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Memoria_Erinnerungen an das 20. Jahrhundert

Eleanor Siegl Kofler

Zu Hause ist überall

Über Buenos Aires und New York nach Südtirol

Aufgeschrieben von Nina Schröder

Mit einem Nachwort von Wolftraud de Concini


Die Buchreihe Memoria mit Aufzeichnungen, Tagebüchern und Biografien aus dem 20. Jahrhundert wird von der Stiftung Südtiroler Sparkasse unterstützt.


Für den vorliegenden Band danken wir der Tuchfabrik Moessmer AG für einen großzügigen finanziellen Beitrag.


Mit freundlicher Unterstützung der Abteilung Deutsche Kultur in der Südtiroler Landesregierung


© Edition Raetia, Bozen 2021

Grafisches Konzept: Dall’O & Freunde Druckvorstufe: Typoplus Lektorat: Katharina Preindl Korrektorat: Helene Dorner Projektleitung im Verlag: Felix Obermair

Gedruckt in der EU

Sämtliche Bilder stammen aus dem Archiv von Eleanor Siegl Kofler.

ISBN 978-88-7283-768-9

eISBN 978-88-7283-792-4

www.raetia.com

Inhalt

Zur Einleitung

Am Fuße des Altvatergebirges

Wir müssen fliehen

In Österreich gibt es genug zu essen

In den deutschen Flüchtlingslagern

Keine Kanarienvögel auf den Kanarischen Inseln

Ein verzauberter Garten in Buenos Aires

Ein Dschungel hinter dem Haus

I’m an American girl

Erwachsensein für Anfänger

Europa, ich komme

Skifahren, Kunstakademie und Heiratsanträge

New York, Hell’s Kitchen

Bruneck zum Angewöhnen

Express-Scheidung in Mexiko

Ich bin frei

Ein Südtiroler in San Francisco

Bruneck für Fortgeschrittene

Das Haus brennt

Anmerkungen

Nachwort Wolftraud de Concini

Zur Einleitung

Ich wäre niemals auf die Idee gekommen, dass meine Erinnerungen ein Buch wert sein könnten, wenn man mich nicht mit Nachdruck dazu aufgefordert hätte, sie schriftlich festzuhalten. Nun, wahrscheinlich beginnen alle Memoirenschreiber mit diesen Worten. Man ließ mich einfach nicht in Ruhe, so lange, bis ich zur Feder griff und meine Erinnerungen zu Papier brachte. Doch dann war ich dankbar, dass ich den Dränglern nachgegeben hatte. Denn es war eine überraschend aufregende Arbeit. Manchmal war sie schmerzhaft, manchmal lustig, manchmal musste ich mit dem Abstand der Jahre über mich lächeln. Auf jeden Fall aber war es eine wichtige Lebensphase für mich, noch einmal tief in meine Vergangenheit einzutauchen.

Also bedanke ich mich bei all jenen, die dieses Unternehmen befürwortet und nicht lockergelassen haben. Ich danke auch Frau Nina Schröder für die Geduld, meine Handschrift zu entziffern, und für das Know-how, Vergessenes wieder ans Tageslicht zu bringen. Manchmal konnte ich mich beim besten Willen nicht mehr erinnern und manchmal wiederum überfluteten mich die Erinnerungen so, dass ich beim Schreiben in die Sprache verfiel, in der ich die Dinge erlebt hatte.

Ich danke auch all jenen, die mich als Fremde mit Wärme in Bruneck aufgenommen haben, so dass mir die Jahrzehnte hier eine schöne Erinnerung bleiben.

Bei meiner Schwägerin Gerhild schließlich möchte ich mich bedanken für die großzügige Überlassung ihres Ferienhäuschens, während unser Umbau langsam fertig wurde. In der Pfalzner Ruhe konnte ich gut an dem Buch arbeiten.

Eleanor Siegl Kofler

Am Fuße des Altvatergebirges

Unsere Familie wohnte in Schönberg. Heute findest du diesen Namen nicht mehr auf der Landkarte. Nur auf den alten Karten ist er noch zu entdecken, auf denen, die vor 1945 entstanden. Es ist ein schöner Landstrich. Aber die Erde brannte hier schon immer. Friedrich II. von Preußen und Maria Theresia von Österreich trugen hier ihre Kämpfe aus. Und schon damals ging alles in Flammen auf, all die großen Ansitze und die Kirchen.

Als wir gehen mussten, war ich noch klein. Und ich war immer hungrig. Was hat mir das für Geschichten eingebrockt! Als hätte ich ein Loch im Bauch, immer wollte ich etwas essen. Und manchmal habe ich etwas genommen, das nicht für mich bestimmt war. Dann setzte es Strafen. Aber irgendwie habe ich das immer wieder hingekriegt. Daran kann ich mich noch erinnern. Das bisschen, was ich noch weiß. Bevor wir gehen mussten und Vater starb. Vielleicht war ich sieben Jahre alt. Ja, ich glaube, ich war sieben.

Ich erinnere mich an meine kleine Stadt Schönberg. Ein Städtchen, rundum Hügel, in der Ferne die hohen Berge, ein Schloss und ein mittelalterlicher Stadtkern, Kopfsteinpflaster und Lehmstraßen. Wenn es regnete, gab es riesige Pfützen. Wir haben es Schönberg genannt. Aber wir waren ja auch Deutsche. Mit den Tschechen haben wir nicht geredet. Mit denen redete man nicht. Auch nicht, wenn sie das Haus sauber machten oder für einen einkaufen gingen. Wir konnten ihre Sprache nicht sprechen, wir verstanden sie nicht einmal. Aber sie konnten unsere Sprache sprechen. Als wir weg waren, wurde aus dem deutschen Schönberg das tschechische Šumperk, mit diesem Häkchen über dem S.

Und dann gab es diese riesigen Fabriken in der Stadt und an deren Rande. Das waren hohe mehrstöckige Häuser, viel zu große Häuser, voller kleiner Fenster. Tausende Menschen arbeiteten hier. Sie webten feines Tuch, das dann an die noblen Hotels und die großen Schiffe verkauft wurde. Tischtücher, Bettbezüge, weiß und glänzend und wunderbar anzufassen. Berühmte Schiffe wie die Ozeandampfer der Hapag wurden damit ausgestattet. Und ganz Österreich belieferten sie, diese Tuchmacher aus dem Sudetenland. Einer davon war mein Vater. Ich glaube, mehr als tausend Menschen arbeiteten allein in seiner Fabrik.

Dass wir reich waren, hatte ich eigentlich nicht richtig begriffen. Ich wuchs in einer wunderschönen Villa auf, das ja. Sie hatte einen großen Garten. Aber so ein großer Garten ist langweilig, wenn man ganz allein darin ist. Und ich war sehr viel allein. Papi verjagte die Kinder und die Katzen.

Meine beiden Brüder Theo und Walter waren deutlich älter als ich, Theo zehn und Walter neun Jahre. Theo war der Große und kümmerte sich kaum um mich. Er studierte schon, da hatte er keine Zeit für ein kleines Mädchen wie mich. Meistens kam ich aber gut mit ihm aus. Walter beschäftigte sich mehr mit mir. Aber darauf hätte ich auch gerne verzichtet. Dauernd heckte er irgendetwas aus. Manchmal waren seine Streiche derb. Vielleicht war er ja eifersüchtig, ich weiß es nicht.

Einmal, da nahm er mich durch den Zugang für die Kaminkehrer mit aufs Dach. Und dann sperrte er ab und ließ mich da oben allein. Bis alle aus dem Haus unten zusammenliefen, weil sie nach mir suchten.

Das Haus war nicht leer. Ich hatte Kindermädchen und es gab Bedienstete. An die meisten erinnere ich mich kaum. Eines der Mädchen war besonders grob und Schläge waren an der Tagesordnung. Nur an Herti erinnere ich mich gerne, Herta Wimmer. Sie liebte ich sehr. Sie war wie eine Mutter für mich. Ich hatte ja keine Mutter mehr. Meine war weggegangen, da war ich erst ein Jahr alt.

Herti war lieb und gefühlvoll. Und sie hörte mir zu. Und manchmal spielten wir sogar etwas miteinander. Aber dann war auch Herti weg. Mein Vater hatte auch sie vertrieben. Dabei war sie doch gar nicht schuld.

 

Wir hatten sie eines Tages halb tot aufgefunden. Sie wollte sich das Leben nehmen, hatte sich in den Falschen verschaut, aus Liebeskummer hatte sie das getan, die Dumme. Da jagte sie mein Vater aus dem Haus wie die Katzen und die Kinder. Es wäre nicht weiter verwunderlich gewesen, wenn ich sie aus den Augen verloren hätte. Aber wir hingen aneinander und hielten Kontakt. Viele, viele Jahre später besuchte sie mich und meine Familie, als ich endlich zur Ruhe gekommen war, als meine Flucht schließlich doch noch ein Ende hatte. Und einmal fuhr ich auch nach Frankfurt, um sie zu besuchen. Und tatsächlich fand ich meine Herti in einer gefährlichen Gegend von Frankfurt. Der Hausmeister machte ein merkwürdiges Gesicht, als ich nach Herti fragte. Aber dann stand sie vor mir.

Es gab Köchinnen in unserem großen Haus, Marta und Berta, es gab einen Gärtner und seine Frau. Und es gab einen Kutscher. Der war immer mürrisch und mochte mich nicht. Und auch das Gärtnerpaar kümmerte sich nicht um mich. Sie wohnten in einem eigenen kleinen Häuschen mit einem Garten und viel Gemüse darin. Hinter ihrem Desinteresse an mir versteckte sich wahrscheinlich auch Ärger auf mich. Das kam daher, dass es eines meiner liebsten Spiele war, einen Teil der täglichen Arbeit des Gärtners zu zerstören. Damals war es Mode, mit einem Rechen Wellen in die Gartenwege zu zeichnen. Diese Arbeit verrichtete der Gärtner jeden Morgen. Und ich machte seine Zeichnungen fast täglich wieder kaputt. Der mochte mich natürlich auch nicht. Kein Wunder. Ich liebte diese bunten Kugeln aus Glas und hätte sie wie die einfachen Leute gerne in unserem Garten aufgestellt. Aber bei uns gab es nur Statuen aus Stein.

Ich war allein, ständig war ich allein. Und wenn ich einmal aus dem Haus ging, dann verspotteten mich die anderen Kinder. „A Madl mit Lederhosen an.“ Das gehörte sich nicht, das war ungewohnt. Eigentlich hat es mir nicht viel gebracht, dieses Reichsein.

Schönberg war ein Zentrum der Textilindustrie in Mähren. Schon Mitte des 19. Jahrhunderts wurde die erste mechanische Spinnerei in Betrieb genommen. Und schon damals gab es Spannungen zwischen den Reichen und den Armen. Gerade einmal zwei Jahre war die erste mechanische Spinnerei in Betrieb, da brachen bereits Unruhen aus: Alles war sofort teurer geworden, die Löhne waren zu niedrig, die Arbeitszeiten zu lang. Und trotzdem hatten die Leute nicht genug zu essen. Aber mit den mechanischen Webstühlen kam auch die neue Zeit und ein Krankenhaus, ein Bahnhof, ein Gaswerk wurden gebaut. Die Stadt erhielt damit auch urbanes Flair: Prächtig wurde sie, mit Theater und Kino und einem eigenen Kraftwerk. Und große Bälle wurden gegeben. „Klein-Wien“ wurde Schönberg damals genannt, das Schönberg meines Großvaters. Mein Großvater mechanisierte seine Weberei 1889. Noch nicht einmal dreißig Jahre alt war er da.

Ich mochte Großvater immer gerne. Emil hieß er, der berühmte Emil Siegl, ein Großindustrieller, wie er im Buche steht. Sogar Juror der Weltausstellung war er etliche Jahre lang. Wir verbrachten den Sommer immer in seinem großen Haus mit Portikus nahe der protestantischen Kirche in Schönberg. Ja, sein Haus hatte tatsächlich eine Säulenhalle vor der Haustür. Sein Vater hatte es von einem bekannten Architekten erbauen lassen, vom Dänen Theophil Hansen, der auch schon das Parlamentsgebäude in Wien an der Ringstraße entworfen hatte.

Großvater lebte in diesem Haus mit der Säulenhalle vor der Eingangstür, bis er starb. Er war ein lustiger Mann. Und schießen konnte er gut. Er liebte die Jagd und war ständig auf großen Jagdgesellschaften in Slowenien, in Tschechien oder in Österreich. Schützenkönig war er auch. Ich kann mich noch erinnern, wie sie bei ihren großen Paraden durch die Stadt marschierten, die Jäger in ihren grünen Anzügen, dann starteten sie vor seinem Haus.

Großmutter kam immer in sein Büro, um ihn abzuholen. Und dann machten sie einen Spaziergang von mindestens fünfzehn Minuten. Das war für die Gesundheit. Sie waren überhaupt ziemlich gesundheitsbewusst damals. Zweimal im Jahr fuhren sie auf Kur nach Karlsbad und nach Bad Gastein. Immer gutgetan hat Großvater das dauernde Reisen aber auch nicht. In Schlesien steckte er sich schließlich bei einer großen Hasenjagd mit Typhus an. Als er daran starb, 1939, da war er schon achtzig Jahre alt. Und in seinem guten alten Schönberg war ein neues Zeitalter eingezogen. Von dem gemütlichen habsburgischen Charme war in unserem Städtchen nicht mehr viel übrig.

Großvater starb im Oktober. Da war schon Krieg. Ich wusste nicht, was Krieg bedeutete. Unsere Väter wussten es schon. „Dieser Wahnsinnige treibt uns noch in den Untergang“, hieß es. Wir wollten den Anschluss an Hitlerdeutschland nicht, nur eine Autonomie. Aber da war nichts zu machen. Wir waren gespalten. Der Riss ging quer durch die Familien. Die einen wollten den Anschluss der Heimat an Hitlerdeutschland, die anderen waren für eine Autonomie und den Verbleib im Tschechenstaat. Mein Vater war Freimaurer, der hatte mit dem Größenwahnsinnigen nichts am Hut. Sein Bruder aber, Onkel Robert, war in der SA, als Großvater starb, und er fungierte als Wirtschaftsberater der Kreisleitung der NSDAP und Ratsherr der Stadt Mährisch Schönberg. Die Sudetendeutsche Partei, offen unterstützt durch Adolf Hitler, erreichte 1935 bei den Wahlen 64 Prozent der Stimmen, habe ich später gelesen.

Und die Ortsschilder mit den tschechischen Ortsnamen am Stadtrand wurden 1938 abmontiert. Das konnte nichts Gutes bedeuten. Das wussten wir im Grunde alle. Inzwischen lebten im tschechischen Viertel ja Tausende von Menschen und nicht mehr nur ein paar Hundert wie noch vor dem ersten großen Krieg. Es waren ja immer mehr gekommen, seitdem die Truppen der Tschechoslowakei im Winter nach dem Ersten Weltkrieg Schönberg besetzt hatten, ohne dass dabei auch nur ein einziger Schuss gefallen wäre.

Großvater bekam von all dem nicht mehr viel mit. Er starb noch unbehelligt in seiner schönen großen Villa Siegl. Nach Großvaters Tod zog Großmutter aus der großen Villa mit Portikus aus und in das Haus in der Schillerstraße nahe der Siegl-Fabrik im Zentrum um. Für uns war sie eine junge Großmutter. Dabei war sie eigentlich nur zehn Jahre jünger als Großvater. Aber sie spielte mit uns Kindern, Fußball auf der Wiese hinter dem Portikushaus zum Beispiel. Großmutter stand im Tor. Ich weiß noch, wie mein Bruder schrie: „Schmeiß dich auf den Boden, Oma!“ Sie war für uns da, für uns Kinder. Aber auch für die anderen, Paula von und zu Eisenstein, so hieß sie. 1957 starb sie in Wien. Ihre Tochter, Tante Paula, hatte sie, die Omama, damals am Ende des Krieges auf den letzten Drücker aus der Tschechoslowakei herausgeholt, mit ein paar Flaschen französischem Cognac für die Soldaten im Gepäck. Aber ich schweife ab.

Ich lebte also in diesem großen Haus und war meistens allein. Ich hatte so eine Marotte, die ich mir eigentlich auch nicht erklären kann. Immer, wenn ich herumsaß und so vor mich hin stierte, schnitt ich Löcher in meine Schürze. Meistens saß ich vor einem Fenster und schaute gedankenverloren hinaus. Und mit einer Schere in der Hand machte ich die Löcher in die Schürze. Die Schere hatte fast so etwas wie ein Eigenleben. Es war nicht mein einziger Tick. Auch mit den Augen zwinkerte ich ständig, selbst wenn die Sonne nicht schien. Ich war ein nervöses kleines Mädchen.

Oft setzte es Schläge von den Kindermädchen oder auch von irgendjemand anderem im Haus. Wahrscheinlich hatte ich es verdient. Wir hatten Flüchtlinge aufgenommen, eine Mutter und zwei Kinder aus dem zerbombten Deutschland. Wenn ich mein Spielzeug nicht mit ihnen teilte, war immer ich die Böse. Dabei holten sie es sich so oder so, ganz egal, was ich auch versuchte. Und die Mutter der beiden erklärte mir mit gewichtiger Miene, jetzt würden die Herzen der beiden meinetwegen bluten, weil ich mein Spielzeug nicht freiwillig herausgerückt hatte. Ich konnte mir nicht so richtig vorstellen, was das bedeuten sollte, dass ihre Herzen bluteten. Aber es beeindruckte mich sehr.

Ich mochte Streiche. Von den anderen Kindern auf der Straße hatte ich gelernt, wie man klingelte und dann schnell davonlief. Und wie man den älteren Leuten nachrief: „Brekekekeks, alte Hex!“ Das Schönste aber, das Allerhöchste, war es, den blanken Popo herzuzeigen. Das garantierte immer die maximale Reaktion: entweder Schimpfen oder Empörung oder Lachen – alles war mir recht. Manchmal ging ich mit Papi auf die Bleiche, wo die Stoffe aus der Fabrik gebleicht wurden, indem man sie auf der Wiese in der Sonne ausbreitete. Dort gab es auch Artischocken und Tabakpflanzen und die ernteten wir, sogar Papi half mit. Der Tabak wurde dann aufgefädelt und in der Küche aufgehängt, bis er trocken war. Daraus wurden die Zigarren für meinen Vater gemacht.

Jedes Jahr am Ostermontag gab es einen eigentümlichen Brauch. Wir nannten es „Schmeckostern“. Da durften die Männer die Frauen versohlen und jagten mit einer Gerte in der Hand den Frauen und Mädchen hinterher. Die jungen Burschen nutzten das aus und liefen von Haus zu Haus. Die Frauen im Haus und ich versteckten uns, so gut es ging. Denn Papi war immer mit Begeisterung bei der Sache.

Auch mein Bruder Walter liebte Streiche. Viel zu oft wurde ich deren Opfer. Auf der Schaukel zum Beispiel drehte er mich so lange ein, bis sie schon ganz hoch oben hing. Und dann ließ er wieder los und haute ab. Die Schaukel mit mir darauf drehte sich natürlich immer schneller und mir wurde speiübel. Mehrere Male musste ich mich übergeben. Und zu Weihnachten, als die Spannung schon richtig groß war und ich es kaum noch erwarten konnte, nahm er mich bei der Hand und ging mit mir zu dem Zimmer, wo die Bescherung stattfinden sollte. Dann sagte er: „Schau durchs Schlüsselloch!“ Ich tat, was er wollte, und sah meinen Vater und meinen älteren Bruder Theo, wie sie gerade einen riesigen Baum schmückten. Das war’s dann mit dem Christkindl. Ich war schon sehr enttäuscht.

Aber nicht so enttäuscht wie damals, als das mit dem Hasen passierte. Im Garten saß nämlich eine Zeit lang ein weißer Hase in einem kleinen Stall. Und jeden Tag ging ich hinunter, um Gras und Klee zu rupfen und ihn zu füttern. Und Karotten brachte ich ihm auch. Ich liebte ihn sehr. Aber eines Tages war er plötzlich nicht mehr da. Ich lief im ganzen Haus herum und fragte jeden, wo der Hase denn hin sei. Aber niemand gab mir eine Antwort. Irgendwann bekam ich sie dann doch, diese Antwort. Und lieber hätte ich die Wahrheit nie erfahren. Die Köchinnen konnten es sich nämlich nicht verkneifen, mir zu erzählen, dass ich den Hasen zum Mittagessen hatte. Ich war todunglücklich. Die beiden fanden das urkomisch. Wahrscheinlich war das ihre kleine Rache dafür, dass ich sie immer gegeneinander ausgespielt hatte. Ich aber hatte einen Freund verloren. Als ich viele, viele Jahre später genau dieselbe Geschichte in einem Buch über ein siebenjähriges Mädchen las, Little Girl Lost von Barbie Probert-Wright, da war ich sofort wieder traurig.

Nein, eine richtig schöne Kindheit war das nicht. Ich war auch oft kränklich, häufig hatte ich Bronchitis. Dann musste ich mit der Kutsche zum Arzt fahren. Ich mochte dieses Gefährt aber nicht, es war mir unheimlich. Innen war es pechschwarz und ich fürchtete mich, wenn ich darin sitzen musste. Mehr als diese Fahrten zum Arzt hasste ich es aber, in den Stollen zu müssen, wenn ich Husten hatte. Das sollte gut für die Lunge sein. Und ich musste dann mit dem Fräulein da herumsitzen, einfach nur herumsitzen. Das war sterbenslangweilig.

Das Schlimmste aber war das Essen. Mein Vater war ständig auf der Jagd und brachte immer Wild mit. Nur Walchi, also mein Bruder Walter, durfte mit auf die Jagd. Die geschossenen Tiere wurden dann in der Küche bei den beiden Köchinnen abgegeben. Und die gaben sich alle erdenkliche Mühe, um daraus ein möglichst ungenießbares Essen zu kochen. Mir wurde einfach nur schlecht, allein schon von dem Geruch. Das Wild schmeckte penetrant nach Wild, Fisch „fischelte“ und der Spinat erst! Diese Mittagessen endeten immer mit derselben Zeremonie: Ich wurde, mit dem Teller in der Hand, in den Keller geschickt. Und da saß ich dann auf einem Kohlehaufen und kriegte nichts runter. Und Walchi schnitt Fratzen am Kellerfenster, um mich in meiner misslichen Lage noch mehr zu ärgern. Mit Theo kam ich immer besser aus. Nur einmal setzte es von ihm eine Tracht Prügel, als ich Brotreste für die Mäuse in seinem Zimmer verstreute.

Eines Abends hatte ich eine unheimliche Begegnung. Es war ziemlich dunkel und ich war noch draußen im Garten. Das Gatter stand offen und plötzlich stand da dieser Mann direkt vor mir im Garten. Ich hatte ihn nicht kommen sehen und auch nicht gehört. Ich war vollkommen erstarrt vor Angst. In gebrochenem Deutsch sagte er zu mir: „Du nicht brauchen Angst haben.“ Keine Ahnung, wo er herkam. Er nahm mich hoch und wollte mich beruhigen. Aber ich war nicht zu beruhigen. Als er das merkte, ließ er mich endlich wieder runter und verschwand. Später dachte ich manchmal an dieses Erlebnis zurück und es drängte sich mir die Vermutung auf, dass es ein Pädophiler gewesen war. Ich war ein blondlockiger kleiner Engel mit frechem Gesicht. Aber wahrscheinlich war es nicht so. Wahrscheinlich war er nur einsam so wie ich. Vielleicht vermisste er seine Kinder. Ziemlich sicher kam er aus dem Gefängnis, das nicht weit von unserem Haus entfernt war. Ja, so wird es wohl gewesen sein.

 

Es gab viel in diesen Jahren, was ich nicht wirklich verstand. Es war, wie es war. Und ich verstand es nicht. Warum meine Mutter so weit weg war zum Beispiel. Das verstand ich nicht. Einmal wurde ich in einen Zug gesteckt und fuhr damit zu ihr nach Berlin. Dort in der Nähe lebte sie. Ich kannte meine Mutter kaum. Sie hatte uns ja schon verlassen, als ich gerade erst ein Jahr alt war. Viel später konnte ich mir die ganze Geschichte dann irgendwie zusammenreimen. Warum sie uns verlassen hatte.

Meine Mutter war ein Stück jünger als mein Vater. Vielleicht hatte das ebenfalls damit zu tun, dass sie meinen Vater und uns Kinder verließ. Vielleicht hatte sie das Gefühl, etwas zu verpassen, vielleicht waren es zu viele Jahre, die zwischen meinem Vater und meiner Mutter standen, zu viel Zeit zwischen zwei Menschen, die ein Leben lang zusammenbleiben sollen.

Meine Mutter war die Tochter eines Leinenfabrikanten aus Jägerndorf, eine Tagesreise mit der Kutsche von Schönberg entfernt. Mein Vater und sein Bruder Robert waren gemeinsam auf Brautschau gefahren. Und in Jägerndorf hatten sie drei Schwestern gefunden: Muni, Dorle und Trude. Flemmich heißen sie mit Familiennamen. Mein Onkel Robert heiratete Muni und mein Vater Dorle, meine Mutter. Die dritte Tochter, Trude, ging eine Ehe mit Hermann Larisch ein. Der war auch ein Sohn eines großen Leinenfabrikanten, nur eben in Jägerndorf. Später ist er wie ich dann im Südtiroler Bruneck gelandet, um die Lodenfabrik Moessmer wieder aufzupäppeln. Aber ich greife schon wieder vor.

Aus der Ehe meiner Eltern gingen drei Kinder hervor. Aber dann begegnete meine Mutter Boris bei dessen Tante Agi in Schönberg. Boris Nebe war ein charmanter Schriftsteller, der schon 1917 aus Russland geflüchtet war. Und dieser Boris saß immer bei seiner Tante Agi, wenn meine Mutter dort am Nachmittag zum Kaffee ging. Und da passierte es halt – sie verliebten sich Hals über Kopf ineinander. Und dann kam es, wie es kommen musste: Die beiden hauten ab. Und sie blieben immer zusammen, in Europa, in Südamerika und auch in New York.

Einmal also durfte ich mich mit meiner Mutter treffen. Als sie mich damals auf dem Bahnhof vom Zug abholte, war das Erste, was sie sagte: „Ja, wie schaust denn du aus?!“ Man hatte mir für die Reise Zöpfe gemacht und die gefielen ihr wohl nicht. Sie flocht sie mir sofort wieder auf. Dann fuhren wir in eine kleine Ein-Zimmer-Wohnung in Ludwigstal. Ich erinnere mich nur noch, dass sie mich zu einem Kaffeekränzchen mitschleppte. Eigentlich war sie wie eine fremde Frau für mich. Und bei dem Kaffeekränzchen durfte ich auch nicht dabei sein. Ich musste mit unfreundlichen Kindern draußen spielen. Später ließ sie sich mit Boris in Woltersdorf, in der Nähe von Berlin, nieder. Und dort nähte sie für die Russen Uniformen. Boris kam ja aus Russland und hatte dort so seine Beziehungen.

In Schönberg waren inzwischen unruhige Zeiten angebrochen. In der Schule lernte ich marschieren und „Heil Hitler!“ sagen. Und am Haus musste die Hitlerfahne gehisst werden. Mein Vater hatte die Fahne oft nicht draußen, er war ja Freimaurer. Er war auch nicht einverstanden mit dem, was da passierte. Viele unserer Kunden waren Juden und die waren plötzlich weg. Das spürten sogar wir. Ich weiß, hinterher haben sie alle gesagt, sie hätten das alles nicht gewusst. Aber das stimmte nicht. Wir wussten durch unsere Verbindungen, welchem Terror die Regimegegner und die Juden ausgesetzt waren. Die Mehrheit siegte. Und sie wählte den Weg in den sicheren Untergang. Wir hatten keine Freude mit dem Hitler.

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