einer sie wirklich erlebt!

Meine Beschäftigung mit Rahel ist nicht neuen Datums. Ich war ein Kind, als ich zum erstenmal von einigen Worten über sie gefesselt wurde; ganz jung las ich in der Revue des deux mondes zwei Essays von Blaze-Bury und von Karl Hillebrand über sie. Später lebte ich in »Rahel, ein Buch des Andenkens«. Schon vor zwanzig Jahren schrieb ich für eine schwedische Revue meinen ersten Essay über sie, den ich »Rahel, eine Persönlichkeit« nannte. Einige Teile dieses kleinen Essays sind in dieses Buch aufgenommen. Denn es gibt keinen Gesichtspunkt, den ich damals Rahel gegenüber einnahm, der nicht in diesem Buche – allerdings weiterentwickelt – wiederkehrte.

Ich habe hier die Darstellung ausschließlich auf Rahel selbst konzentriert. Wer ein ausführlicheres Bild von Rahels Zeit und Zeitgenossen wünscht, sei auf O. Berdrows großes, gewissenhaftes und liebevolles Werk »Rahel Varnhagen« verwiesen.

Ferner habe ich Rahel, so weit als möglich, durch ihre eigenen Worte gezeichnet. Diese sind hier teils unmittelbar, teils mittelbar angeführt, teils nur in ihren Grundgedanken wiedergegeben. Nur so war die Konzentration möglich, die der Umfang dieser Schrift erfordert hat. Ebenso werden die Briefe nicht immer in der Zeitfolge angeführt, sondern ein früherer kann später kommen und umgekehrt, sowie ein Stück eines Briefes an einer Stelle und ein anderes Stück an anderer, d. h. wo der chronologische Zusammenhang bedeutungslos war, aber es von Wichtigkeit erschien, den psychologischen zu betonen. Auch glaube ich, daß Rahels Gedankengang in gewissen Fällen durch die freien Referate klarer geworden ist, so wie hier und dort eine unbedeutende Interpunktionsänderung das Verständnis der direkten Zitate erleichtert hat. Diese Freiheiten, der wissenschaftlichen Literaturgeschichte nicht gestattet, sind bei der Porträtskizze ebenso erlaubt wie die Freiheiten, die ein Maler sich nimmt, um bei dem Modell, von dem er ein charakteristisches Bild geben will, das Wesentliche zu betonen und das Zufällige auszuscheiden.

Ob es mir gelungen ist, ein solches Bild zu geben, darüber werden natürlich die Meinungen verschieden sein. Meine Hoffnung, das Charakteristische an Rahels Persönlichkeit einigermaßen erfaßt zu haben, stützt sich ausschließlich auf die Liebe, die ich für sie empfinde. Denn eine tiefe Liebe ist ein Pfadfinder, wenn es sich darum handelt, in das Wesen oder das Werk eines Menschen einzudringen, sei es, daß dieser Mensch noch mit uns auf den Wegen wandelt, die man die des Lebens nennt, sei's daß er als einer jener Toten, die ewig leben, auf uns gewirkt hat.

Jedesmal, wenn ich zu Rahel zurückkehrte, ist meine Liebe zu ihr gewachsen. Immer klarer habe ich die Wahrheit von Brandes' Urteil erkannt, daß Rahel »das erste große und moderne Weib im deutschen Kulturleben ist«, immer überzeugter teile ich die Ansicht von Hillebrand, daß Rahel als Weib und Goethe als Mann im gleichen Grade typisch für ihre Zeit sind. Aber neben dieser meiner Erkenntnis von Rahels objektiver Bedeutung ist ihr subjektiver Wert für mich immer größer geworden. Es gibt außer E. B. Brownings Werken kein Frauenbuch in der Weltliteratur, das ich schwerer entbehren könnte als Rahels Briefe.

Indem ich so meinen »Mangel an Objektivität« eingestehe und dazu meine Ueberzeugung, daß dieser Mangel das wesentliche Verdienst dieser kleinen Schrift ist, lasse ich sie jetzt in die deutsche Lesewelt hinausziehen, in der Hoffnung, daß Rahel noch ihre Macht als Seelenführerin und Herzenströsterin zeigen wird.

Florenz, im Oktober 1907.

Ellen Key.

Vorrede zur zweiten Auflage.

Diese neue Auflage ist dem Inhalt nach unverändert. Die Jahre, die verflossen sind, haben an meiner persönlichen Auffassung Rahels nichts geändert, und es ist auch, soviel ich weiß kein neuer Stoff hinzugekommen, der ihr Bild in irgend einer wesentlichen Hinsicht modifizieren würde.

Für mich ist dieses Bild kürzlich durch ein schwedisches Werk noch bekräftigt worden, Frau M. Silfverstolpes Memoiren, von denen der vierte und letzte Teil jetzt erschienen ist. Sie schildert darin ihren Aufenthalt in Deutschland – namentlich in Berlin – in den Jahren 1825–26. Als Freundin Amalie Imhoff-Helvigs kam sie oft in deren Haus oder auch bei ihnen selbst mit Rahel und Bettina in Berührung. Frau Silfverstolpe – damals eine ältere, fein gebildete seelenvolle, enthusiastische Aristokratin – war anfangs viel mehr von Bettina geblendet und bezaubert als von Rahel. Bettina nimmt unvergleichlich mehr Raum in den Memoiren ein als Rahel. Sie spricht da viel von sich selbst, von Goethe, und von Goethe und sich selbst. Aber allmählich verliert Bettina und gewinnt Rahel in Frau Silfverstolpes Sympathie. Und gegen das Ende hat man das Gefühl, daß es Frau Silfverstolpe so ergangen ist wie Rahel selbst: beide haben für Bettina große Bewunderung, aber kein rechtes Vertrauen zu ihr.

Frau Silfverstolpes erstes Urteil über Rahel ist, daß sie klug und denkend scheint, daß die Gespräche in ihrem Hause immer belebt und inhaltsreich sind. Dann steigern sich die Lobesworte, denn »je mehr man Frau Varnhagen sieht, desto mehr gewinnt sie«, sie ist so fein und gebildet, so witzig und ehrlich, so verständig und verständnisvoll! Zwischen dem Ehepaar Varnhagen war das Zusammenleben ein gutes, während Frau Silfverstolpe meint, daß Bettinas Mann und Kinder von der originellen und bezaubernden Bettina, »deren ganzes Herz im Kopf, in der Phantasie sitzt«, nicht das erhalten, was ihnen gebührt. Das innige Gefühl, mit dem Rahel von ihrem Manne sprach, machte hingegen auf Frau Silfverstolpe den Eindruck vollendeter Echtheit. »Das Ehepaar Varnhagen«, schreibt sie, »scheint mir das allgemeine Weltgetriebe aus einer kleinen geschlossenen Proszeniumsloge zu betrachten und mit feinen witzigen Bemerkungen zu glossieren.« Immer häufiger bemerkt sie, wie gut und mit welchem Maß Rahel spricht. Tieferen Einblick in Rahels Leben erhält Frau Silfverstolpe nicht, während Bettina sich rückhaltlos gibt, und in Frau Silfverstolpe die intelligente Zuhörerin geschätzt zu haben scheint.

Ich teile dies mit, weil es mir lieb ist, dass eine Landsmännin persönlich ähnliche Eindrücke von Rahel und von Bettina empfing wie ich sie erhalten habe: von Bettina als eines prachtvoll strahlenden Feuerwerks, von Rahel als eines still glühenden Feuers.

Weil sie so war, kann sie Generation für Generation nicht nur von ihrem Lichte, sondern auch von ihrer Wärme geben.

Dass dieses kleine Buch auch weiter Menschen zu Rahel selbst führen möge, ist meine innige Hoffnung.

Strand, Alvastra, 25. März 1912.

Ellen Key.

I. Herkunft.

Wir begegnen manchmal im Leben oder in der Literatur einem Menschen – zuweilen einem Mann, aber häufiger einer Frau – der nicht die Ausnahmestellung des schaffenden Genies, des ausübenden Künstlertums, der großen Gelehrsamkeit, der Tatkraft oder der Schönheit besitzt. Und doch übt dieser Mensch eine so bestimmende Macht auf unser Schicksal aus, daß unser Leben unter einen unvergänglichen Einfluß kommt, aber einen Einfluß, der nur Selbstbefreiung zur Folge hat.

Denn das Geheimnis der Macht dieser seltenen Menschen besteht darin, daß sie selbst durch und durch Persönlichkeiten sind und bei allen anderen nur die Persönlichkeit suchen. Ein solcher Mensch kann einer verflossenen Zeit angehören und uns doch mit einem wunderbaren Gefühl der Coexistenz beseelen. Weil nichts an ihm zeitgemäß konventionell war, fühlen wir, daß er nicht nur so wie wir Menschen von heute gedacht, sondern auch, was noch seltener ist, so geliebt und gelitten hat. Alles an ihm ist so ursprünglich, so naturstark, daß man ein Spiel der Morgenkraft der Menschheit zu sehen glaubt und zugleich eine Offenbarung der ethischen Tiefe, der ästhetischen Feinfühligkeit und der psychologischen Kompliziertheit empfängt, die das schließliche Resultat der Entwicklung der Menschheit sein wird. Während wir sehen, wie die Gedanken und Gefühle eines solchen herrlichen Wesens in ungezähmter Natürlichkeit dahinstürmen wie ein Dionysoszug, doch nur von Lebenskraft berauscht, fühlen wir uns selbst immer mehr vom Schein und von der Zufälligkeit befreit. Wir lernen glauben, daß das für einen jeden eigentümliche das für das Ganze unentbehrliche ist; unbedenklich, ja gedankenlos beginnen wir wir selbst zu sein, und unter dem Einfluß der Wahrheitsleidenschaft dieser großen Persönlichkeit fassen wir nicht, wie wir unsere schützenden Verkleidungen anlegen konnten – oder wie wir die Maske wieder aufnehmen sollen, hinter der wir unsere wirklichen Züge verborgen haben. Wir ahnen, welche Bedeutung ein Mensch für seine Zeitgenossen besessen haben muß, der uns schon dadurch, daß wir einzelne Züge seines Wesens in einem Tagebuch oder einer Briefsammlung auffangen konnten, in solche Bewegung versetzt hat. Wir sehen ein, daß das bloße Faktum, daß er gelebt hat, ein ungeheurer kulturhistorischer Einsatz war, ein niemals aufhörendes Entwicklungsferment.

 

Eine solche Persönlichkeit, die in konkreter Fülle das war, was die höchsten Geister unter ihren Zeitgenossen durch ihre Ideen anstrebten, eine Persönlichkeit, die unsere Zeit vorbereitete, indem sie ihre Mitlebenden prophetisch lehrte, auf die Wahrheiten zu hoffen, von denen wir heute leben – war Rahel.

Aber wenn der erste Eindruck, den Rahel mitteilt, ein solch überströmender Lebensreichtum, eine solche Ursprungskraft ist, so ist der nächste, daß hier wie allenthalben die Tragödie der Mittelpunkt der Dionysien war.

Die Wurzel ihres Wesens zeigt – wie die der Orchis maculata – eine lichte und eine dunkle Hand, die eng miteinander verschlungen sind.

* * *

Lange hielt Rahel selbst ihre jüdische Herkunft für den dunklen Teil ihres Schicksals. Und sie hatte in dem Sinne recht, daß ihre Abstammung von einem Jahrtausende hindurch leidenden und gedemütigten Volk ihre eigene Natur und dadurch ihre Erlebnisse bestimmte. Von außen gesehen, war hingegen Rahels Kindheit und Jugend gerade die Zeit der Befreiung, namentlich für die Berliner Juden, eine Zeit, in der sie aus ihrer abgesonderten und verachteten Stellung mit jener Raschheit heraustraten, die selten der Einfluß der Gesetzgebung, wohl aber der des Zeitgeistes ermöglicht.

Friedrich der Große tat nicht viel, um die Stellung der Juden gesetzlich zu ändern. Aber die Vorurteilslosigkeit, die sich von ihm in immer weitere Kreise verbreitete, kam auch den Juden zugute; und zu dieser mittelbaren Einwirkung trat noch die unmittelbare durch Moses Mendelssohn, den Befreier der Juden aus ihren eigenen Vorurteilen, ihren Wecker zur Erkenntnis ihrer eigenen Kräfte. Bisher hatten die Juden nach seinen Worten nur im »Beten und Leiden, nicht im Wirken« ihre Stärke gezeigt. Er weckte in ihnen den Freiheitswillen und den Entwicklungstrieb. Selbst Theist im Geiste der Aufklärungszeit blieb er doch in der jüdischen Religionsgemeinschaft, um von innen heraus Vorurteile jener Art bekämpfen zu können, die z. B. – einige Jahre, ehe Mendelssohns erste Schrift erschien – noch zur Folge hatten, daß ein jüdischer Knabe aus der mosaischen Gemeinde ausgestoßen wurde, weil er jemandem ein deutsches Buch aus einer Gasse in eine andere gebracht hatte! Mendelssohn wagte deutsch zu schreiben und das alte Testament zu übersetzen; er veranlaßte die Eröffnung einer Schule, wo die jüdische Jugend die deutsche Sprache erlernte – die Juden sprachen bis dahin einen Jargon, der weder deutsch noch hebräisch war – und Teil an den Schätzen der deutschen Bildung erlangte. So wurde der erste und stärkste Faden zu dem Bande gesponnen, das die Juden von Jahr zu Jahr immer fester mit dem deutschen Volk verknüpfte.

Das Selbstgefühl, das unter Friedrich II. die preußische Nation in ihrer Gesamtheit erfüllte, steigerte auch das der Juden. Diese selben Juden, die noch immer unter Ausnahmegesetzen standen, von denen eines – noch 1802 erneuert – sie in einer Hinsicht Dieben und Mördern gleichstellte; diese selben Juden, unter denen noch ein Moses Mendelssohn erlebt hatte, daß auf einer Wanderung außerhalb des Judenviertels auf ihn und seine Kinder Steine geworfen wurden, diese selben Juden wurden jetzt nicht allein große Unternehmer auf ökonomischem und große Wohltäter auf philantropischem Gebiet, sie wurden auch in gesellschaftlicher Hinsicht tonangebend. Im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts verkehrte nicht nur der männliche Teil der feinen Welt Berlins in den besten Judenfamilien, diese feine Welt suchte sogar eifrig Zutritt in das Heim dieser Familien zu erlangen.

Gewiß waren diese Prinzen, Edelleute und Diplomaten oft zuerst durch Geldanleihen in Berührung mit den jüdischen Bankiers gekommen. Aber wenn diese Bankiers dann den jungen Herren ihre Salons öffneten, fanden diese dort so viel Anziehendes, daß es bald ein gesuchter Vorzug, dann guter Ton, schließlich eine Mode wurde, in diesen jüdischen Kreisen zu verkehren.

Die jungen Männer, die mehr oder weniger von den Ideen der Zeit durchdrungen waren, fanden in den jüdischen Häusern einen inhaltsreicheren, vorurteilsloseren und ungezwungeneren Gesellschaftston als den, den ihre eigenen weiblichen Verwandten anschlugen. Die jungen, schönen, feingebildeten, lebensvollen Frauen, die in den jüdischen Salons den Ton angaben, luden z.B. Schauspieler und Schauspielerinnen ein, die damals in der Regel noch aus der »guten Gesellschaft« verbannt waren. Es wurde viel Musik gemacht, schöne Kunstwerke schmückten die Räume, Gelehrte, Dichter und Künstler fanden sich nicht nur ein, sondern sprachen sich mit mehr Freiheit aus als anderswo, angeregt durch die Damen des Hauses, die eine Ungezwungenheit, eine geistige Regsamkeit, eine Wärme entfalteten, wie sie den deutschen Hausfrauen dieser Zeit in der Regel fehlte. Und bald bringen die jungen Männer eine Schwester, eine Freundin mit, die auch an dem erlesenen Verkehr teilnehmen will, für den die männlichen Verwandten und Freunde so schwärmen. Auf diese Art erlangen die jüdischen Salons auch einen mittelbaren Einfluß auf die Entwicklung des Gesellschaftslebens in weiteren Kreisen.

Die jüdische Frau erfüllt so zum erstenmal eine Kulturmission in der modernen Gesellschaft. In der eigenen europäischen Geschichte der Juden hatte sich schon früher mehr als eine Frau ausgezeichnet. Z. B. Maria Nunez, die zusammen mit Jakob Tirado die erste spanisch-jüdische Gemeinde in Amsterdam gründete; Donna Gracia Mendoza, die allen Heimatlosen ihres Volkes Schutz und Hilfe angedeihen ließ und dadurch zugleich die jüdische Kultur förderte; Berusia, die auf dem Gebiete des Denkens, Rebekka Tiktiner, die auf dem der Schriftstellerei und Sarah Copia Sullam, die auf dem der Dichtung selbständig tätig waren. Aber erst zur Zeit der jüdischen Berliner Salons zeigt sich die rasche Empfänglichkeit der jüdischen Frau für eine Kultur mit anderen Aufgaben als die rein jüdischen. Es zeigte sich, daß » die Saat auf einen ganz neuen, jungfräulichen Boden gefallen war« Henriette Herz. Wo dies der Fall ist – Rußland, Amerika geben Illustrationen zu diesem Satz – sieht man stets ein Sichhinwegsetzen über überlieferte Formen, einen Mangel an Tradition im wertvollen Sinn des Wortes, während diese Nachteile von anderen Vorzügen aufgewogen werden.

Bei der jüdischen Jugend zeigten sich sowohl die erwähnten Nachteile wie die Vorzüge, nämlich Bildungseifer, geistige Regsamkeit und zuweilen große und tiefe Originalität.

Namentlich die jüdischen Frauen, die mehr Zeit und Ruhe hatten als die jüdischen Männer, entwickelten in ihren geistigen Interessen eine Leidenschaft und eine Geschmeidigkeit, der jedoch nicht immer eine entsprechende Eigenart zur Seite stand. Eine solche fand sich wohl bei manchen dieser Jüdinnen, andere hingegen wirkten nur durch Eigenschaften ihrer Rasse originell. Alle standen sie in eigentümlicher Weise unter dem Druck jenes orientalisch-patriarchalischen Despotismus, der noch heute in vielen Familien herrscht und zwar um so mehr, je mehr man sich der östlichen Grenze Europas nähert.

Die jungen jüdischen Mädchen Berlins erhielten durch ihre verheirateten Freundinnen Gelegenheit zu Lektüre, Studium, Verkehr, wie sie das eigene Elternhaus vielleicht nicht bot. Andererseits empfingen sie Eindrücke der Freiheitsgedanken der Zeit und ihrer feinsten Kultur. Sie lasen Voltaire, Shakespeare und Tasso in der Originalsprache; sie schwelgten in der zeitgenössischen deutschen Literatur, sie wurden feurige Goethebewunderinnen. Der ganze geistige Hunger, der Generation für Generation in ihrem Volke stark geworden, konnte jetzt endlich gestillt werden. Sie lebten in einer Zeit, die ihre Farbe und Form von großen Geistern und großen Ereignissen empfing, und ihre Entwicklung wurde wesentlich durch ihre eigene Zeit, nicht mehr durch tausendjährige Traditionen bestimmt. Die Widerstandsfähigsten und Stärksten – wie Dorothea Mendelssohn – formen das Schicksal um, das die väterliche Gewalt ihnen aufgezwungen; und die soziale und intellektuelle Emanzipation, die ihnen unbewußt als eine Folge der Zeit zuteil geworden, wird nun von ihnen selbst auf den tiefstpersönlichen Gebieten bewußt weiter verfolgt.

Henriette Herz – in gewissem Sinne Rahels Nebenbuhlerin im Berliner Gesellschaftsleben – bezeugt, daß die so neuerwachte jüdische Frauenseele in ihrer »höchsten Blüte« in Rahel verkörpert war.

* * *

Rahel besaß die Grundzüge, die die großen Geister ihres Volks auszeichnen: eine tiefe Sehnsucht nach unmittelbarem Leben in Sonne und Glanz, in Glut und Leidenschaft und eine ebenso tiefe Sehnsucht nach Wüstenstille, um über das Leben, seine Wege und Ziele nachzugrübeln. Die geistige Energie, die in ihrer nach außen gerichteten Betätigung durch Unterdrückung gehemmt war, hatte sich bei Rahel – wie bei ihrem Volk – nach innen gewendet Rahel war durch ihr Selbstdenken und ihre Freiheitsleidenschaft den Frauen ihrer Zeit weit voraus, den jüdischen wie den europäischen. Aber im Zusammenhang mit der Entwicklung des Ganzen gesehen, ist Rahel typisch für die große Freiheitsbewegung, die noch heute vor sich geht, die Bewegung, die aus dem weiblichen Geschlechtswesen die vollmenschliche Persönlichkeit entwickeln will. Welche Summen von Kraft dieser Freiheitskampf jede einzelne gekostet hat das zeigt uns Rahel.

* * *

In den unzähligen bewundernden Urteilen, die ihre Zeitgenossen über Rahel fällten, wird – was uns in diesen Zeiten des Antisemitismus beinahe unfaßbar vorkommt – ihrer Rasse kaum Erwähnung getan.

Aber es scheint, daß der Humanismus dieser Zeit so tief war, daß die Rassenfrage zwischen Gebildeten alle Bedeutung verloren hatte. Oder stellte vielleicht Rahels eigene große Persönlichkeit sie außer und über alle gewöhnlichen Gesichtspunkte, die man sonst ihrem Volke gegenüber einnahm? Oder traten bei diesem die Lichtseiten mehr und die Schattenseiten weniger hervor als in unseren Tagen? Mag nun einer dieser Gründe oder alle zusammen ihre Zeitgenossen veranlaßt haben, sie nur als eine ebenso frei wie einzig dastehende Persönlichkeit zu sehen – gewiß ist, daß diese Betrachtungsweise sie selbst nicht von dem Leid befreite, dem solange ausgestoßenen und verachteten Volk anzugehören, um so mehr als sie – wie andere feinorganisierte Juden – doppelt unter all den Folgen litt, die diese Vorgeschichte im Volke selbst hinterlassen hat. Jedes Vorurteil, jede Unfeinheit, jede Niedrigkeit, die ihr in ihrer Umgebung entgegentrat, quälte sie tiefer, als wenn sie ähnlichen Dingen anderswo begegnete. »Ich habe eine solche Phantasie, als wenn ein außerirdisch Wesen, wie ich in diese Welt getrieben wurde, mir beim Eingang diese Worte mit einem Dolch ins Herz gestoßen hätte: ›Ja, habe Empfindung, sieh die Welt wie sie wenige sehen, sei groß und edel, ein ewiges Denken kann ich dir auch nicht nehmen, eins hat man aber vergessen: sei eine Jüdin!‹ Und nun ist mein ganzes Leben eine Verblutung. Mich ruhig halten kann es fristen; jede Bewegung, sie zu stillen, neuer Tod; und Unbeweglichkeit mir nur im Tode selbst möglich. Diese Raserei ist wahr, ist zu übersetzen. Lächeln Sie oder fühlen Sie Tränen aus Mitleid, ich kann Ihnen jedes Uebel, jedes Unheil, jeden Verdruß da herleiten.«

 

»Wie ekelhaft herabziehend, beleidigend, unsinnig, niedrig meine Umgebungen, denen ich nicht entfliehen kann; ein einziges Besudeln, eine Berührung macht mich schmutzig, stört meinen Adel. Dieser Kampf dauert ewig! Alles, was mir Schönes im Leben begegnet, geht mir fremd als Besuch vorüber, und mit Unwürdigen soll ich unerkannt leben müssen!«

Im Zusammenhang mit dieser ungeheuren Empfindlichkeit muß man Rahels spätere Worte verstehen, daß »ganze Vegetationen« in ihr von »Eltern, Geschwistern, Freunden und Freundinnen und elenden Geliebten« verwüstet worden seien.

Daß Rahel ihrer Abstammung alle Leiden zuschrieb, die sie trafen, ist nur in einem tieferen Sinne berechtigt, als Rahel es meinte. Von außen gesehen, ist kaum mehr als ein Schmerz in ihrem Leben – und auch dieser nur teilweise – dadurch verursacht, daß sie eine Jüdin war: der Bruch ihrer ersten Verlobung.

Aber das Entscheidende ist, daß Rahels Blut das Blut einer jüdischen Frau ist, und daß dieses Blut nicht nur stark durch die höchsten Kräfte der Rasse war, sondern auch schwer durch ihr tiefstes Unglück.

Jakob Wassermann, der rassebewußteste jüdische Dichter der Gegenwart, hat in einem Essay »Der Tag«, 24. März 1904. dargelegt, daß »die wehmütige Inbrunst und quälerische Schüchternheit«, unter der Rahel selbst leidet, ihr als dem Urbilde der modernen Kulturjüdin eigen ist; daß die Menschenliebe durch ein geheimnisvolles Schuldgefühl vertieft ist, daß Begeisterung bei ihr zur Ekstase wird, daß das Uebermaß ihr Maß ist, daß ihre Hingebung eine Glut hat, die den Gegenstand ganz umschließt, ja, mit ihm verschmilzt; daß der Mangel an Sicherheit und Gleichgewicht, die nervöse Unruhe, das Abrupte für die Kulturjüdin typisch ist. Rahel hat wahrscheinlich in ihrem Auftreten etwas von jener Unausgeglichenheit gehabt, obschon ihr innerstes Wesen im Gegensatz dazu stand.

Wassermann betont mit Recht diese Schwächen der jüdischen Frauen. Ich habe doch öfter Gelegenheit gehabt, ihre Vorzüge zu bewundern.

Ein jeder kennt – und viele anerkennen – die Verstandesbegabung, die Schaffenskraft, den Wissensdurst des jüdischen Volkes, seine ausdauernde, zielbewußte Energie. Aber allzuwenig spricht man von dem Zuge, der doch dem, der jüdische Frauen und Männer aus nächster Nähe gesehen hat, am charakteristischesten erscheint: von der Liebeskraft, dem Brüderlichkeitssinne, der Hilfsbereitschaft, der Opferwilligkeit

Nicht zufällig ist Jesus aus dem jüdischen Volk hervorgegangen. Man sucht jetzt zwar den Beweis zu erbringen, daß er ein Arier gewesen sei, aber für den, der wie ich seine Eigenschaften häufiger bei Juden als bei Germanen gefunden hat, hat eine solche Hypothese keinerlei Wahrscheinlichkeit

Rahel besaß alle Vorzüge ihrer Rasse, aber in besonders hohem Grade die zuletzt genannten. Das tiefe, heiße morgenländische Gemüt, das leidenschaftliche Blut bekundete sich besonders in ihrer großen Liebe, die wie jede solche bei der ersten Begegnung entstand und in ihr Wesen so eingriff wie kein früheres oder späteres Gefühl. Aber die morgenländische Liebesstärke tritt in allen ihren Empfindungen hervor: im Familiengefühl, in der Freundschaft, in der Anbetung ihrer großen Meister, in ihrer Mütterlichkeit Sie spricht einmal von Elternschmerzen und sagt, daß sie sie wohl versteht, denn » viele Reiche des Schmerzes habe ich ergründet«. Das heiße Blut, der starke, rasche Puls, der sie ihr ganzes Leben lang in der Liebe leben und durch die Liebe leiden läßt, ist ein bei ihr zur höchsten Potenz gesteigerter Rassezug. Ihre Rasse und ihre Eigenart im Verein lassen sie mit unbedingter Hingabe und Treue an dem Gegenstand ihrer Liebe, Zärtlichkeit oder Freundschaft festhalten, auch wenn sie einsieht, daß sie ihr Gefühl ausschließlich aus eigenen Quellen nährt. Sie war dankbar, solange sie fortfahren konnte zu lieben, sie, die eines der bittersten Geheimnisse der Liebe gefunden: daß die Menschen sich nicht nur nicht verstehen, sondern sich »zu ungleichen Stunden lieben!«

Rahel hatte wohl ein theoretisches Selbstgefühl, ein Gefühl, dem sie ebenso ehrlichen wie berechtigten Ausdruck gibt. Aber wie bei allen Menschen, die aus dem einen oder anderen äußeren Grund – z. B. durch ein unvorteilhaftes Aeußeres, schwere Demütigung, verachtete Geburt – unzählige Male verletzt worden sind, war dieses Selbstgefühl bei ihr eben nur theoretisch. Es entsprang keinem spontanen Gefühl, es reichte weder für die im Alltagsleben notwendige Selbstbehauptung hin, noch für die in außergewöhnlichen Fällen notwendige Rücksichtslosigkeit. Zwei unaussprechliche Fehler hab' ich,« sagte Rahel mit Beziehung auf das Relief, das Tieck von ihr gemacht hatte. Dieses – wie auch ein anderes Porträt – fand sie sehr ähnlich; und beide waren ihr widerwärtig, weil sie diese beiden Fehler klar ausgedrückt sah: »Eine zu große Dankbarkeit und zuviel Rücksicht für menschlich Angesicht.« – »Eher kann ich nach dem eigenen Herzen mit der Hand fassen und es verletzen als ein Angesicht kränken und ein gekränktes sehen. Und zu dankbar bin ich, weil es mir schlecht ging und ich gleich an lauter Leisten und Vergelten denke.

Dies alles kommt daher, weil die holde, freigebige, sorglose Natur mir eines der feinsten und stärkst organisierten Herzen gegeben hat, die auf der Erde sind; weil ich keine persönliche Liebenswürdigkeit habe und man es also nicht sieht.

Ich habe viele Gaben, aber keinen Mut, nicht den Mut, der meine Gaben zu bewegen vermag, nicht den Mut, der mich genießen lehrte, wenn es auch einem anderen etwas kostet. Ich setzte jenes anderen Persönlichkeit höher als meine; ziehe Frieden dem Genuß vor und habe nie etwas gehabt.«

Man braucht nicht Jüdin zu sein, um die Erfahrung zu machen, daß Rücksicht und Fürsorge, Nachsicht und Güte nicht zur Folge haben, daß andere gegen uns so sind, wie wir gegen sie, falls sich diese Eigenschaften mit Anspruchslosigkeit für uns selbst verbinden. Der Anspruchslose wird übersehen, während der Anspruchsvolle und Rücksichtslose andere lehrt, ihm Rücksicht und Zartheit zu beweisen. Das ist eine Erfahrung, die man auch bei anderen Familien als der Rahels machen kann. Als Rahels Angehörige ihr einmal als Weihnachtsgeschenk einen ebenso unnötigen wie häßlichen Gegenstand gaben – und man sich damit entschuldigte, daß es »so schwer sei, etwas für sie zu finden« – sie, die für die geringste Freundlichkeit dankbar war und sich selbst so wenig als möglich anschaffte – da bricht Rahel in Klagen über ihren eigenen Mangel an Grazie aus, zu dem sie auch ihre Unfähigkeit rechnet, sich geltend zu machen!

Ein Freund Rahels, W. v. Burgsdorf, sagt mit tiefem Verständnis für ihr Wesen, daß er es gleich lernte, sie nicht buchstäblich zu nehmen, daß er hinter ihren Worten, die oft stärker schienen als der Anlaß, bald heraus fand, daß ein langer Schmerz sie erzogen haben müßte. »Denn – es ist wahr, daß eine Spur des erlittenen Schicksals an Ihnen sichtbar ist, daß man das früh gelernte Schweigen und Verbergen an Ihnen sieht... Jede Narbe, die das Schicksal dem Charakter läßt, stört Ihr Bewußtsein...« Aber er fügte tiefblickend diese Worte hinzu:

»Dieselbe Kraft, die den Schmerz zu erschöpfen strebt, führt Sie auch wieder so schön zur Freude zurück. Sie sind so voll leichten, schönen Lebens.«

Aber dieser lange Schmerz war nicht ausschließlich, ja nicht einmal in erster Linie ihre jüdische Geburt. Daß sie so viel verwundbarer, scheuer, rascher zurückgestoßen, schüchterner ist als die übrigen Jüdinnen ihres Kreises, dies erklärt sich aus den Verhältnissen, die ihre Kindheit und Jugend bestimmten. Rahel bezeichnet selbst die Leiden ihrer Kindheit und Jugend mit den Worten von dem starken Herzen, das die Natur ihr gegeben und das ihr »rauher, strenger, heftiger, launenhafter, genialischer, fast toller Vater übersah und brach. Mir jedes Talent zur Tat zerbrach, ohne solchen Charakter schwächen zu können.« Und so verlor sie auch den »Mut zum Glück«, den die Natur ihr doch gegeben hatte.

* * *

Von diesem Vater, dem Bankier Levin-Markus – die Kinder nahmen später den Namen Robert an – gibt es in Berlin ein Bild, das Intelligenz, Genußsucht, Kraft und Härte zeigt. Das spanische Rohr, das er in der Hand hält war das Szepter, das er über der Familie schwang. Zu dieser Zeit war ja sowohl in christlichen wie in jüdischen Familien die Oberhoheit des Hausvaters ein noch unangetastetes Dogma. Aber dazu kam noch, daß dieser Vater persönlich ein Despot war, der von seiner Umgebung unbedingte Untertänigkeit verlangte, der weder einen selbständigen Willen noch eine der seinen widersprechende Meinung duldete.

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